Kein Jahr ohne Migration

Die jüngere Geschichte Deutschlands ist durch Einwanderung geprägt
Einsatz im Straßenbau: In den Fünfziger- und Sechzigerjahren warb die Bundesrepublik vor allem in Südeuropa die so genannten Gastarbeiter an. Foto: dpa
Einsatz im Straßenbau: In den Fünfziger- und Sechzigerjahren warb die Bundesrepublik vor allem in Südeuropa die so genannten Gastarbeiter an. Foto: dpa
Deutschland ist ein Einwanderungsland - und das schon seit langem. Jochen Oltmer, Historiker am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück, beschreibt die Einwanderung nach Deutschland seit dem 19. Jahrhundert und die Politik, die diese jeweils begleitete.

Migration bildet seit jeher ein zentrales Element gesellschaftlichen Wandels. Unzählige Beispiele belegen das Ausmaß, mit dem räumliche Bewegungen in den vergangenen Jahrhunderten die Welt veränderten. Auch die Geschichte Deutschlands ist durch vielfältige und umfangreiche grenzüberschreitende Ab- und Zuwanderungen sowie interne räumliche Bewegungen gekennzeichnet. Häufig werden Teile der Wanderungsgeschichte eines Kollektivs als Beispiele für die Tatkraft und den Wagemut der eigenen Vorfahren erinnert (wie etwa die Transatlantik-Migration aus dem Deutschland des 19. Jahrhunderts) oder als Exempel für Offenheit, Toleranz und Weitsicht erzählt (wie die Aufnahme der Hugenotten in deutschen Territorien im späten 17. Jahrhundert). Selten allerdings gehen derlei Geschichten ein in die jeweils aktuelle Aushandlung dessen, wie in einer Gesellschaft Migration wahrgenommen wird. Diese Debatten bleiben vornehmlich geprägt durch eine Sicht, die Migration als Ergebnis von Krisen, Katastrophen und Defiziten versteht und ihre Folgen als Gefahr für Sicherheit, Wohlstand sowie gesellschaftliche und kulturelle Homogenität. Migration erscheint damit als Risiko, das dringend der restriktiven politischen Vor- und Nachsorge bedarf. Wanderungserfahrungen und (geschichts)wissenschaftliche Erkenntnisse über abgeschlossene Wanderungsvorgänge werden in der Regel auch nicht als Ressource verstanden, gesellschaftliche Gelassenheit im Umgang mit dem Thema Migration zu gewinnen. Dabei ist ein Blick in die Geschichte gerade auch für die aktuelle Diskussion über den Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland hilfreich. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis in das späte 19. Jahrhundert prägten vornehmlich Abwanderungen das Migrationsgeschehen im deutschsprachigen Mitteleuropa. Dazu zählte insbesondere die transatlantische Massenmigration, die zu mehr als 90 Prozent die Vereinigten Staaten von Amerika erreichte: Rund 5,5 Millionen Deutsche wanderten in die USA aus.

