Die Anarchisten

Ein Heim bei Zürich bricht Tabus bei der Betreuung Demenzkranker
Foto: Michael Uhlmann
Foto: Michael Uhlmann
Vor drei Jahrzehnten entschied sich der Krankenpfleger Michael Schmieder, bei der Betreuung von Demenzkranken neue Wege zu gehen. Er übernahm die Leitung des Heimes „Sonnweid“ bei Zürich und hat vieles anders gemacht, als es die Lehrmeinung vorsah – und sieht sich bestätigt. Die „Sonnweid“ hat Standards gesetzt, viele Einrichtungen folgen mittlerweile ihrem Beispiel. Was macht das Heim so besonders?

Im Foyer des Heimes Sonnweid: Die große Glaswand neben der Rezeption gibt den Blick frei auf einen Garten mit Rampen und sich windenden Wegen, dahinter Wiesen und Weiden und in der Ferne schneebedeckte Berggipfel. Der Blick wendet sich nach rechts, den Gang entlang in die Tag-Nacht-Station für Menschen, die nur an einigen Tagen und Nächten in der Woche hier sind. Ein alter Mann mit grauen Haaren läuft mit kurzen, schlurfenden Schritten zum Foyer, kehrt kurz davor um, geht zurück, wendet wieder. Eine junge Pflegerin kommt hinzu, fasst den Mann behutsam mit beiden Händen an die Schulter, lächelt, spricht mit ihm. Dann setzt sie ihm eine Kappe auf, die den Kopf im Falle eines Sturzes schützen soll. Die Pflegerin spricht noch ein paar Worte und geht zurück in eines der Patientenzimmer. Der Mann läuft weiter zum Foyer, wieder zurück, dann zweigt er ab auf die Rampe, die in die oberen Etagen führt. Aus einem Zimmer tritt ein zweiter Patient, sieht den Wanderer durch ein großes Fenster auf der Rampe und grüßt ihn mit gestrecktem Daumen. Gut so, weitermachen…

„Marschieren hilft“, weiß Michael Schmieder, der in stressigen Zeiten ebenfalls lange Spaziergänge macht. Er kommt aus dem Gang links ins Foyer, Schnauzbart im runden Gesicht, ein Poloshirt über dem kräftigen Oberkörper, keine langen Vorreden: „Wollen wir gleich einen Rundgang machen?“ Denn es gibt etwas zu sehen, hier in Wetzikon, gut 15-S-Bahn-Minuten von Zürich entfernt. Sonnweid, ein Heim für Demenzkranke, das Standards gesetzt hat, das immer wieder Journalisten und Fachleute anlockt, dessen Ideen und Konzepte auch in Deutschland nachgeahmt werden – wenn auch nur in Teilen. „Das hier würden die deutschen Hygienevorschriften nicht erlauben“, sagt Schmieder und zeigt auf einen kleinen Tisch am Rand des Gangs. Darauf ein Teller mit etwas Obst, Käse und Wurst in kleinen Stücken. Davon gibt es mehrere im Haus, damit die dementen Wanderer zwischendurch etwas essen können, wenn sie auf ihren langen Wegen die Mahlzeiten verpassen.

Die Rampe führt durch ein schmales, aber luftiges Atrium nach oben, erdige Farben, an einer Wand läuft Wasser vom obersten Stockwerk bis ins Erdgeschoss. Oben auf dem Flur ein Kaminofen – die vier Elemente prägten die Architektur in diesem Teil des Hauses, das in mehreren Bauphasen während der vergangenen zwanzig Jahre neu gebaut wurde. Aber es ging Schmieder bei der Gestaltung des Aufganges nicht um Naturmystik, sondern um die Möglichkeiten sinnlicher Erfahrungen. Deshalb gibt es hier auch einen rollbaren Herd, mit dem man den bettlägerigen Patienten am Krankenbett Bratkartoffeln bruzzeln kann. Der Geruch habe schon so manchem wieder Appetit gemacht, der sich schwer tat mit dem Essen, sagt Schmieder. Und natürlich sollte auf diese Weise auch ein schönes Umfeld für die Bewohner und Mitarbeiter entstehen.

Ganz anders als das Heim, das er bei seinem Bewerbungsgespräch 1985 vorfand. Mannshoher Maschendrahtzaun umgab das Gebäude, düstere Flure, der Geruch nach altem Urin, lange Bänke an den Wänden als Sitzgelegenheit für die rund 60 psychisch kranken Frauen und ihre Pfleger und Pflegerinnen, letztere zum Teil rekrutiert aus den Reihen ehemaliger Junkies und Alkoholiker, weil sonst kaum jemand hier arbeiten wollte. „Schandfleck“, „Armenhaus“ sind die Begriffe, mit denen Schmieder die Einrichtung zum damaligen Zeitpunkt beschreibt. Aber er wollte Verantwortung übernehmen, und der damalige Verwalter traute dem jungen Krankenpfleger aus dem Schwarzwald, der seit ein paar Jahren in der Schweiz lebte und arbeitete, diese Aufgabe zu. Mehr noch: Der Verwalter kaufte das Heim für zwei Millionen Franken, begann mit der Sanierung und ließ Schmieder machen. Bis heute ist das Heim unabhängig.

