Die letzte Menschenart

Die Sonderstellung des Homo sapiens in der Evolution könnte seine eigene Schöpfung sein
Unsere engsten verbliebenen Verwandten: Schimpansen. Foto: dpa/ David Santiago Garcia
Unsere engsten verbliebenen Verwandten: Schimpansen. Foto: dpa/ David Santiago Garcia
Körperlich gibt es eine große Nähe zwischen Tier und Mensch. Doch geistig scheint der Homo sapiens allen anderen Spezies haushoch überlegen zu sein. Wie kam es zu dieser vermeintlichen Kluft zwischen Tier und Mensch? Der Entwicklungspsychologe Thomas Suddendorf, der an der Universität von Queensland im australischen Brisbane Psychologie lehrt, beschreibt, wie der Mensch seine zweibeinigen Verwandten verdrängt und sich so eine Sonderstellung in der Natur verschafft hat.

Körperlich gibt es eine große Nähe zwischen Tier und Mensch. Doch geistig scheint der Homo sapiens allen anderen Spezies haushoch überlegen zu sein. Wie kam es zu dieser vermeintlichen Kluft zwischen Tier und Mensch? Der Entwicklungspsychologe Thomas Suddendorf, der an der Universität von Queensland im australischen Brisbane Psychologie lehrt, beschreibt, wie der Mensch seine zweibeinigen Verwandten verdrängt und sich so eine Sonderstellung in der Natur verschafft hat.

Aus biologischer Sicht gehören wir zu den Wirbeltieren, den Säugetieren, den Primaten. Die Ähnlichkeiten in Anatomie und Körperfunktionen zwischen Menschen und Affen sind offensichtlich. Wir bestehen aus demselben Fleisch und Blut, wir durchlaufen dieselben grundlegenden Lebensphasen. Wie andere Primaten haben unsere Hände Daumen, die wir unseren andern Fingern gegenüberstellen können. Unsere Sicht der Welt basiert auf derselben Farbwahrnehmung wie die eines Pavians. Wissenschaftler erproben an Tieren Medikamente und medizinische Eingriffe, die für den Menschen bestimmt sind, weil sich unsere Körper so sehr ähneln. Gewebe von Säugetieren, wie etwa die Herzklappe eines Schweins, können unsere eigenen versagenden Körperteile ersetzen. Die körperliche Kontinuität zwischen Menschen und anderen Tieren ist also unbestreitbar. Die Kontinuität des Geistes hingegen wird oft bestritten.

Es sind unsere geistigen Fähigkeiten, die uns ermöglichten, das Feuer zu zähmen und das Rad zu erfinden. Unser Geist ist unsere größte Kraft. Er hat Zivilisationen und Technologien hervorgebracht, die das Antlitz der Erde veränderten, während selbst unsere engsten Verwandten aus dem Tierreich unauffällig in den ihnen verbliebenen Wäldern leben. Es scheint eine enorme Kluft zwischen dem menschlichen und dem tierischen Geist zu geben. Aber zu erklären, was genau unseren Geist so einzigartig macht, hat sich als verblüffend schweres Rätsel herausgestellt.

Dinge, die man einst als einzigartig menschlich erachtet hatte, scheinen regelmäßig durch neue Studien widerlegt zu werden. Tiere verfügen über Persönlichkeiten und Erinnerungen, sie zeigen Empathie und Traditionen, sie lösen Probleme und benutzen Werkzeuge, sie kommunizieren und kooperieren. Die vergleichende Psychologie zeigt immer wieder, dass verschiedene Tierarten offenbar klüger und kompetenter sind als wir dachten.

Die Ansichten über den Geist von Tieren wiedersprechen oft einander stark. Auf der einen Seite werden Haustieren geistige Fähigkeiten jeder Art zugeschrieben und sie werden behandelt, als seien sie kleine Menschen im Fellanzug. Auf der anderen Seite werden Tiere oft als geistlose Bio-Maschinen betrachtet - man denke nur an die Behandlung von Tieren in manchen Teilen der Nahrungsmittelindustrie. Viele Leute schwanken, je nach Kontext, zwischen diesen beiden Positionen.

