Kostbare Riten

Wider das tägliche Hamsterrad - Überlegungen zur Zeitkultur
Verschwimmt die Zeit? Viele haben heute dieses Gefühl. (Thorsten Nerling, Gabriele am Bodensee, 2011).
Verschwimmt die Zeit? Viele haben heute dieses Gefühl. (Thorsten Nerling, Gabriele am Bodensee, 2011).
Viele Menschen empfinden Unbehagen, weil die Zeit rast und alles immer schneller gehen soll. Soll man mitrasen, oder soll man betont auf Entschleunigung setzen? Der Theologe Thorsten Latzel, Leiter der Evangelischen Akademie in Frankfurt/Main, skizziert als dritte Möglichkeit die geschichtliche Bedingtheit unseres Zeitverständnisses und propagiert dessen kulturelle Gestaltbarkeit.

The time is out of joint: O cursed spite, That ever I was born to set it right!" (William Shakespeare, Hamlet, Act 1, Scene 5)

Das ungute, hamletsche Gefühl, dass mit der Zeit etwas nicht stimmt, dass sie gleichsam ausgerenkt, aus den Fugen ist, kann sich gegenwärtig leicht einstellen. Das zeigt sich bereits in der Paradoxie, dass trotz immer zeitsparenderer Technik gefühlt scheinbar immer weniger Zeit bleibt. Die Klage über Zeitknappheit hat beste Aussichten, das Schimpfen übers Wetter als kleinsten gemeinsamen Gesprächsnenner abzulösen. Burnout, Turbokapitalismus und "ToGo"-Produkte gehören zu den Kennzeichen der Gegenwart, ebenso wie ein besonderer Jubiläenkult im Blick auf die Vergangenheit und eine Krisenmetaphorik im Blick auf die Zukunft. Auch in der unklaren Klassifizierung der eigenen Gegenwart spiegelt sich die Problematik des aktuellen Zeitbezugs: Sind wir eigentlich post-modern, post-post-modern, spät-modern, in der flüchtigen Moderne (Zygmunt Baumann), am Ende der Geschichte (Francis Fukuyama) oder am Anfang des Anthropozäns (Paul J. Crutzen)? Das individuelle beziehungsweise allgemeine Unbehagen wird noch verschärft, wenn Personen durch eine Leitungsaufgabe nicht nur die Verantwortung für die eigene Zeit haben, sondern auch für die anderer Menschen. So wie der tragische Prinz von Dänemark.

Als Reaktion auf die "unerträgliche Flüchtigkeit der Zeit" (Michael Schüßler) gibt es idealtypisch zwei scheinbar gegensätzliche Lösungsansätze, die sich de facto vielfältig miteinander verbinden. Entweder man optimiert sich selbst und sein Leben mit Hilfe eines wohlfeilen, technisch gestützten Zeitmanagements, vor allem über eine Verdichtung durch Gleichzeitigkeit: man telefoniert, mailt, liest, isst, trinkt im Gehen, Stehen, Fahren. Oder man folgt einer kulturpessimistischen Verfallstheorie mit zugehörender Exitstrategie aus der Beschleunigungsfalle - von den kleinen Fluchten im Alltag über die heilige Auszeit der Ferien bis zum radikalen Gegenentwurf des Aussteigers. Doch letztlich bleiben auch diese Alternativen den Bedingungen der Gegenwart verhaftet und sind selbst Phänomene derselben.

Eigene und fremde Zeit

Im Folgenden soll ein anderer Weg beschritten werden: Es wird versucht, die geschichtliche Bedingtheit des gegenwärtigen Zeitverständnisses zu verstehen, um so seine kulturelle Gestaltbarkeit wahrzunehmen. Dazu sollen einige zeittheologische Impulse benannt werden, wie mit eigener und fremder Zeit umgegangen werden kann.