Schmieders erste entscheidende Idee: Das Heim sollte künftig nur noch Demenzkranke aufnehmen und nicht mehr, wie bislang, Patienten mit sehr unterschiedlichen körperlichen und psychischen Krankheiten. Das widersprach der Lehrmeinung, die die Integration der Dementen forderte und nicht ihre Separierung vom Rest der Welt. Doch Schmieder hatte als Pfleger erfahren, dass das Miteinander von Dementen und Nicht-Dementen beide Gruppen unter großen Stress setzt. „Der demente Mensch ist der Staatsfeind Nummer eins in allen Altersheimen“, meint Schmieder. Denn er sei ein Anarchist, einer, der das Chaos zur Norm erhebt, neue eigene Normen aufstellt und sie ständig verändert. Wenn so einer konfrontiert wird mit den Erwartungen von Mitbewohnern, die sich zu Recht darüber aufregen, wenn ein Dementer sein Gebiss in den Suppenteller des Nachbarn wirft, entstehen Stress und Aggression auf beiden Seiten. Schmieder vertraute also seinen eigenen Erfahrungen mehr als der gängigen Expertenmeinung. Und sieht sich mittlerweile auch von der Fachwelt bestätigt. Eine Studie des Stadtärztlichen Dienstes Zürich habe 2005 dem Ansatz der Sonnweid deutliche Vorteile für Patienten und Personal gegenüber den konventionellen Einrichtungen attestiert. Die Patienten seien selbstständiger, würden sich mehr bewegen und dennoch nicht öfter stürzen, bräuchten weniger Medikamente. Viele Heime in der Schweiz betreuten mittlerweile ebenfalls ausschließlich Demente, sagt Schmieder, in Deutschland hingegen seien solche Einrichtungen noch rar.

Im oberen Stockwerk wird zu Mittag gegessen. In einem hellen Raum mit großen Fenstern zum Garten sitzen zehn Patienten, die meisten gemeinsam am Tisch, andere etwas abseits. Acht Pflegerinnen helfen beim Essen. Insgesamt arbeiten 130 Männer und Frauen im Pflegebereich und betreuen 167 Patienten. Ein Betreuungsschlüssel, der in der Schweiz nicht unüblich sei, sagt Schmieder. Der Reichtum des Landes und politischer Wille machen es möglich. Der Platz im Pflegheim wird zunächst finanziert durch die obligatorische Krankenversicherung, die in der Schweiz aber eher den privaten Krankenversicherungen in Deutschland ähnelt und dem Versicherten viele Wahlmöglichkeiten lässt. Hinzu kommt ein gedeckelter Eigenanteil des Patienten, je nach Vermögen. Das reicht jedoch meist nicht aus, um einen Platz zu bezahlen. Die Lücke wird durch staatliche Mittel über den Kanton ausgeglichen, was im Falle der Sonnweid bis zu 7000 Franken monatlich für einen Heimbewohner bedeuten kann. Ein Deutscher, der hier einen Platz bekommen möchte, müsste also mindestens wohlhabend sein, für Schweizer ist ein Heim wie dieses hingegen kein kostspieliger Luxus. Eine weitere Folge der komfortablen Finanzsituation der Schweiz: Das Pflegepersonal wird deutlich besser bezahlt als in Deutschland. Für Schmieder war das einer der Gründe, schon als junger Mann in die Schweiz zu gehen. Dennoch sei es keine leichte Aufgabe, immer wieder gutes Personal für die Sonnweid zu gewinnen und zu halten. Die Pflege von Demenzkranken ist eine besondere Aufgabe, und Schmieder erwartet zudem eine ganz bestimmte Haltung gegenüber den Kranken. Er selbst hat einen Master in Ethik, und entsprechend gibt es ein Ethikkonzept für die Sonnweid – aber Konzept klingt eigentlich zu theoretisch für die Grundsätze, die aus der Erfahrung im Umgang mit den Demenzkranken entstammen. „Die Bewohner als Persönlichkeit respektieren“, „ihre Eigenarten akzeptieren“, „allen Bewohnern auf Augenhöhe begegnen“ – das sind Worte, die immer wieder fallen.

Aber wie kann man als gesunder Pfleger einem Demenzkranken, der in seiner eigenen Welt lebt und oft die Worte nicht versteht, die man zu ihm spricht, auf „Augenhöhe“ begegnen? Jeder Bewohner im Heim wird gesiezt. Lügen ist verboten, sogenannte Demenzdörfer mit Bushaltestellen, an denen nie ein Bus kommt oder Zugabteile, hinter denen ein Endlosfilm läuft, machen Schmieder wütend. „Man muss den Menschen sagen, dass sie nicht mehr nach Hause können. Und dann unter Umständen ihre Wut aushalten.“ Es geht vor allem darum, dass man den Kranken und seine Welt akzeptiert, sein Verhalten nicht andauernd interpretiert, ihn nicht mit Fehlverhalten konfrontiert und auf seine speziellen Bedürfnisse einzugehen versucht. Zum Beispiel Herr Haueter: Er harkt die Wege im Garten immer auf eine ganz besondere Art und Weise, wenn man Fotos davon betrachtet, sieht es ein wenig aus wie Landschaftskunst. Aber auch wenn es einfach nur doof aussähe, dürfte er die Wege harken. Ob es damit zu tun, hat das er mal bei der Bahn gearbeitet hat und er auf irgendeine Weise Schienen in den Garten legen will?

„Das ist egal“, sagt Schmieder, der das Arbeiten mit der Biographie der Bewohner für weniger wichtig hält. Vielleicht war für manche Menschen das Vergessen ein Segen, sagt er. Warum sollte man unbedingt versuchen, an irgendetwas anzudocken, was früher ihre Welt war, aber jetzt nicht mehr ist? Nun ja, vielleicht, um mit ihnen in Kontakt zu treten? „Dazu braucht man keine Biographie, sondern Empathie“, sagt Schmieder. