So oder auch anders

zeitzeichen-Serie (V): Perspektiven der Praktischen Theologie im 21. Jahrhundert
Die wissenschaftliche Theologie ist ein weites Feld – besonders die Praktische Theologie. Bibliothek der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. Foto: epd/ David Ausserhofer,
Die wissenschaftliche Theologie ist ein weites Feld – besonders die Praktische Theologie. Bibliothek der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin. Foto: epd/ David Ausserhofer,
Wirklichkeit wahrnehmen, Kirche gestalten und Pluralität ernstnehmen - die Gegenstände der Praktischen Theologie sind seit jeher vielfältig. Zum Abschluss der zeitzeichen-Serie "Bestandsaufnahme Theologie" beschreibt Uta Pohl-Patalong, Professorin für Praktische Theologie an der Universität Kiel, aktuelle Themen und Trends ihres Faches.

Anders als in den anderen theologischen Disziplinen muss die Praktische Theologie immer wieder neu klären, welches eigentlich ihr Gegenstand ist und mit welchen Themen sie sich beschäftigt. Sie untersucht nicht einen bestimmten Kanon von Schriften wie die biblischen Wissenschaften, bezieht sich aber in ihren Argumentationen durchaus auf die Bibel. Sie ist nicht eindeutig einer historischen Perspektive verpflichtet wie die Kirchengeschichte, fragt aber dennoch häufig, wie Sachverhalte geschichtlich entstanden sind. Sie orientiert sich nicht primär an theologischen Denkfiguren wie die Systematische Theologie, sucht aber an vielen Punkten durchaus das Gespräch mit ihnen. Sie ist eine theologische Wissenschaft, greift aber häufig auf Erkenntnisse, Zugänge und Methoden aus Soziologie, Psychologie, Literaturwissenschaft und vielen weiteren Wissenschaften zurück und ist damit interdisziplinär ausgerichtet. Diese Eigenschaft hat sie in den letzten Jahren eher noch verstärkt: Sie begreift sich als theologische Wissenschaft, die in engem Kontakt mit anderen Wissenschaften ihre Fragestellungen bearbeitet und zu ihren Erkenntnissen kommt.

Als "Praktische Theologie" ist sie nicht immer so praktisch orientiert, wie Studierende es manchmal vermuten, wenn sie von diesem Fach erwarten, dass sie nach dem Studium der "theoretischen" Fächer hier nun (endlich) lernen, wie man predigt, Unterricht vorbereitet, Seelsorge betreibt und die Liturgie singt. Dieser Aspekt umfasst zwar auch einen Teil der praktisch-theologischen Lehrveranstaltungen im Studium, deckt aber bei weitem nicht das Fach Praktische Theologie ab. Ihr Thema ist die Praxis von Religion und Kirche - insofern ist sie als "Theorie der Praxis", wie Friedrich Schleiermacher (1768-1834) ihren Gegenstand formulierte, korrekt beschrieben. Allerdings sah Schleiermacher in ihr eine "Anwendungswissenschaft", die die Erkenntnisse der anderen theologischen Disziplinen in die Praxis umsetzt, ohne diese Praxis selbst zu erforschen. Diese Aufgabe wies er der "kirchlichen Statistik" zu, die die Praktische Theologie heute integriert. Vor allem aber ist die Praxis von Religion und Kirche heute noch einmal so viel komplexer geworden, dass man die Praxis immer selbst hinterfragen und untersuchen muss und nicht einfach theologische Erkenntnisse zeit- und kontextlos vermitteln kann.

Nun ist die Praxis von Religion und Kirche ein sehr weiter Gegenstand, und es ist immer auch von den eigenen Voraussetzungen und Zugängen abhängig, was man darunter versteht. Daher ist es sowohl diachron - in der Geschichte - als auch synchron - gleichzeitig in verschiedenen Ansätzen nebeneinander - sehr unterschiedlich verstanden worden, was die Praktische Theologie eigentlich untersuchen soll. Dabei wurde immer wieder diskutiert, wie stark der Fokus der Praktischen Theologie auf der Kirche liegen soll. Seit der empirischen Wende der Sechziger- und Siebzigerjahre herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass eine "kirchliche Engführung" der Disziplin obsolet sei und sie sich über die kirchliche Wirklichkeit hinaus der Praxis des gelebten christlichen Glaubens oder aber, noch weiter, der religiösen Praxis überhaupt widmen solle.