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann hat in ihrem Buch "Ist die Zeit aus den Fugen?" die geschichtliche Entstehung und Krise des Zeitregimes der Moderne eingehend beschrieben. Unter Zeitregime versteht sie die kulturelle Übernahme eines technisch-physikalischen beziehungsweise ökonomischen Zeitverhältnisses in anderen Gesellschaftsbereichen und deren Folgen. Zu diesem kulturellen Rezeptionsprozess seit dem 17./18. Jahrhunderts gehört es, dass Zeit einerseits zu einer abstrakten, homogenen, inhaltsleeren Größe wird - mit der Gegenwart als Kipppunkt zwischen den unendlichen Zeit-Räumen der Vergangenheit und Zukunft. Und dass Zeit andererseits als kostbares, weil knappes Gut angesehen wird, das es entsprechend zu nutzen gilt. Das Franklin-Zitat "time is money" ist der locus classicus für diese Ökonomisierung, die sich religiös in der puritanischen Wertung von Zeitverschwendung als der Sünde schlechthin spiegelt. Im Zuge von Digitalisierung, einer globalen Kommunikation in "Echtzeit" und optimierten Arbeitsprozessen haben sich diese grob skizzierten Prozesse weiter verstärkt und beschleunigt. Die "apple watch" ist (trotz ihrer schwierigen Markteinführung) die konsequente Fortsetzung einer solchen zweckrationalen Zeitkultur bis in den privatesten Bereich mittels Biometrik. Wie wenig selbstverständlich das gegenwärtige Zeitverhältnis und -verständnis ist, zeigen dabei nicht nur die anderen Zeitkonzeptionen alter und neuer Sprachen. Noch aufschlussreicher sind oftmals die Sprachbilder, in denen sich die jeweilige Zeitkultur ausdrückt (etwa die Rede von Zeitfenstern, dead lines oder einer asap-Kultur (asap = as soon as possible). Die Wahrnehmung, dass die eigenen Zeitvorstellungen geschichtlich und kulturell gewachsen sind, kann helfen, die Alternativlosigkeit und normative Faktizität des gegenwärtigen Zeitverhältnisses zu hinterfragen.

Dazu gehört auch die Problematisierung des bereits angesprochenen Beschleunigungsdiskurses, insbesondere in seinem kulturpessimistischen Grundtenor. Auch hier ist der Blick in die Geschichte hilfreich, da viele der heutigen Phänomene ihre Äquivalente bereits Anfang des 20. Jahrhunderts hatten: etwa in der damaligen Überlastungskrankheit Neurasthenie; in der Klage, dass es nicht gesund sein könne, mit einem Tempo von fünfzig Kilometern pro Stunde mit der Eisenbahn durch das Land zu rasen oder von einem Telefon in der eigenen Diele aus mit Menschen an anderen Orten zu sprechen; oder in dem Symbol-Bild vom unter die Zahnräder kommenden, technisch beherrschten Menschen (Charlie Chaplin im Film "Moderne Zeiten" von 1936). So unbestreitbar die Erfahrung einer beschleunigten Beschleunigung ist inklusive der dazugehörenden individuellen Belastungen, so problematisch ist es, wenn eine ganze Gesellschaft sich als Opfer geriert, statt ihre kulturelle Gestaltungsaufgabe wahrzunehmen.

Für die Weiterentwicklung einer einseitig durch Technik und Ökonomie bestimmten Zeitkultur kommen Glaube und Religion eine wichtige Funktion zu. Ein paar zeittheologische Impulse, die für die Arbeit an einer veränderten Zeitkultur eine Rolle spielen können:

Der geflügelte Gott

Das erste, was Jesus Christus dem Markusevangelium nach verkündet, ist eine Zeitansage: "Die Zeit (kairos) ist erfüllt und das Reich Gottes ist herbeigekommen"(Markus 1,15; ähnlich Galater 4,4). In der antiken Mythologie ist Kairos der geflügelte Gott des flüchtigen, günstigen Augenblicks, den es von vorne am Schopf zu packen gilt, denn, eh man sich versieht, ist er weg, und am Hinterkopf ist er kahl. Gleichsam ein Symbol der Multioptionsgesellschaft - das Leben als Ansammlung von lauter letzten Gelegenheiten: "Entscheiden Sie sich jetzt! Und jetzt! Und jetzt!" Demgegenüber meint Kairos hier eine Zeit, die durch die radikale Nähe des Gottes bestimmt ist, der von sich sagt: "Ich werde sein, der ich sein werde" (Exodus 3,14) Die Begegnung in Jesus Christus mit diesem Gott lässt die Zeit zur Entscheidung werden: "Was willst Du, dass ich Dir tue?" Keine harmlose Wünsch-Dir-was-Frage, die es als günstige Möglichkeit am Schopfe zu packen gilt, sondern der kritische Punkt, an dem sich entscheidet, wer oder was man selbst sein will, an dem man selbst am Schopf gefasst wird.

Ein zentraler Begriff für ein theologisch qualifiziertes Zeitverständnis ist dabei die "Präsenz". Er bezeichnet die tiefe, volle, lebendige Gegenwart eines Menschen im Hier und Jetzt - aus der Gegenwart Gottes. Ein unverfügbares Geschehen, in dem ein Mensch ganz aus Gott und gerade so ganz bei sich selbst und seinen Mitmenschen ist. Die Schriftstellerin Virginia Woolf schuf den Begriff der "moments of being", in dem sich etwas von dieser existentiellen Erfahrung spiegelt. Die Suche nach dem authentischen, einmaligen Erlebnis in einer eventorientierten Kultur hängt mit einem solchen qualitativen Zeitverhältnis zusammen. Im Unterschied zum Event schließt Präsenz aber unverfügbare Gottes-Begegnung ein, die existentielle Erfüllung wie Anfechtung sein kann: erfüllte Zeit in Liebe und Leid.

