Durch das Ohr der Maria

Über die Konkurrenz von Sexualität und Spiritualität
Foto: hpf
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Das Verhältnis der Weltreligionen zu Sexualität ist ambivalent: Spiritualität und Erotik können sowohl in enger Verbindung miteinander erfahren werden als auch in Konkurrenz zueinander. Das zeigt die Marburger Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann-Pfandt.

Krishna bläst die Flöte. Das Lied der erlösenden Regenzeit tönt auf. … Sein gelbes Seidengewand schlingt Krishna lachend um Radha, und sie legt behende ihren bunten Schal um den Freund. Nass bis zur Haut schmiegen sich eng aneinander ihre zitternden Leiber. Und selig flammt auf der Liebe Glühn. Ein Bild des Entzückens! (Surdas)

Wenn ich an Sexualität im religiösen Kontext denke, dann fallen mir unweigerlich der hinduistische Gott Krishna und seine Geliebte Radha ein, die in der indischen Kultur so etwas wie das Urbild des Liebespaares sind, unsterblich geworden nicht zuletzt durch die Dichtung des Surdas (1478–1582) und bis heute von unübersehbarem Einfluss auf die hinduistische Religion und Kultur. Selbst noch im modernen indischen Spielfilm prägt der Krishna-Mythos die Symbolik der Liebe, vom Flötenspiel des schönen Gottes als Begleitmusik vieler Liebesszenen über die recht häufige Inszenierung eines jugendlichen Liebhabers als Krishna-Inkarnation bis hin zu den auch uns bekannten Regentänzen der Bollywood-Liebespaare, bei denen die erlösende, kühlende Wirkung des strömenden Regens die in körperlicher Liebe gefundene Erfüllung versinnbildlicht.

Krishna ist die achte und wichtigste irdische Verkörperung des Gottes Vishnu. Im bhakti-Kult des mittelalterlichen Indien (bhakti heißt „Gottesliebe“) wird die Erotik von Radha und Krishna zugleich als Sinnbild für die Liebe der menschlichen Seele zu Gott gesehen, wobei die Seele auch dann als weiblich gilt, wenn der Gottesverehrer ein Mann ist. So kommt es dazu, dass sich männliche Krishna-Verehrer mitunter als Frauen kleiden und in weiblicher Körpersprache üben: Vor ihrem Gott sind sie Radha, die jugendliche Geliebte.

Allerdings ist diese Verschmelzung von Sexualität und Spiritualität in der Mystik nicht die einzige Form des Umgangs mit dem Krishna-Mythos. Vor einigen Wochen begegnete ich in Delhi einer indischstämmigen Krishna-Anhängerin aus Mauritius, die am Beginn einer Pilgertour zu den Heiligtümern im nordindischen Vrindavan, der Wiege des Krishna-Glaubens, stand. Ich war neugierig, von ihr zu hören, was die Erotik Krishnas für sie bedeute und ob sie sich schon einmal in ein Liebesverhältnis mit ihrem Gott hineingeträumt habe. Die Antwort war ein ernüchterndes Nein. In ihrer religiösen Gruppe gebe es vier verschiedene Wege, sich Krishna religiös zu nähern, von denen der der erotischen Liebe nur einer sei. Ihr persönlicher Pfad sei der des selbstlosen Dienstes an Krishna, den sie durch Gebet, Gesang, Pilgerfahrten und rituelle Opfer vollziehe, ansonsten lebe sie zölibatär. Überraschenderweise ist Krishnas erotische Aktivität somit nichts, das ohne Weiteres auf seine Gläubigen abfärbt oder ihnen als Vorbild dient. Bei der Mauritierin hatte die so offensichtliche Erotik Krishnas noch nicht einmal Eingang in ihr persönliches Gottesbild gefunden, sie ignorierte sie vielmehr einfach. Ob das etwas mit Verdrängung von Sexualität zu tun hatte oder einfach nur mit persönlichem Desinteresse, ist schwer zu sagen.

Am Beispiel des Krishna-Kultes können wir sehen, dass das Verhältnis von Religion und Sexualität ambivalent ist: Spiritualität und Erotik können sowohl in enger Verbindung miteinander erfahren werden als auch in Konkurrenz zueinander, und wir finden diese Ambivalenz in so gut wie allen Religionen.