In den aktuellen praktisch-theologischen Diskursen sind in dieser Frage zwei Bewegungen auszumachen, die in der Perspektive früherer Jahrzehnte geradezu gegenläufig scheinen, es in heutiger Sicht aber nicht sind: Einerseits richtet sich die Praktische Theologie im Moment stark empirisch in einer weiten Perspektive auf die gelebte Religion aus, andererseits widmet sie sich stärker der Kirche und dem Pfarrberuf, als sie dies in den Jahrzehnten davor tat. Beide Trends sind zu verstehen vor dem Hintergrund der zunehmenden gesellschaftlichen, religiösen und kirchlichen Pluralität, die auch eigens - als dritter Trend - thematisiert wird.

Die Idee, Praktische Theologie empirisch auszurichten und sich für die gelebte Religion von Menschen zu interessieren, ist nicht neu: Schon vor rund einem Jahrhundert forderten dies liberale Theologen wie Otto Baumgarten (1858-1934), Paul Drews (1858-1912) und Friedrich Niebergall (1866-1932). Sie waren der Überzeugung, dass die Entkirchlichung im 19. Jahrhundert auch eine Folge davon war, dass Theologie und Kirche vom "modernen Menschen" wenig wüssten und die Verkündigung der Kirche ins Leere laufe, weil sie sich nicht für ihre Adressatinnen und Adressaten interessiere. Diese Ideen wurden damals aber nur ansatzweise umgesetzt und dann durch die Dialektische Theologie rasch wieder zurückgedrängt.

Empirische Studien

Die Entwicklung des Faches hundert Jahre später würde die liberalen Theologen vermutlich begeistern: Die Praktische Theologie hat jetzt empirische Studien als wesentlichen Forschungszweig entdeckt und widmet sich heute intensiv der Erforschung religiöser und kirchlicher Praxis. Dabei sind sowohl klassische Felder kirchlicher Arbeit im Blick, wenn zum Beispiel untersucht wird, wie Predigten gehört werden (Helmut Schwier/Siegfried Gall) oder der Gottesdienst erlebt wird (Uta Pohl-Patalong), wie sich Glaubenskurse auswirken (Beate Hofmann), was die Mitwirkung im Posaunenchor (Julia Koll) oder im Gospelchor (Sozialwissenschaftliches Institut der EKD) für die Gemeindeglieder bedeutet oder wie sich Seelsorge darstellt, sei es im Alltag (Eberhard Hauschildt), im Krankenhaus (Christoph Morgenthaler) oder unter Schaustellerinnen und Schaustellern (Bernhard Eisel/Kristin Merle/Birgit Weyel).

Darüber hinaus widmet sich die Praktische Theologie aber auch der individuellen Religiosität in diversen Bereichen, beispielsweise der religiösen Bedeutung von Gegenständen (Inken Mädler), der religiösen Orientierung von Single-Frauen (Annegret Reese) oder von Männern (Peter-Josef Mink) oder zum Weihnachtschristentum (Annika Happe). Ein wichtiger Bereich stellt auch die Erforschung von Jugendreligiosität dar (zum Beispiel Bärbel Husmann, Ulrich Riegel, Hans-Georg Ziebertz). Was Religion ist, wo sie anfängt und wo sie aufhört, wird dabei in der Regel weit definiert und häufig nicht vorab eingeschränkt, damit sich der Blickwinkel nicht zu sehr verengt. Die Schwierigkeit, dass damit der Forschungsgegenstand der Praktischen Theologie erneut verschwimmt, wird dabei durchaus gesehen und thematisiert, jedoch nur (teilweise) im Einzelfall im Blick auf einen bestimmten Forschungsgegenstand geklärt. Die Praktische Theologie als Disziplin hat damit eine enorme Weitung ihrer Forschungsthemen und eine Weitung ihres Horizonts erfahren, indem sie sich für potenziell alle Aspekte von "Religion" interessiert - um den Preis einer gewissen Unschärfe ihrer Konturen.

