Erledigte Sache?

Über den Dreißigjährigen Krieg
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Wer heute mit Unverständnis oder Erschütterung die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten zur Kenntnis nimmt, wird von Münkeler daran erinnert, dass Ähnliches dem christlichen Abendland nicht fremd war.

So viele Kriege seitdem, so viele Helden- und Schandtaten, so viele Opfer. Hierzulande zuletzt der Zweite Weltkrieg, dessen traumatische Erinnerungen ungeachtet ritueller Schuldbekenntnisse schon weitgehend einem unbewältigten Vergessen anheimgefallen sind. – Der Dreißigjährige Krieg? Weit entrückt. Ricarda Huchs genialer Doku-Roman über diesen „Großen Krieg“ erschien 1912–1914, an der Schwelle der Katastrophenzeit des Zwanzigsten Jahrhunderts, gerade noch rechtzeitig, um ihn nicht als erledigte Sache erscheinen zu lassen.

Nie gab es einen Krieg auf deutschem Boden, der – nach Prozentzahlen – mehr Opfer gefordert hat. In seiner ersten Hälfte schien es noch um Streitpunkte zu gehen, deren Ursachen selbst weit zurücklagen, nicht zuletzt um konfessionelle: der Augsburger Religionsfriede von 1555, eine Zeitlang segensreich, war immer stärker ins Wanken geraten, und nun ging es um Macht, die des Kaisers, der Fürsten, der Kriegsunternehmer, der auswärtigen Mächte. Frankreich etwa fürchtete die immer inniger werdende Interessen- und Gewaltgemeinschaft der spanischen und der österreichischen Habsburger und finanzierte alles und jeden, der sich dem entgegenstellte. So wogte der Krieg hin und her und kam doch nicht zu einer Entscheidung. In seiner zweiten Hälfte hatte er sich verselbständigt, verlumpte Kriegsscharen marodierten und folterten, um sich irgendwie selbst durchzubringen. Die Mächtigen warteten mit dem Friedenschließen immer wieder ein wenig zu und hofften je für sich auf günstigere Gelegenheiten.

Das alles war vor nicht allzu langer Zeit Gemeingut, heute ist es nur noch ein Kapitelchen im Leistungskurs Geschichte. Mag der Dreißigjährige Krieg auch das größte deutsche Trauma bis zum letzten Jahrhundert gewesen sein, heute ist er eine erledigte Sache.

Ein Symptom: Seit Jahrzehnten war keine Gesamtdarstellung erschienen. Nun aber die von Herfried Münkler, Politologe an der Humboldt-Universität in Berlin. Und Münkler bescheidet sich keineswegs damit, zu rekonstruieren, „wie es eigentlich gewesen“ (Leopold v. Ranke). Er fragt, wofür sie eigentlich gut ist, die Beschäftigung mit einer erledigten Sache – einer scheinbar erledigten Sache, lesen wir heraus. Und stößt gleich am Anfang auf eine Grundsatzfrage, die sich hinsichtlich der meisten großen Ereignisse der Weltgeschichte stellt: Wie weit hatte der Zufall seine Hand im Spiel? Hätte es ganz anders kommen können? Oder war das Geschehen letzten Endes unvermeidlich? Historiker neigen eher letzterem zu, lange Notwendigkeits-Herleitungen zieren den Wissenschaftler. Münkler stellt die beiden Modelle vor, neutral, aber doch vielleicht mit einer skeptischen Neigung zum ersteren.

Dann folgt eine eingehende, an Detailreichtum nichts zu wünschen übrig lassende und fast immer kühle Schilderung des unübersichtlichen Geschehens. Kühl? Der Dreißigjährige Krieg war in der Vergangenheit auch ein Schlachtfeld der Feder, kaum eine Darstellung, die nicht entschieden Stellung nahm für oder gegen die protestantische Seite, die katholische, die habsburgische, für oder gegen Wallenstein oder Gustav Adolf und so fort. Münkler hält sich da raus, und wieso auch nicht? Auch über das Kriegsgeschrei der Historiker ist die Zeit hinweggegangen.

Wofür sie aber gut ist, die Beschäftigung mit einer kriegerischen Katastrophe aus ferner Vergangenheit, zeigt Münkler mit einer ebenso beherzten wie naheliegenden Parallelsetzung zur Gegenwart: Im letzten Kapitel begründet er eindringlich, weshalb die heutigen Kriege im Vorderen Orient und in der Sahelzone eine „Strukturanalogie“ zum Dreißigjährigen Krieg aufweisen. Wer heute mit Unverständnis oder Erschütterung die Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten zur Kenntnis nimmt, wird daran erinnert, dass Ähnliches dem christlichen Abendland nicht fremd war. Damit nicht genug: Die Unzahl der unversöhnlichen Akteure, die auswärtigen Mächte, die hier einen Stellvertreterkrieg führen, die immer unbedenklicher werdende Grausamkeit: siehe da, dies hat es alles schon einmal gegeben, mitten in Europa. Es ließe sich also die Frage Wofür ist es gut? einfach so beantworten: Man wird klüger, auch in der Beurteilung gegenwärtiger Probleme. Die Achillesferse: Es funktioniert nur mit klugen Analysen.

Und die sind Münklers Sache, er hat es oft bewiesen, zuletzt mit seinem Buch über den Ersten Weltkrieg. Allerdings: Eines vermag gerade die kluge Analyse nicht, nämlich einen Trost hinsichtlich heutiger Kriege zu bieten. Münklers nüchtern-resignatives Ergebnis: Solche „strukturanalogen“ dreißigjährigen Kriege enden erst, wenn sie ausgebrannt sind, wenn selbst die Nutznießer einsehen müssen, dass sie beim schlimmsten Willen nicht weitermachen können. Wer sich davon nicht abschrecken lässt und wem der historische Eros nicht ganz fremd ist, dem sei dieses Buch nachdrücklich empfohlen.

Helmut Kremers

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