Gewissensfreiheit als Utopie

Vor 500 Jahren erschien das Buch „Utopia“ von Thomas Morus – eine Erinnerung
homas Morus: Utopia. Titelholzschnitt aus der Erstausgabe, Löwen, 1516, spätere Kolorierung. Foto: akg-images
homas Morus: Utopia. Titelholzschnitt aus der Erstausgabe, Löwen, 1516, spätere Kolorierung. Foto: akg-images
Ein Jahr vor Luthers Thesenanschlag erschien das Werk „Utopia“ von Thomas Morus. Der Theologe Eberhard Pausch erinnert an den englischen Visionär und sein berühmtes Werk, das der Gattung der „Utopie“ ihren Namen gab. Die Idee der Gewissensfreiheit war im frühen 16. Jahrhundert selbst noch eine Utopie. Aber sie wurde von Morus und Luther geteilt – über alle Glaubensgrenzen hinweg.

Thomas Morus stand im Jahr 1516 am Beginn einer steilen politischen Karriere. Er war unter anderem Under-Sheriff in London und sollte es noch bis zum Amt des Lordkanzlers von England bringen. Auch theologische Neigungen hatte Morus. Dass er kein Geistlicher wurde, hatte womöglich seinen Grund darin, dass er sich nicht vorstellen konnte, auf Ehe und Familie zu verzichten.

Doch stellte er sein ganzes Leben lang sein politisches Handeln in den Dienst seines christlichen Glaubens und seiner theologischen Überzeugungen. Als treuer Katholik bekämpfte er ab 1520 die Reformation Martin Luthers energisch. Sein katholischer Glaube war es auch, der ihn letztlich den Kopf kosten sollte. Der Grund dafür: Der englische König Heinrich viii. wandelte sich vom Verteidiger des römisch-katholischen Glaubens zum Oberhaupt einer von Rom unabhängigen Staatskirche. Heinrichs Wunsch, eine neue Ehe einzugehen, war von Rom abgelehnt worden. Heinrich ließ sich daraufhin von seiner ersten Ehefrau scheiden, heiratete neu und trennte sich von Rom. Zugleich verlangte er von Morus wie von vielen anderen bedeutenden Personen, einen Eid auf ihn zu leisten, der beinhaltete, dass sie ihn als Oberhaupt der englischen (anglikanischen) Kirche ansahen.

Morus verweigerte dem König die erbetene Eidesleistung. Er gab dafür keine Begründung an, berief sich aber auf sein Gewissen, da er in religiösen Fragen ausschließlich seinem Gewissen folgen dürfe. Damit argumentierte er genauso wie sein theologischer Gegner Martin Luther einige Jahre zuvor, beim Wormser Reichstag 1521. Dass Luther von Worms über die Wartburg lebendig nach Wittenberg zurückkehren konnte, hatte er vor allem dem Schutz seines politisch äußerst mächtigen Landesherrn, Friedrichs des Weisen, zu verdanken.

Thomas Morus hatte keinen solchen Beschützer und endete so im Jahr 1535 tragischer Weise auf dem Schafott. Die katholische Kirche verehrt ihn nicht nur als Märtyrer, sondern seit 1935 auch als einen ihrer Heiligen. Weltberühmt aber wurde er durch sein Werk „Utopia“, mit vollem Titel „Utopia: Ein wahrhaft goldenes Büchlein von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia, nicht minder heilsam als kurzweilig zu lesen (...)“.

Antike Vorbilder

Anknüpfend an antike Vorbilder wie Platons „Politeia“ (Der Staat), entwirft Morus darin eine ideale Gesellschaft, die er in einem Inselstaat im Nirgendwo verortet. Dort leben die Menschen frei und glücklich zusammen, haben in Analogie zum urchristlichen Kommunismus und zur platonischen Republik keine privaten Besitztümer. Sie erhalten aber alles zum Leben Notwendige aus dem Gemeinbesitz aller, denn Geld und Gold gelten als unnütz. Die Einwohner Utopias werden durch öffentliche Ehrungen zu tugendhaftem Handeln motiviert, statt durch strenge Strafen. Gesetze gibt es in diesem Idealstaat sehr wenige, dafür aber eine vorbildlich organisierte öffentliche Krankenpflege. Auch hat man hohe Achtung vor Behinderten, ist sozusagen auf dem direkten Weg zur Inklusion.

Ziel des individuellen Lebens in der Gesellschaft Utopias ist das seelische Vergnügen, wobei sich in Utopia tugendhaftes Verhalten, Lustgewinn und das Erleben von Freude nicht ausschließen. Daher lehnt man oberflächliche Vergnügungen wie das Würfelspiel oder die Jagd ab und erst recht den Lustgewinn in Bordellen. Kriege gelten als ganz und gar verabscheuungswürdig, und überhaupt wird auf allen Ebenen Gewaltminimierung angestrebt. In Utopia gibt es überdies einen für das 16. Jahrhundert nahezu beispiellosen Gedanken, nämlich Religionsfreiheit: Jeder Mensch darf das glauben, was er möchte, und er darf niemanden auf andere Weise als mit freundlicher Einladung zu missionieren versuchen. Das Christentum wird geduldet, aber in der vorherrschenden (heidnischen) Religion können auch Frauen Priester werden, was freilich in der Praxis selten geschehe.

