Luther und die Schia

Kulturarbeit für Flüchtlinge in Hamburg
Foto: pixelio/Dietmar Meinert

Die knapp eine Million Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland einwanderten, kommen in ein Land, das wahrscheinlich die reichste und ausdifferenzierteste Kulturlandschaft der Welt hat. In keinem Land gibt es derart viele Sinfonieorchester, Instrumentalensembles, Opernhäuser, Theater, Kirchenchöre, Museen und Musikclubs wie in Deutschland. Das ist vor allem ein Ergebnis der jahrhundertelangen deutschen Kleinstaaterei und des Föderalismus. Jedes kleine Fürstentum hatte seine eigene Theater- und Musikkultur. In der Weimarer Republik versuchten Organisation wie die Volksbühne die Klassik für die Arbeiterschichten zu erschließen. Die DDR-Kulturpolitik beanspruchte die bürgerliche Kultur zu beerben und unterhielt selbst in Kleinstädten Dreispartenhäuser.

Dank einer großzügigen staatlichen und öffentlich-rechtlichen Kulturförderung - wer eine Opernaufführung besucht, dessen Platz wird mit etwa 100 Euro aus öffentlichen Mitteln bezuschusst - kann heute theoretisch jeder Bundesbürger zu erschwinglichen Preisen an dieser Hochkultur teilnehmen. Natürlich ist es vor allem das sogenannte Bildungsbürgertum, das die Aufführungen besucht, ein überaltertes Publikum - man spricht ironisch vom „Silbermeer der Zuhörer“ in Sinfoniekonzerten.

Nun kommen also hunderttausende von Flüchtlingen, die diese vielfältige Kultur nicht kennen, ihre Ausdrucksformen nicht und weithin auch nicht ihre Stoffe. Das ist nicht ohne historische Pikanterie, denn die Mythen und Erzählungen der hebräischen und christlichen Bibel, die Epen Homers, die antiken Tragödien und die Metamorphosen des Ovid, ohne die man die deutsche Literatur und Kunst kaum verstehen kann, sind alles große Kunstwerke, die im Mittelmeerraum und im Vorderen Orient entstanden sind. Durch die Missionierung Mittel- und Nordeuropas hat sich diese Kultur hier ausgebreitet und in der Kunst schönste Ergebnisse gezeitigt. Auch wenn Teile der jüdisch-christlichen Tradition in den Koran eingegangen sind (zum Beispiel Abraham, Joseph und Jesus), sind die meisten Muslime aus dem mediterran-orientalischen Raum weitgehend von diesen Erzähltraditionen abgeschnitten. Das Bilderverbot und der Wegfall einer barocken und klassisch-romantischen Musikkultur kommen hinzu, um die Fremdheit unserer Kultur für die muslimischen Neuankömmlinge fast unüberwindbar zu machen.

Wie kann man die neu Eingewanderten langsam an diese Kultur heranführen? Zunächst einmal geht es darum, die kulturellen Institutionen überhaupt kennenzulernen. Als ich mit anderen für Transitflüchtlinge in meiner Kirchengemeinde Übernachtung und Frühstück organisierte, waren einige von ihnen sehr interessiert, in die Kirche hineinzuschauen. Und diese Neugier sollte auch für andere Kulturinstitute gelten.

Flüchtlinge brauchen nicht nur Begleiter für Behördengänge, sondern auch, wenn sie anerkannt sind und sich ein wenig eingelebt haben, Begleiter für Theater-, Kino- und Konzertbesuche. Nötig sind Kultur-Scouts für die Flüchtlinge - kulturell erfahrene Menschen, die interessierte Flüchtlinge in Theater- und Konzertaufführungen begleiten, mit den Kindern ins Kindertheater und in Musikschulen gehen, Erwachsene in Museen begleiten und ähnliches. Mit den Jugendlichen einer Erstversorgungseinrichtung für minderjährige Unbegleitete sind wir in das Hamburg-Museum gegangen, dann in das Hafenmuseum. In unserem wöchentlichen Treff, dem Sprachcafé, habe ich mit ihnen das Herbstlied „Bunt sind schon die Wälder gesungen“ und über „Luther und die Schia“ gesprochen.

Beim nächsten Mal gehen wir in die St. Gertrud-Kirche. Und dann in den Film „Tschick“. So lernen sie, die alten Themen der Kunst: Sinn des Lebens, Liebe, Leiden und Hoffnung mit ihren Erfahrungen zu verknüpfen.

Hans-Jürgen Benedict

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Foto: privat

Hans-Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Benedict war bis 2006 Professor für diakonische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie des Rauhen Hauses in Hamburg. Seit seiner Emeritierung ist er besonders aktiv im Bereich  der Literaturtheologie.


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