Mit diesen besonderen, präsentischen "Augen-Blicken" kommt zeittheologisch zugleich die Dimension der Ewigkeit ins Spiel. Nicht im bloßen quantitativen oder qualitativen Sinne einer unbegrenzten Dauer oder Verlängerung des Augenblicks, sondern im kategorialen Sinne einer eigenen, ganz anderen Zeitdimension, die quersteht zu einer linearen Zeitvorstellung. Ein Moment im Horizont der Ewigkeit. Interessant ist dabei die These von Marianne Gronemeyer, dass die Moderne gerade mit dem Verlust einer solchen Zeitdimension beginnt und das Leben dadurch unter den Druck und Anspruch der letzten Gelegenheit gerät. Ewigkeit als Dimension, welche die eigene Zeit in einen völlig anderen Kontext stellt: radikal anfragend, unendlich befreiend, tief bereichernd.

Voraussetzung einer solchen durch Kairos, Präsenz und Ewigkeit bestimmten erfüllten Zeit ist die Unterbrechung, die ritualisierte Auszeit im Tages-, Wochen-, Jahresrhythmus. Sie ist notwendig, um sich selbst in der Zeit immer wieder neu zu verorten beziehungsweise neu verorten zu lassen. Religion ist nach Johann Baptist Metz wesenhaft "Unterbrechung" - im Dienste der Freiheit des Menschen. Oder wie es die Benediktinerin Schwester Raphaela bei einer Tagung zum Thema Zeit in der Evangelischen Akademie Frankfurt sagte: "Man merkt es einer Mitschwester an, wenn sie die eigenen Auszeiten und geistlichen Quellen nicht pflegt."

Was bedeutet dies nun für die Frage eines verantwortlichen Umgangs mit der eigenen Zeit und der anderer Menschen? Ohne Lösungen oder Antworten für die vielschichtigen, hier nur angedeuteten Probleme zu haben, ein paar Anstöße für die Wahrnehmung von Leitungsverantwortung und für die konkrete Arbeit an einer gemeinschaftlichen Zeitkultur:

"Die Technik ist, wenn du sie recht zu nutzen weißt, Magd, wenn du es nicht weißt, Herrin." In Abwandlung eines von Martin Luther ursprünglich im Blick auf Geld bezogenen Satzes gilt es, eine bewusste Zeitkultur im Technikgebrauch zu entwickeln, in der der Mensch die Technik besitzt und nicht umgekehrt.

Dafür spielt eine autonome Begrenzung eigener Freiheiten eine wichtige Rolle. Auch wenn Smartphones permanent online sein können, braucht es der Mensch nicht zu sein. Und so wenig man ständig Post aus dem Briefkasten holt, braucht man es mit seinen digitalen Nachrichten zu tun. Multitasking ist arbeitspsychologisch gesehen im Übrigen eine Fiktion - nicht nur bei Männern.

Eine große Herausforderung für eine zukünftige Zeitkultur besteht in der Synchronisierung von individuellen und gemeinschaftlichen Zeitrhythmen. Gerade angesichts eines Bedeutungsverlustes traditioneller Institutionen bedarf es hier neuer Gestaltungsprozesse und vermittelnder Instanzen. Die flexible Möglichkeit, am Abend, Wochenende und von Zuhause tätig sein zu können, bedeutet neue Koordinationsaufgaben etwa im Blick auf Familie. Wichtig ist eine sozial sensible Beachtung, welche Zeitrhythmen (Tag, Woche, Jahr) in welchen Sozialformen (Familie, Freunde, Gesellschaft) wie sinnvoll beheimatet sind.

Alte, "fromme" Riten können helfen, heilsame Unterbrechungen zu gestalten: die Stille am Morgen als Vergewisserung für den Tag, das Mittagsgebet als kontrapunktischer Einschnitt und Erinnerung der Ewigkeit am Höhepunkt des Tages, der Abendsegen als Einübung loszulassen.

Jede Generation steht letztlich neu vor der Aufgabe, eine Kultur im Umgang mit dem eigenartigen Phänomen Zeit zu entwickeln, dem "Stoff, aus dem das Leben (ist)" (Stefan Klein). Gerade die Eigensinnigkeit theologischer Denkfiguren kann helfen, dies jenseits von Selbstoptimierung und Eskapismus in einer zweckrationalisiert-digitalen Lebenswelt zu tun.

Literatur

Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. Carl Hanser Verlag, München 2013, 336 Seiten, 22,90 Euro.

Marianne Gronemeyer: Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2013, 179 Seiten, 14,90 Euro.

Michael Schüßler: Mit Gott neu beginnen. Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2013, 360 Seiten, 49,90 Euro.

Thorsten Latzel

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