Der Staat, der Thomas Morus vorschwebt, ist durch und durch von Vernunft geleitet und sieht die Welt als vernünftig, veränderbar und verbesserbar an. Die beiden letzten Sätze des Buches lauten: „Indessen gestehe ich doch ohne Weiteres, dass es in der Verfassung der Utopier sehr vieles gibt, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte. Freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung.“ Das klingt bescheiden und eher nach Reform als nach Revolution. Und dennoch hat das Werk viele utopische Entwürfe der Neuzeit, nicht zuletzt den Sozialismus und den Kommunismus, inspiriert.

Utopien haben in der Gegenwart oft eine schlechte Presse. Man erinnert etwa an den Nationalsozialismus und den Kommunismus, man weist auf Robespierre hin, die Rote Armee Fraktion und die Roten Khmer. Man führt gegen das „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch), aus dem die Utopien leben, das „Prinzip Verantwortung“ (Hans Jonas) ins Feld. Schon der Begriff „Utopie“ ist selbst so schillernd, dass er Eindeutiges kaum zu bezeichnen vermag. Die Kernfrage lautet: Ist die Welt an wesentlichen Punkten durch Vernunft veränderbar und verbesserbar – oder gibt es zu ihr keine wirkliche Alternative?

Das Reformationsjubiläum, zumal in seiner zeitlichen Nähe zum 500. Geburtstag des Schlüsselwerks utopischer Literatur, gibt Anlass, über das Verhältnis von Protestantismus und Utopie nachzudenken. Dabei muss man feststellen: Der Mainstream des europäischen Protestantismus, in dessen Anfängen sich die Konzepte Martin Luthers und Johannes Calvins prägend durchsetzten und nicht Thomas Müntzer und die Münsteraner Wiedertäufer, hat eine eher anti-utopische Tendenz. Warum ist das so? Hier spielen vor allem vier Gründe eine Rolle:

Die meisten Utopien sind vorrangig oder gar ausschließlich auf das Diesseits bezogen. Sie vertreten eine rein immanente Weltsicht. Der christliche Glaube strebt dagegen immer eine Zusammenschau und zugleich trennscharfe Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz an.

Von Natur aus gut

Und weiter: Die meisten Utopien sehen den Menschen als das ausschließliche Subjekt der Geschichte und setzen ihre Hoffnungen auf sein Handeln. Alle Hoffnung beruht aber dem christlichen Glauben zufolge auf Gottes Handeln in Jesus Christus. Gott selbst ist das entscheidende Subjekt der Geschichte. Nur er kann die Menschen und die Welt zum Guten führen.

Ferner halten die meisten Utopien Menschen für „von Natur aus gut“. In einer absehbaren Zukunft, so hoffen sie, würde es ihnen möglich sein, das Gute in einer gerechten Gesellschaft zu verwirklichen. Der christliche Glaube sagt dagegen, und vor allem Luther wurde nicht müde, dies zu betonen: Menschen sind und bleiben sündhaft, auch Christenmenschen. Perfekte oder fehlerlose Menschen gibt es nicht. Übrigens äußerte sich auch Thomas Morus in seinem Buch im Blick auf die menschliche Natur, indem er einen seiner Protagonisten sagen lässt, es sei ja wohl ausgeschlossen, dass alle Verhältnisse gut wären, solange die Menschen dies nicht seien, „[…] worauf wir ja wohl noch eine hübsche Reihe von Jahren werden warten müssen“.

Hier schließt sich noch ein weiteres, typisch protestantisches Argument an: Christliche, genauer gesagt: protestantische Utopien wären nämlich denkbar, wenn es eine christliche Politik geben könnte. Genau das ist aber nach Luthers „Zwei Regimenten-Lehre“ ausgeschlossen. Dieser Lehre zufolge regiert Gott die Welt auf zweierlei Weise: einerseits durch das weltliche Regiment, dem politische Machtinstrumente und die weltliche Vernunft zugeordnet sind, andererseits durch das geistliche Regiment, dem die Verkündigung des Evangeliums und die Nächstenliebe zugeordnet sind. Beide Regierweisen sind streng voneinander zu unterscheiden. Daher kann es keine christliche Politik geben – und zum Beispiel auch keine christlichen Parteien. Die Quellen der Politik sind vielmehr Moral und Vernunft. Politisches Handeln ist dann gut zu nennen, wenn es sich im Radius der Verantwortungsethik bewegt. Christliches Handeln aber dehnt diesen Radius aus zur Liebe.

