Drei Ebenen

Zwei alte Meister und wir
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Peter Härtling zaubert per – man möchte sagen: magischer – Anverwandlung eine Intimität zum Objekt der seelenverwandtschaftlichen Begierde herbei.

Verdi ist zwar unantastbar in seinem Ruhm, aber er ist mir nah in seinen Schwächen und in seiner Furcht, aus der Fantasie zu stürzen, das Handwerk nicht mehr zu können. Ich erzähle meine Erfahrungen als seine und seine als meine…“ Peter Härtling liefert im Vorwort zu seinem neuen Roman gewissermaßen die Kurzbeschreibung seiner Methode. Sie gehört zu ihm, dem Meister der Einfühlung, fast vom Anfang seines literarischen Schaffens, etwa in seinem Buch über Nikolaus Lenau („Niembsch oder der Stillstand“, 1964 ), über „Hölderlin“ (1976) und in einer ganzen Reihe weiterer biographischer Erzählungen. In ihnen allen wird per – man möchte sagen: magischer – Anverwandlung eine Intimität zu dem Objekt der seelenverwandtschaftlichen Begierde herbeigezaubert, die über alles Dokumentierte hinausgeht und dem Leser beinahe unwiderstehlich suggeriert, so – oder doch fast so – müsse es gewesen sein. Unvermittelt aber meldet sich zwischendurch der Autor zur Wort – das gehört zur Methode Härtling – und reflektiert darüber, wohin ihn seine Phantasie treibt. Der Leser wird so daran erinnert, dass er nur Zeuge einer Annäherung ist. Mehr hieße, die Phantasie geht mit dem Autor durch. Bei Härtling aber fügt sich das Imaginierte stimmig in das, was die Quellen über den Porträtierten wissen.

Diesmal also der alte Verdi. Der hat das 19. Jahrhundert fast zur Gänze durchlebt. 1813 in Norditalien noch unter napoleonischer Besatzung geboren, gestorben 1901, immerhin denn doch noch dreizehn Jahre vor dem abrupten Ende des langen 19. Jahrhunderts. Als Sohn eines Gastwirts und Kleinbauern hat sich Guiseppe Verdi „aus einfachsten Verhältnissen hervorgearbeitet“, wie die gängige Formal lautet – wenn auch nicht unbedingt am eigenen Schopf herausgezogen: Der Vater erkannte die Stärken seines Sohnes, und ein Mäzen war bald zur Stelle. Mit zehn Jahren spielte Verdi die Orgel in der Kirche von Busseto. Mit seiner vierten Oper, Nabucco, 1842 in der Mailänder Scala aufgeführt, war er eine Berühmtheit, und sein Ruhm sollte bis zu seiner letzten Oper, „Falstaff“, 1893, weltweit wachsen. Dabei hegte er sein Leben lang den Traum, – zumindest auch – Bauer zu sein, den Kontakt zu seinen Wurzeln und zum sogenannten einfachen Volk nicht zu verlieren. Er lebte diesen Traum auf seinem Landgut, das er sich bald leisten konnte.

Härtling hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass ihm die Protagonisten seiner biographischen Romane nahe stehen, so dass er zu ihnen eine Neigung verspürt. Dass nun Verdi zum Gegenstand seiner Neugierde und zum fernen Spiegel seiner selbst wird, verwundert nicht: Die Musik ist nächst der Literatur Härtlings große Leidenschaft. Hinzu kommt die Gemeinsamkeit eines langen Wegs in einem langen Leben. „Ich erzähle meine Erfahrungen als seine und seine als meine.“ Hier schreibt ein Alter über einen Alten, beide alte Künstler, notabene. Der Ton ist secco (die Musikgeschichte kennt übrigens ein „Secco-Rezitativ”, in dem der Text von der Musik gleichsam getragen wird). Wer sich ihm hingibt, wird dazu verführt, neben der doppelten Ebene eine weitere, persönliche, einzuziehen und sich an eigene Wahlverwandtschaften zu erinnern. Ohne sie wäre das eigene Ich in der Welt der realen Beziehungen an Konsistenz und Kontur ärmer. Vielleicht besteht darin der humane Kern der Literatur.

Nebenbei: Härtlings Anfechtung, „das Handwerk nicht mehr zu können“, wie ernst sie auch immer gewesen sein mag, ist – Gott sei Dank – unbegründet. Ein Buch wie eine Meditation.

Peter Härtling: Verdi. Roman in neun Fantasien.

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, Seiten 224, Euro 18,99.

Helmut Kremers

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