Sexualität als Energieverlust

Ein Ausdruck des Gegensatzes von Sexualität und Spiritualität ist die weit verbreitete Bestimmung, dass ein Mensch, der sein Leben der Religion widmet, zum Beispiel als Priester, Priesterin, Mönch oder Nonne, Sexualität meiden müsse. Im katholischen Christentum wird dieser Verzicht als Zeichen der ungeteilten Nachfolge Christi gesehen, als Vorwegnahme des Reiches Gottes, in dem es keine Sexualität mehr geben soll. Auch wird der Sexualität, wie der Begriff der „unbefleckten Empfängnis“ verdeutlicht, ein verunreinigender Charakter unterstellt. Die für den Altardienst notwendige rituelle Reinheit hat, so der traditionelle Glaube, daher nur der zölibatäre Priester.

Im Hinduismus gibt es ganz andere Gründe dafür, auf dem religiösen Weg sexuelle Betätigung zu meiden: Der Orgasmus wird als – körperlicher, aber auch spiritueller – Energieverlust interpretiert, so dass jemand, der keine Sexualität hat, Energie ansammelt und dadurch spirituelle Macht gewinnt, sei es zum Guten oder auch zum Bösen, zum Beispiel um mit religiösem Charisma andere Menschen auszubeuten, was manchem indischen Guru ja schon unterstellt worden ist.

Die drei großen Monotheismen Judentum, Christentum und Islam betrachten in der Regel die erotische Liebe nicht als eine Aktivität Gottes. Während Gott zwar menschliche Emotionen wie Liebe, Barmherzigkeit, Zorn oder Eifersucht durchaus zugeschrieben werden, ist Sexualität etwas, das man zwar als Gabe Gottes an die Menschen ansieht, nicht aber als Teil des Gottesbildes selbst. Sogar das Christentum, das Gott die Zeugung eines Sohnes zuschreibt, hat stets darauf geachtet, die Geschichte dieser Zeugung so erotikfrei wie nur möglich zu erzählen. Symbolisch dafür steht ein Verkündigungsrelief aus dem 15. Jahrhundert am Nordportal der Marienkapelle in Würzburg, das als „Eintrittstor“ für das Jesuskind in den Leib seiner Mutter ausgerechnet das Ohr der Maria darstellt, also das Organ, durch das sie das erste Mal von ihrer Schwangerschaft hört. Der Bildhauer hatte Humor, denn auf dem Rohr oder Schlauch, durch den Maria direkt von Gott selbst mit seinem Wort versorgt wird, sieht man ein winziges Jesuskind mit dem Kopf voran auf seine künftige Mutter zurutschen.

Der verbal vermittelten Zeugung des Sohnes entspricht auf kosmischer Ebene die alttestamentliche Erschaffung der Welt durch Gottes Wort. In seinem Schöpfungsmythos hat sich das frühe Judentum klar von Mythen anderer Religionen abgesetzt, in denen die Weltentstehung auf göttliches Zeugen und Gebären zurückgeführt wurde.

Eine Abweichung vom erotikfreien Gottesbild bilden allerdings die Mystiken der drei monotheistischen Religionen, in denen es Ansätze zu einer „heiligen Erotik“ gibt, zum Beispiel in den Lehren von dem „Einen Vater“, der „Einen Mutter“ und der kosmischen Liebeskraft in der jüdischen Mystik der Kabbalah, in den liebestrunkenen Mariendichtungen eines Bernhard von Clairvaux oder im Liedgut der Sufis, der muslimischen Mystiker. Liebeslieder der Sufis lassen es oft bewusst im Unklaren, ob sich die besungene Liebe auf eine/n irdische/n Geliebte/n oder auf Gott richtet. Die Nähe der erotischen Liebe zum Göttlichen finden wir auch in der berühmten Liedzeile aus Mozarts Zauberflöte: „Mann und Weib, und Weib und Mann/ Reichen an die Gottheit an.“

Am weitesten hat wohl der Tantrismus, der ab Mitte des ersten Jahrtausends Hinduismus und Buddhismus ergriff, die Verschmelzung von Sexualität und Spiritualität getrieben. Die tantrische Lebensweise beinhaltet nicht nur eine erotische Symbolik, in der die Vereinigung von Liebenden als Bild für die höchste religiöse Verwirklichung gilt und in der Kunst durch sich vereinigenden Gottheiten dargestellt wird, sondern auch eine religiöse Praxis, in der rituelle Sexualität dazu dient, diese unio mystica seelisch-körperlich erfahrbar zu machen.