Barrieren errichtet

Ende des 19. Jahrhunderts aber dominierte im Deutschen Reich mit Blick auf das grenzüberschreitende Wanderungsgeschehen bereits die Zuwanderung gegenüber der Abwanderung. Hintergrund war das starke Wirtschaftswachstum in der Hochindustrialisierung. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg waren rund 1,2 Millionen Arbeitskräfte aus dem Ausland in der deutschen Landwirtschaft und Industrie beschäftigt. Die wichtigsten Gruppen waren die vornehmlich in der Landwirtschaft beschäftigten Polen sowie Italiener, die besonders in Ziegeleien und im Tiefbau, aber auch im Bergbau und in der industriellen Produktion Arbeit fanden. Während die Auswanderung des 19. Jahrhunderts kaum gesetzlichen oder administrativen Regeln unterlag, war das Interesse staatlicher Akteure an der Zuwanderung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hoch. Sie richteten Barrieren für den Zugang jener Gruppen auf, denen ein hohes Maß an Fremdheit zugeschrieben wurde. In diesen Kontext gehört das seit den 1890-er Jahren entwickelte und bis zum Ersten Weltkrieg ausgebaute System einer restriktiven Kontrolle ausländischer Arbeitskräfte, das vor allem auf die polnische Zuwanderung zielte. Sie galt für den Bestand des Staates deshalb als gefährlich, weil die preußische Regierung eine Solidarisierung von polnischen Zuwanderern aus Österreich-Ungarn und Russland mit der Minderheit der Polen preußischer Staatsangehörigkeit fürchtete (und das waren immerhin zehn Prozent der Bevölkerung Preußens). Polen aus dem Ausland durften zwar in Preußen-Deutschland arbeiten. Ihr Aufenthalt blieb aber auf eine Arbeitssaison beschränkt, eine dauerhafte Einwanderung sollte ausgeschlossen bleiben. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und deren politische Folgen führten zu einer enormen Zunahme der Gewaltmigrationen. Das galt für Deportation und Zwangsarbeit in den Kriegswirtschaften, für Evakuierung und Flucht aus den Kampfzonen sowie für Massenausweisung und Vertreibung nach Kriegsende. Deutschland war sowohl im und nach dem Ersten Weltkrieg als auch im und nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zentrum des europäischen Gewaltmigrationsgeschehens. Den Zweiten Weltkrieg konnte Deutschland nur deshalb beinahe sechs Jahre lang führen, weil es den Krieg von vornherein als Raub- und Beutekrieg führte. Die mit Deutschland verbündeten Staaten sowie die von 1938 an erworbenen oder eroberten Länder und Landesteile hatten hierbei die Aufgabe, mit ihrer landwirtschaftlichen und industriellen Produktion, ihren Rohstoffen und ihren Bevölkerungen der deutschen Kriegswirtschaft zu dienen. Im Oktober 1944 wurden acht Millionen Arbeitskräfte aus dem Ausland in Deutschland gezählt, darunter sechs Millionen Zivilisten und zwei Millionen Kriegsgefangene. Sie stammten aus mehr als zwanzig Ländern. In der Form eines im großen Maßstab auf ausländischer Arbeitskraft basierenden Zwangssystems blieb der nationalsozialistische "Ausländer-Einsatz" historisch ohne Parallele. Im gesamten neueroberten "Lebensraum" des Ostens strebte die NS-Politik außerdem nach dauerhafter Herrschaftssicherung und nach der Etablierung einer streng nach rassistischen Kriterien ausgerichteten "deutschen" Ordnung, die Bevölkerungsgruppen und Nationalitäten hierarchisierte. Wesentliche Elemente der Herstellung dieser rassistischen "Weltordnung" waren Planung und weitreichende Umsetzung von Umsiedlungen, Vertreibungen und Deportationen ganzer Bevölkerungen zugunsten der "Arier". Der von Deutschland angezettelte Zweite Weltkrieg, der Genozid an den europäischen Juden, das Terrorsystem in den besetzten Gebieten und die Massenzwangsarbeit in der NS-Kriegswirtschaft bildeten die Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Ostprovinzen des Reiches und aus den deutschen Siedlungsgebieten in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa mit und nach Kriegsende. Die Daten der Volkszählungen in der Bundesrepublik und DDR von 1950 zeigen die Bilanz dieser Fluchtbewegungen und Vertreibungen deutlich. Danach waren 12,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den nunmehr in polnischen und sowjetischen Besitz übergegangenen ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus den Siedlungsgebieten der "Volksdeutschen" in die Bundesrepublik und in die DDR gelangt. Sowohl die Gründungssituation der Bundesrepublik als auch die der DDR waren geprägt durch die Herausforderungen einer Massenmigration, die die Gesellschaft "Rest-Deutschlands" fundamental verändert hatte. "Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland". Diese im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP 1982 niedergelegte politische Formel ist seither häufig wiederholt worden und bildet bis in die Gegenwart eine geläufige politische Positionierung gegen eine Förderung von