Zu den entschiedenen Gegnern utopischen Denkens im deutschsprachigen Raum zählten im 20. Jahrhundert der Philosoph Hans Jonas und der Publizist Joachim C. Fest. Jonas wandte 1979 in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung gegen utopisches Denken, das er in der Verbindung von Marxismus und hemmungsloser Technikgläubigkeit sah, ein, es entziehe sich dem Anspruch der Verantwortung. Das ist aber nicht zwangsläufig so. Denn Verantwortungsethik schließt utopisches Denken keineswegs völlig aus, schränkt jedoch dessen möglichen Radius ein. Joachim C. Fest zog 1991 aus dem Scheitern der nationalsozialistischen und der realsozialistischen Utopien die Schlussfolgerung, dass utopische Experimente grundsätzlich zu Leid und Elend führen müssten. Die modernen Sozialstaaten der offenen Gesellschaft, mit all ihren Abstrichen und Unzulänglichkeiten, seien der Weg, den die Geschichte „nach dem Ende des utopischen Zeitalters“ gehen müsse.

Dagegen gibt es aber auch Konzepte, die das demokratische System nicht an sich in Frage stellen, sondern es auf eine legitime und kreative Weise weiter zu entwickeln versuchen. Dazu drei Beispiele:

Die Idee der „offenen Gesellschaft“, von Karl Popper in den Vierzigerjahren entwickelt, stellt womöglich selbst eine demokratische Utopie dar. Denn Gesellschaften müssen immer zugleich (teilweise) offen und (teilweise) geschlossen sein. Wären sie nur offen, könnten sie nicht bestehen und wären nicht in der Lage, sich gegen ihre zahlreichen Feinde zu verteidigen, was Popper aber gerade einforderte.

Die seit den Siebzigerjahren von Jürgen Habermas vertretene sozialphilosophische These, die demokratische Gesellschaft ließe sich nicht nur im wissenschaftlichen, sondern im gesamten öffentlichen Raum durch die Praxis herrschaftsfreier Diskurse weiterentwickeln, ist ohne Zweifel eine demokratische Utopie.

Denn wo und wann und wie können Diskurse selbst unter besten Bedingungen jemals herrschaftsfrei sein? Und doch ist es mit demokratischer Kultur in jeder Hinsicht vereinbar, auf den „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ zu setzen, wie Habermas dies tut.

Ein ganz aktuelles Beispiel für eine demokratieverträgliche Utopie ist der im vergangenen Jahrzehnt etablierte Gedanke der Inklusion behinderter und auf sonstige Weise von der gesellschaftlichen Kommunikation ausgeschlossener Menschen. Die UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 lässt sich in demokratischen Gesellschaften schrittweise und annähernd umsetzen, ohne dass eine vollständige Inklusion aller exkludierten Menschen jemals möglich wäre.

Es gibt also offenbar demokratische Utopien. Und diese Utopien haben eine motivierende und handlungsleitende Funktion. Sich für die Verteidigung offener Gesellschaften einzusetzen, für die Etablierung kreativer Diskursräume und für die Inklusion zuvor exkludierter Menschen in einer Gesellschaft zu sorgen, das sind Beispiele für solche Utopien. Sie alle sind mit dem christlichen Glauben vereinbar, auch in seiner evangelischen und reformatorischen Gestalt.

Thomas Morus, der gläubige Katholik und utopische Vordenker seiner Zeit, und Martin Luther, der dezidiert anti-utopisch gestimmte evangelische Reformator, haben bei allen Unterschieden im Einzelnen eines gemeinsam: In den kritischsten Momenten ihres Lebens – für Luther war dies auf dem Wormser Reichstag 1521, für Morus in der Zeit zwischen seiner Verhaftung und seiner Hinrichtung 1534/35 – beriefen sie sich jeweils auf ihr Gewissen, das sie vor Gott und den Menschen band und gegen das sie nicht handeln zu dürfen glaubten. Die Idee der Gewissensfreiheit war im frühen 16. Jahrhundert selbst noch eine Utopie. Aber sie wurde von Morus und Luther geteilt, über alle Glaubensgrenzen hinweg.

Das unterschied beide beispielsweise von ihrem Zeitgenossen Niccolò Macchiavelli, der die Realität der Machtpolitik höher einstufte als den Wert des individuellen Gewissens.

Die individuellen, rebellierenden Gewissen waren es, die der Idee der Gewissensfreiheit in unserem Kulturkreis zum geschichtlichen Durchbruch verhalfen. Mit Folgen, die weit in die Gegenwart hineinreichen und die utopisches Denken auch dort rechtfertigen können, wo dies von anti-utopischen Konzeptionen vehement bestritten wird.

Eberhard Pausch

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kultur"