Zügelung durch die Ehe

Was das Leben der Laien in den Religionen angeht, so ist Sexualität so gut wie überall mit Ge- und Verboten belegt. Als wichtigstes Instrument zur Beherrschung ungezügelter Sexualität hat sich die Ehe etabliert, die die sexuelle Betätigung jedes Menschen auf einen oder (in der Mehrehe) auf wenige PartnerInnen zu beschränken sucht. In vielen Traditionen geläufig ist das Verbot von vor- und außerehelichem Sex, der im Islam, Hinduismus und traditionellen Christentum für so verwerflich gehalten wurde beziehungsweise wird, dass sich ein eigener Kult weiblicher „Jungfräulichkeit“ entwickelte. Die Bedeutung der jungfräulichen Braut ist hier so groß, dass in traditionellen Kontexten nicht nur ihre eigene, sondern die Ehre ihrer gesamten Herkunftsfamilie von der weiblichen „Reinheit“ abhängt. Deren vorzeitiger Verlust kann daher zu drastischen Strafen führen, bis hin zu der in manchen islamischen Ländern immer noch üblichen Steinigung. Bei Männern wird gesellschaftlich meist weniger Wert auf sexuelle Unberührtheit gelegt, zumal diese sich bei ihnen ja auch nicht körperlich nachweisen lässt. Die Kehrseite des Jungfräulichkeitskultes ist das Bild der Frau als der Hauptschuldigen an jeder Art von sexueller Verführung und Ausschweifung, als die sie in allen patriarchalen Religionen, auch den Weltreligionen, mehr oder weniger dauerhaft diskriminiert worden ist.

Besondere Schwerpunkte setzt die buddhistische Sexualethik. Prinzipiell hält der Buddhismus jedes Begehren für Leiden. Ähnlich wie Paulus wusste aber auch der Buddha, dass Sexualität nicht durch einen Willensakt aus der Welt zu schaffen ist. Nur Mönche und Nonnen leben daher zölibatär. Zu den buddhistischen Laienregeln gehört lediglich das Gebot, nur legitime Sexualität auszuüben, die Anderen kein Unrecht zufügt. Der zeitgenössische Buddhist Alexander Berzin entwickelt eine Sexualethik, die empfiehlt, Sexualität in geistiger Klarheit zu praktizieren, ein Zuviel ebenso zu vermeiden wie eine Verdrängungshaltung und immer darauf zu achten, dass die eigene Sexualitätsausübung anderen Menschen kein Leid verursache. Eine solche Sexualethik appelliert vor allem an die eigene Verantwortlichkeit und überschneidet sich hier durchaus mit christlichen, insbesondere protestantischen Ansätzen zu einer modernen Sexualethik.

Wie ist es eigentlich zu dem Konkurrenzverhältnis von Sexualität und Spiritualität gekommen, das sich in so vielen der genannten religiösen Vorstellungen und Bestimmungen niederschlägt? Ein gravierender Grund dafür ist, dass sowohl Sexualität als auch Spiritualität Wege zur Selbsttranszendenz sind, dem wohl tiefsten spirituellen Bedürfnis des Menschen. Während in der Sexualität das Ich des einzelnen Menschen zum geliebten Du hin transzendiert und dies in der Liebesvereinigung auch als reale Verschmelzung der Identitäten erlebt wird, vermitteln Religionen die Selbsttranszendenz in Richtung auf ein religiöses Du (Gott, Göttin) oder aber auf eine unpersönliche religiöse Wirklichkeit (Nirvana, Brahman), die etwa durch Trancetechniken, Meditation, Gebet oder Tanz erfahren werden kann. All dies sind Tätigkeiten, die wie die Sexualität seelische und körperliche Aktivität verbinden und den Menschen als Ganzes ergreifen. Es mag diese inhaltliche Nähe gewesen sein, aufgrund derer man sexuelle Betätigung als Konkurrenz und Bedrohung der Religion gesehen und durch Verbote einzudämmen gesucht hat. Auf der anderen Seite ist es gerade diese Parallelität, aus der mystische Bewegungen wie der Krishna-Kult oder die Sufi-Mystik erwachsen konnten. Der Gegensatz von Spiritualität und Sexualität ist für viele moderne Menschen nicht mehr so recht nachvollziehbar, auch und gerade bei uns. Mystiken, die diesen Gegensatz aufzulösen suchen, haben Hochkonjunktur. Es bleibt spannend zu sehen, wie die Kirchen sich dieser Herausforderung stellen werden.

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Adelheid Herrmann-Pfandt

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Foto: Petra Schiefer

Adelheid Herrmann-Pfandt

Dr. Adelheid Herrmann-Pfandt ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Marburg.


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