Gleichzeitig zeigt sich in den letzten Jahren ein Verschiebung des Schwerpunktes praktisch-theologischer Forschung zwischen ihren Disziplinen: Stand in den Siebzigerjahren die Seelsorge im Vordergrund, ist für die Achtzigerjahre ein verstärktes homiletisches Interesse zu beobachten und in den Neunzigerjahren gerieten liturgische Themen in den Vordergrund. Selbstverständlich erschienen in den jeweiligen Jahrzehnten auch Veröffentlichungen in den anderen praktisch-theologischen Disziplinen, aber hier waren die Diskurse jeweils besonders produktiv und prägten die nachfolgenden Jahrzehnte. In jüngerer Zeit nun sind die Disziplinen Kirchentheorie und Pastoraltheologie in den Vordergrund gerückt. Diese sind wohl auch deshalb in den Jahrzehnten davor weniger traktiert worden, weil das Verdikt einer "ekklesialen Verengung" der Praktischen Theologie, wie es Gert Otto in den Siebzigerjahren formulierte, noch lange wirkte. Als jedoch die finanziellen Krisen in den Jahren nach 1990 intensive Debatten über die Zukunft der Kirchen auslösten, sah sich die Praktische Theologie zu Recht herausgefordert, Analysen, Reflexionen und Modelle zur gegenwärtigen und künftigen Gestalt der Kirche zu liefern. Auch auf einer stärker theoretischen Ebene, aber durchaus mit Bezug zu den kirchlichen Reformüberlegungen erfolgten diverse kirchentheoretische Beiträge und auch Entwürfe (Rainer Preul, Jan Hermelink, Eberhard Hauschildt/Uta Pohl-Patalong). Teil dieser Überlegungen ist auch die Frage, ob und inwieweit betriebswirtschaftliche Einsichten und Ansätze Eingang in kirchliches Handeln finden können oder sollen (zum Beispiel Christoph Meyns). Der Charakter der Kirche zwischen Institution und Organisation wird diskutiert, und es werden Kriterien für die künftige Gestalt der Kirche benannt, vereinzelt auch Modelle für diese entworfen.

Gleichzeitig wurde und wird die Zukunft des Pfarrberufs diskutiert, die eng mit der künftigen Gestalt der Kirche verbunden ist. In der Fülle der faktischen Aufgaben wird versucht, Verzichtbares vom "Kerngeschäft" zu unterscheiden. Unterschiedliche Rollenbilder zwischen rabbinischem Schriftgelehrten (Alexander Deeg) und Begleiterin Ehrenamtlicher (Bernhard Petry) werden vorgeschlagen. Generalistische Berufsbilder stehen neben stärker spezialisierten für bestimmte Aufgabenbereiche. Gefragt wird dabei auch, ob der Pfarrberuf sich von anderen Berufen durch seine "Lebensförmigkeit", in der Privatleben und Beruf eng miteinander verknüpft sind, unterscheiden soll oder ob er sich stärker "berufsförmig" orientieren und damit eine stärkere Trennung von Beruf und Privatleben ermöglicht. Als bleibend wichtig erweist sich die Reflexion der Geschlechterrollen auch Jahrzehnte nach ihrer Gleichstellung (zum Beispiel Ulrike Wagner-Rau), insofern Pfarrerinnen und Pfarrer nach wie vor mit unterschiedlichen Rollenerwartungen konfrontiert werden und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer noch stärker von Frauen gestaltet (und nicht selten balanciert) wird als von Männern.

Kein neutraler Standpunkt

Der Horizont der Pastoraltheologie hat sich zudem in den letzten Jahren auf die anderen kirchlichen Berufsgruppen ausgeweitet (Peter Scherle) und nimmt die Gemeindepädagoginnen und -pä-dagogen (Nicole Piroth) und die Diakoninnen und Diakone (Ellen Eidt/Claudia Schulz) stärker in den Blick.