In meinem Buch Der Unterschied habe ich untersucht, was wir derzeit wissenschaftlich über den Unterschied des menschlichen Geistes zu dem anderer Tiere sagen können und wie dieser sich entwickelte. Ich untersuche Themen wie Sprache, Voraussicht, Gedankenlesen (es geht nicht um Telepathie, sondern um die Fähigkeit, Annahmen über Bewusstseinsvorgänge in anderen Lebewesen zu treffen), Intelligenz, Kultur und Moral. Bei genauerer Untersuchung wird klar, dass verschiedenste Arten auf diesen Gebieten ebenfalls über erstaunliche Kompetenzen verfügen. Dennoch scheinen gewisse menschliche Fähigkeiten einzigartig zu sein.

In dieser Analyse geht es mir nicht darum, eine menschliche Sonderstellung zu verteidigen, aber auch nicht darum, menschliche Arroganz zu entlarven. Es geht darum, einen nüchternen Überblick über die Fähigkeiten der Tiere und die Besonderheiten des Menschen zu vermitteln. Es ist an der Zeit, dass wir vorgefasste Meinungen hinter uns lassen und nach systematischem, wissenschaftlichem Fortschritt streben. Für uns Menschen steht nicht weniger auf dem Spiel, als unsere Stellung in der Natur zu verstehen.

Neue Erkenntnisse eröffnen überraschende Perspektiven auf das Mysterium unserer Natur und scheinbaren Sonderstellung. Ich möchte darum eine fundamentale Einsicht hier ein wenig näher darstellen: Die derzeitige Kluft zwischen Mensch und Tier ist nur so groß, weil eine Vielzahl anderer menschenartiger Wesen, die lange den Planeten mit uns teilten, heute ausgestorben ist.

Komplexer Werdegang

Die Großen Menschenaffen waren nicht immer unsere engsten tierischen Verwandten. Vor nur zweitausend Generationen teilten wir die Erde noch mit mehreren anderen Zweibeinern, die das Feuer beherrschten und Werkzeuge fertigten, wie etwa den großgewachsenen Neandertalern in Europa und den kleingewachsenen Hobbits auf Flores (Homo floresiensis). Menschen waren vor 40.000 Jahren nur eine von mehreren ähnlichen Arten und hatten darum viel weniger Grund zu der Annahme gehabt, sie seien über die restlichen Wesen weit erhaben.

Man stellt sich oft vor, unsere Vorfahren hätten sich graduell auf direkten Weg zu Homo sapiens entwickelt. Tatsächlich war unser Werdegang viel komplexer. Über Millionen von Jahren bevölkerten mehrere verschiedene Menschenarten die Erde und teilten sich zuweilen dieselben Lebensräume. Vor zwei Millionen Jahren zum Beispiel, existierten sogar drei unterschiedliche Gattungen der Menschenfamilie (Australopithecus, Homo und Paranthropus), die jeweils mehrere Arten umfassten, vom zierlichen Homo habilis bis zum stämmigen Paranthropus robustus. Und es wird noch bunter, wenn man sich vorstellt, dass es außerdem noch weitere Typen von Menschenaffen gab - wie etwa der monströse Gigantopithecus, der drei Meter groß wurde.

Buschiger Ast

Am Baum des Lebens ist unsere Abstammungslinie nur einer von vielen Zweigen eines einst prächtig gedeihenden, buschigen Astes eng verwandter Arten. Einige dieser Spezies waren lange sehr erfolgreich. Paranthropus boisei, zum Beispiel, ein stämmiger Vetter mit breitem Gesicht und starkem Gebiss, und Homo erectus, die erste Menschenart die aus Afrika auswanderte, existierten jeweils für gut eine Million Jahre. Das ist ein beeindruckender Zeitraum, wenn man berücksichtigt, das moderne Homo sapiens erst vor circa 200.000 Jahren auftraten. Heute ist Homo sapiens das einzige verbleibende Mitglied der Menschenfamilie und große Menschenaffen sind unsere engsten verbliebenen Verwandten. Wir unterscheiden uns so deutlich vom Rest der Tiere, weil alle unsere nah verwandten Arten nach und nach ausgestorben sind. Wir sind die letzte Menschenart.

Das führt zu der Frage, warum die anderen Spezies ausgestorben sind. Es gibt wahrscheinlich diverse Gründe, wie etwa radikale Umweltveränderungen. Aber ein besonderer Faktor, den man berücksichtigen sollte, ist das Verhalten unserer eigenen Vorfahren. Heute sind Menschen für die Auslöschung immer zahlreicherer Arten verantwortlich, und es ist möglich, dass wir auch zu dem Aussterben der Neandertaler und anderer naher Verwandter beigetragen haben.