Einwanderung - in diesem Sinne schloss bereits in der Koalitionsvereinbarung, die den Übergang von der sozialliberalen Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt zum christlich-liberalen Kabinett Helmut Kohls markierte, folgender Satz an: "Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden." Es ging mithin nicht nur um die Verhinderung dauerhaften Aufenthalts, sondern jeder Zuwanderung nicht-deutscher Staatsangehöriger. Die im politischen Diskurs zum Schlagwort avancierte Rede vom "Nicht-Einwanderungsland" ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur häufig wiederholt, sondern auch vielfach gewendet worden: Die Bundesrepublik sei angesichts der statistischen Realitäten zwar als "Zuwanderungsland" zu verstehen, nicht aber als ein Daueraufenthalte gewährendes "Einwanderungsland" und in keinem Fall ein "klassisches Einwanderungsland", dem eine aktive Förderung von Einwanderung zu Eigen sei. Das aber ist falsch. Der Begriff Einwanderungsland kann statistisch verstanden werden und darauf verweisen, dass über einen längeren Zeitraum die grenzüberschreitenden Zuwanderungen jene der Abwanderungen übersteigen. Angesichts des für einen Großteil der Jahre seit 1949 positiven Wanderungssaldos muss die Bundesrepublik demnach als Einwanderungsland gelten. Der Begriff Einwanderungsland kann aber auch darauf bezogen werden, dass jenseits der statistischen Erfassung eines positiven Wanderungssaldos Tendenzen dauerhafter Ansiedlung von Migranten auszumachen sind, die beispielsweise auch in die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit mündeten. Wegen der millionenfachen Niederlassungen in den vergangenen Jahrzehnten wäre die Bundesrepublik unzweifelhaft als Einwanderungsland zu verstehen. Der Begriff Einwanderungsland kann sich darüber hinaus auf Politiken einer aktiven Förderung von grenzüberschreitender Migration, dauerhaften Ansiedlung oder beidem beziehen. Die Bundesrepublik hat seit den Fünfzigerjahren mit hohem Aufwand eine aktive Migrationspolitik betrieben. Das gilt beispielsweise für die Förderung der Arbeitsmigration von den frühen Fünfzigerjahren bis zum Anwerbestopp 1973. In der Bundesrepublik wuchs der Umfang der aus dem Ausland zugewanderten Erwerbsbevölkerung von 1961 bis zum Anwerbestopp 1973 von etwa 550.000 auf rund 2,6 Millionen an. Das Wanderungsvolumen war dabei erheblich: Vom Ende der Fünfzigerjahre bis 1973 kamen rund 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, etwa elf Millionen, also fast 80 Prozent, kehrten wieder zurück. Kennzeichnend waren bereits in den Sechzigerjahren politische Maßnahmen, die nicht nur einen dauerhaften Aufenthalt ermöglichten, sondern diesen auch durch Maßnahmen zur Integration begleiteten. Hinzu traten und treten Regelungen, die eine Einreise und einen (dauerhaften) Aufenthalt von Studierenden, Fachkräften und Hochqualifizierten förderten. Bereits die Römischen Verträge von 1957 formulierten außerdem das Ziel der Freizügigkeit aller Bürger der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (ewg). Eine Verordnung der ewg gab 1961 die Arbeitsaufnahme in einem anderen Mitgliedstaat grundsätzlich frei und hob die Visumpflicht auf. 1964 folgte die Aufhebung des "Inländervorrangs", womit eine wesentliche Barriere für die Arbeitsmigration beseitigt wurde. Seit 1968 schließlich war für Arbeitsmigranten innerhalb der ewg keine Arbeitserlaubnis mehr nötig. Auf der Ebene der ewg, der Europäischen Gemeinschaft (EG) und Europäischen Union (EU) betrieb mithin die Bundesrepublik seit den Fünfzigerjahren eine aktive Politik mit dem Ziel der Einführung und Ausgestaltung grenzüberschreitender Freizügigkeit. Als einwanderungspolitisch relevant können auch Regelungen gelten, die die Aufnahme spezifischer Kategorien von Migranten in die Bundesrepublik Deutschland förderten. Verwiesen sei hier auf die seit dem Bundesvertriebenengesetz von 1953 bestehenden Möglichkeiten der Zuwanderung von Aussiedlern und Spätaussiedlern, die zum Grenzübertritt von rund 4,5 Millionen Menschen aus Ostmittel-, Südost- und Osteuropa führten. Mit der Einführung der Kategorie der jüdischen Kontingentflüchtlinge ist beispielsweise für mehr als 200.000 Menschen aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten seit 1991 eine Möglichkeit der Einwanderung geschaffen worden. Ähnliches gilt auch für andere Gruppen, denen kollektiv ein Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde (etwa Flüchtlingen aus Ungarn nach 1956 oder vietnamesischen "boat people" seit 1979/80). Diese und andere Beispiele lassen deutlich werden, dass die Zulassung von Einreisen und die gezielte Steuerung von Einwanderung ein Element bundesdeutscher Migrationspolitik war und ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Einwanderungsland.

Jochen Oltmer

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