Möglicherweise kann sich die Praktische Theologie heute gerade deshalb unbefangen (auch) kirchlichen Themen widmen, weil ihr ein weiter Horizont durch die empirische Ausrichtung der Themen sicher ist.

In ihrem engen Bezug zur religiösen und kirchlichen Praxis ist die Praktische Theologie noch deutlicher als die anderen Disziplinen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit ausgerichtet und wird gleichzeitig von dieser beeinflusst. Lebensentwürfe, Lebensfragen, Religiosität und auch kirchliche Praxis sind heute nur noch als vielfältige und höchst unterschiedliche zu denken; Versuche zu ihrer theologischen oder kirchlichen Normierung sind zum Scheitern verurteilt. Diese Erkenntnis prägt die Praktische Theologie heute in mehrfacher Hinsicht: Sie nimmt die religiöse und kirchliche Praxis als eine vielfältige wahr, der sie sich (weitgehend) interessiert und vorurteilsfrei nähern möchte. Ihr ist bewusst, dass Religion in Deutschland und Europa nicht mehr eindeutig christlich konturiert ist, sondern andere Religionsgemeinschaften präsent sind und Menschen ihre Religiosität auch unabhängig von religiösen Gemeinschaften und Institutionen leben. Dafür sucht sie allmählich auch das Gespräch mit der Religionswissenschaft, mit der sie das empirische Interesse an der pluralen Wirklichkeit teilt. Anders als diese begreift sie sich allerdings als theologische Wissenschaft, die keinen neutralen Standpunkt des Subjekts einnimmt.

Pluraler sind auch die kirchlichen Handlungsfelder geworden, die die Praktische Theologie reflektiert: Zu den klassischen Kasualien Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung sind neue Kasualien hinzugekommen wie Schulanfangsgottesdienste, Trennungsrituale, Gottesdienste anlässlich des Übergangs in den Ruhestand und so weiter. Die klassische Predigt wird durch interaktive Formen ergänzt. Die traditionelle Ortsgemeinde entwickelt zum Teil Profile und Schwerpunkte, begreift sich als Teil größerer Gemeindeverbünde, oder es treten neben sie andere Formen von Gemeinden wie Jugendkirchen, Citykirchen, Kirchen der Stille oder diakonische Gemeinden. Diese vielfältigen Formen werden von der Praktischen Theologie daraufhin reflektiert, wie ihre Entstehung zu verstehen ist, was diese über die gegenwärtige Kirche aussagen, wie sie theologisch zu beschreiben sind und welche Chancen und Grenzen sie mitbringen.

Der gesellschaftlichen Pluralität trägt die Praktische Theologie schließlich auch dadurch Rechnung, dass im Moment nur selten Gesamtentwürfe des Faches erscheinen, die seine Inhalte lehrbuchartig darstellen, eine Ausnahme bildet Christian Grethlein. Bereits eine praktisch-theologische Kartographierung der heutigen kirchlichen Landschaft erscheint schwierig, und erst recht lassen sich die religiösen Wirklichkeiten nicht in einem System erfassen. Allerdings erscheinen gegenwärtig viele Lehrbücher zu den einzelnen praktisch-theologischen Disziplinen wie Seelsorge, Homiletik, Liturgik und Religionspädagogik. Diese erheben aber in der Regel nicht den Anspruch, die gesamte Disziplin abzubilden, sondern nähern sich ihren Gehalten von bestimmten Fragestellungen und Ansätzen aus, denen sie andere, ebenso gültige Ansätze gegenüberstellen. Eine Festlegung in praktisch-theologischen Schulen oder Großentwürfen gehört weitgehend der Vergangenheit an. Eher scheint ein graduelles Denken leitend, das den einen Ansatz stärker diese, den anderen jene Richtung verfolgen lässt - in dem Bewusstsein, dass das Fach Praktische Theologie so, aber eben auch ganz anders betrieben werden kann.

Uta Pohl-Patalong

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