Selbst Musen brauchen Muße

Argumente für das Nichtstun und die Zeitverschwendung
Foto: dpa/ Britta Pedersen
Foto: dpa/ Britta Pedersen
Man kann viele Experten fragen, wozu die Muße gut ist: Mediziner, Hirnforscher, Künstler oder Ökonomen. Sie alle werden einem gute Argumente liefern. Und dennoch fällt es schwer, das Denken in Effizienz und Produktivität zu verlassen. Schuld ist wie so oft das System. Doch auch das lässt sich mit Muße ändern.

Wozu die Muße gut ist? Das ist streng genommen eine unerlaubte Frage. Denn das entscheidende Merkmal bei allem, was man mit Muße tut, ist ihre Freiheit von Zweck und Effizienz, ihre Absichtslosigkeit. Wer mit Muße am Strand oder sonstwo spazieren geht, will eben nicht möglichst viele Kilometer schaffen. Wer sich mit Muße dem Malen hingibt, will kein besonderes Kunstwerk schaffen, sondern einfach nur malen. Die Lektüre eines Buches mit Muße verzichtet auf das Seitenzählen und die Frage, wieviel Stoff man schon wieder durchgearbeitet hat. Und selbst das Betrachten der Wolken oder des Meeres bleibt ohne Muße, wenn man sich vornimmt, dabei ein Problem zu durchdenken und die Lösung zu finden. Der Verzicht auf das „Um-Zu“ definiert, ob wir uns der Muße hingeben oder der Selbstoptimierung frönen.

Doch wer einen Schritt zurücktritt und sich mit der Muße beschäftigt, erkennt, dass sie einen Sinn hat. Nämlich insofern, dass sie uns guttut. Und dass mehr Muße auch der Gesellschaft guttun würde, die uns prägt. Es gibt also Argumente für die Muße in unserem Leben, die vielleicht helfen können, das vermeintliche Nichtstun oder die als Zeitverschwendung gegeißelte Beschäftigung mit so genannten unnützen Dingen gegenüber einer oft verständnislosen Umwelt zu rechtfertigen.

In seinem Buch zum Thema Muße beschreibt der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel eine faszinierende Entdeckung, die der US-amerikanische Hirnforscher Marcus Raichle 1998 machte. Er stellte seinen Probanden im Kernspintomografen, mit dem die Aktivität in den unterschiedlichen Bereichen des Gehirns sichtbar gemacht werden konnte, unterschiedliche Testaufgaben. Immer wenn sie sich darauf konzentrierten „und zielgerecht zu denken begannen, nahm in bestimmten Hirnarealen die Aktivität ab statt zu (wie es eigentlich zu erwarten wäre). Umgekehrt schienen diese Hirnregionen erst beim Nichtstun richtig tätig zu werden: Sobald die Tests beendet waren und seine Versuchspersonen aufhörten, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren, sprang die Betriebsamkeit in diesen Arealen sprunghaft an.

Raichle nannte diese Areale „Leerlaufnetzwerke“, und seit ihrer Entdeckung beschäftigen sich Hirnforscher mit der Frage, wozu genau diese bei Tagträumen und im Schlaf besonders aktiven Gehirnzonen dienen. Die Antwort: Das Gehirn beschäftigt sich in diesen Leerlaufnetzwerken mit sich selbst, organisiert Netzwerke aus Nervenzellen neu, verarbeitet Gelerntes. Zudem scheinen diese Areale sehr wichtig zu sein für das, was wir „Ich-Bewußtsein“ nennen, denn bei Kindern, aber auch bei Alzheimer-Patienten, sind die Leerlaufstellen im Gehirn nicht besonders aktiv. Bei psychisch kranken Menschen unterscheiden sich die Leerlaufnetzwerke ebenfalls von denen gesunder Menschen. Die Wissenschaftler folgern, dass diese Beschäftigung des Gehirns mit sich selbst also wichtig ist für unsere psychische Gesundheit, weil wir uns damit unserer eigenen Geschichte und Identität vergewissern.

Und mehr noch: Diese „Spaziergänge des Gehirns in sich selbst“, wie es bei Ulrich Schnabel heißt, führen dazu, dass das Gehirn aktuelle Ereignisse und Gedanken mit unbewussten oder vor langer Zeit Gelerntem verknüpft. Das könnte erklären, warum uns die berühmten Geistesblitze und Inspirationen eben häufig nicht beim konzentrierten und analytischen Denken ereilen, sondern in den Momenten der Entspannung: unter der Dusche, in der Wanne, beim Spaziergang. Schnabel liefert spannende Beispiele aus der Geschichte: Newton kam auf die Gesetze der Schwerkraft beim zweckfreien Umherschauen im Garten, der Chemiker Art Fry erfand den Post-It-Zettel beim Singen im Kirchenchor, John Lennon schrieb „Nowhere Man“ nach einem Mittagsschlaf in einem Rutsch, nachdem er vormittags keine ordentliche Zeile hinbekommen hatte. Die Muse küsst offenbar auch lieber in Muße.

Leerlauf im Gehirn ist also nicht nur wichtig für die psychische Gesundheit, sondern kann auch die Lösung von Problemen bringen - aber wohl nur, wenn man nicht darauf wartet.

Sie haben gar keine Zeit für Mußestunden? Stets irgendetwas Anderes, Sinnvolleres zu tun? Angehörige, die umsorgt werden wollen? Arbeit, die noch erledigt werden will, schon mal erledigt werden kann oder noch besser erledigt werden könnte, weil man sonst unter Stress kommen könnte? Mit Verlaub, wer so denkt, ist ja schon längst unter Stress und auf dem besten Wege, seine Gesundheit zu gefährden. Denn berufsbedingter - und wohl auch privater - Stress durch permanente Überlastung ist laut Weltgesundheitsorganisation WHO „eine der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts“.

Permanenter Stress

Dabei ist Stress eigentlich kein Problem, der Körper schüttet entsprechende Hormone aus, die das Immunsystem fitter machen, den Blutzucker ansteigen lassen und den Adrenalinpegel und die Leistungsfähigkeit insgesamt erhöhen. Aber das funktioniert nur bei kurzfristigem Stress, so wie ihn der Steinzeitmensch auf der Flucht, der Jagd oder beim Kampf erlebt hat. Das Problem des heutigen stressgeplagten Menschen ist der permanente Druck, den er erlebt, sei es im Beruf oder Privatleben. Denn nicht nur Unternehmen erhöhen die Anforderungen an ihre Mitarbeiter und fordern etwa ständige Erreichbarkeit über das Smartphone ein, auch wir selber setzen uns durch stets steigende Erwartungen an uns selbst und unser (Privat-)Leben unter Druck und Leistungsstress: Erfolgreich im Beruf, engagiert im Ehrenamt, perfekte Eltern sein, toller Partner, den Körper fit halten, den Geist ebenfalls, auch deshalb kulturell auf dem Laufenden bleiben, Freundschaften pflegen, schöner wohnen, schöner reisen, schöner lieben, schöner sein....

Die möglichen Folgen dieses permanenten Stresses sind Krankheiten, von denen hier nur einige aufgezählt werden sollen: Erhöhte Infektanfälligkeit, verzögerte Wundheilung, Diabetes, Tinnitus, Bluthochdruck, Muskelverspannungen, Kopfschmerz, Schlafstörung, Erschöpfungssyndrom - die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Braucht da noch irgendjemand ein Argument für die Muße?

Vielleicht noch eines für diejenigen, denen das alles zu subjektiv und befindlichkeitsorientiert ist und die das Problem nicht beim Individuum, sondern im System sehen: Sich in Muße zu üben, kann auch eine Revolte sein. Von so einer berichtet etwa Björn Kern, Autor des Buches "Das Beste, was wir tun können, ist nichts". Die offenbar autobiographisch geprägte Geschichte des Autors, der auf das Land zieht und dort die Freuden des einfachen Lebens entdeckt, kommt vergleichsweise harmlos daher. Tatsächlich ist es aber eine Absage oder zumindest eine deutliche Anfrage an einen Lebensstil, der den Grundsätzen der messbaren Produktivität und des Konsums folgt. Und damit auch an ein Wirtschaftssystem, das ständiges Wachstum fordert und für das Stillstand angeblich Rückschritt bedeutet.

Dabei würde Aktienmärkten, an denen im Hochfrequenzhandel Computer in Millisekunden Wertpapiere kaufen und verkaufen und so Kurse bewegen, ein wenig Muße oder zumindest Entschleunigung gut tun. Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass etwa der Parketthandel der Börse in Frankfurt am frühen Nachmittag endete und erst am nächsten Morgen wieder begann. Man hatte tatsächlich am Nachmittag Zeit zum Nachdenken über das, was passiert ist und was alles passieren könnte. Doch das scheint in Zeiten des weltweit vernetzten Handels kaum noch möglich. Es ist ja kein Zufall, dass die entscheidenden Sitzungen der Bundesregierung während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 am Sonntag stattfanden, im engen Zeitfenster, an dem mal alle Finanzmärkte geschlossen waren.

Ganz aussteigen aus den Gesetzen dieser Welt, die ja bis zum so genannten Endkunden, also wir, durchschlagen, dürfte unmöglich sein. Denn Muße braucht ja auch eine gewisse materielle Sicherheit, wer nicht weiß, wie er seine Rechnung bezahlen soll, kommt nicht zur Ruhe. Aber hin und wieder mal austreten aus der Mühle, Luft holen, das Handy am Wochenende auslassen, die Mails nicht checken und statt Fremdbestimmung „Eigenzeit“ (ein Begriff der österreichischen Soziologin Helga Nowotny) suchen und finden, das kann der Muße wieder Raum geben und sehr große Wirkung haben, nicht nur auf unser eigenes Leben. Oder, wie es der Ökonom und Nachhaltigkeitsexperte Fred Luks von der Wiener Wirtschaftsuniversität formuliert hat: „Entspannen Sie sich. Das ist augenscheinlich das Beste, was Sie zur Rettung der Welt beitragen können.“

Literatur

Ulrich Schnabel: Muße. Vom Glück des Nichtstuns. Pantheon-Verlag, München 2012, 288 Seiten, Euro 14,99.

Björn Kern: Das Beste, was wir tun können, ist nichts. Fischer Verlag, Frankfurt 2016, 249 Seiten, Euro 9,99.

Stephan Kosch

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