Unsere engsten verbliebenen Verwandten, Schimpansen, sind die einzigen weiteren Primaten, die zusammenarbeiten, um Artgenossen zu töten. Aggression und Konflikte mögen einen erheblichen Einfluss auf unseren Werdegang gehabt haben. Nachdem es unseren Vorfahren gelungen war, die meisten traditionellen Probleme des Überlebens weitgehend zu meistern, wie etwa die Gefahr von Raubtieren, wurden Mitglieder der Menschenfamilie selbst vermutlich zu ihrer größten Bedrohung. Das derzeit älteste Anzeichen tödlicher menschlicher Gewalt ist ein 2015 beschriebener 430.000 Jahre alter Schädel mit zwei tiefen Frakturen, die auf wiederholte Schläge mit der gleichen Waffe hinweisen.

Doch Menschen sind auch außergewöhnlich mitfühlend und freundlich. Wir treffen moralische Entscheidungen und können uns für Frieden und Arterhaltung einsetzen. Wie Steven Pinker kürzlich in seinem Buch Gewalt aufzeigte, sind Mord, Sklaverei, Vergewaltigung und Folter heute weniger weit verbreitet als in der Vergangenheit - auch wenn die Nachrichten einem einen anderen Eindruck geben mögen. Zweifellos haben auch unsere Vorfahren zuweilen versucht, sich mit unseren engen Verwandten zu vertragen und sogar zu kreuzen.

Es gibt mittlerweile genetische Beweise, dass Europäer und Asiaten, im Gegensatz zu Afrikanern, Erbgut von Neandertalern in sich tragen. Einige meiner Vorfahren waren Neandertaler. Ein 30.000 Jahre alter Fingerknochen und ein Zahn eines neuen Mitglieds der Menschenfamilie wurden erst kürzlich beschrieben. Diese sogenannten Denosova-Menschen unterscheiden sich vom heutigen Menschen aber auch vom Neandertaler und trugen circa fünf Prozent zum Genom moderner Melanesier, also den indigenen Völkern etwa in Neuguinea und den Salomonen, bei.

Ob durch Verdrängung oder Absorbieren - es ist zu vermuten, dass unsere Vorfahren eine wichtige Rolle beim Verschwinden zumindest einiger unserer engsten zweibeinigen Verwandten gespielt haben. Dadurch haben sie eine scheinbare Kluft zwischen Mensch und Tier erschaffen. In diesem Sinne mag unsere verblüffende Sonderstellung auf Erden unsere eigene Schöpfung sein.

Außergewöhnliche Verantwortung

Und diese Schöpfungsgeschichte könnte noch weitergehen. Wir können uns noch einzigartiger auf diesem Planeten erscheinen lassen, nicht nur durch technologischen Fortschritt und möglicher wachsender Intelligenz, sondern auch dadurch, dass wir unsere engsten verbliebenen tierischen Verwandten ausrotten. Tatsächlich sind wir eindeutig dabei, gerade dies zu tun. Alle Menschenaffenarten sind zurzeit durch menschliches Handeln vom Aussterben bedroht: Die Zerstörung ihrer Lebensräume, die Jagd und der Tierhandel sind Hauptgründe.

In einigen Jahrzehnten werden sich unsere Nachfahren vielleicht über eine noch größere Kluft zwischen Mensch und Tier wundern, wenn sie sich mit der Frage befassen, wie sie sich von den geschwänzten Affen unterscheiden. Menschenaffen würden sich somit zu Neandertalern und Paranthropus gesellen, als halbvergessene Geschöpfe einer fernen Vergangenheit. Aber unser einzigartiger Geist befähigt uns, dieses und alternative Zukunftsszenarien auszumalen, uns über sie austauschen und unser Verhalten dementsprechend zu ändern. Was auch immer der Ursprung sei - außergewöhnlichen Fähigkeiten bringen auch eine außergewöhnliche Verantwortung mit sich.

Literatur

Thomas Suddendorf: Der Unterschied. Was den Mensch zum Menschen macht. Berlin Verlag, Berlin 2014. 464 Seiten. Euro 22,99.

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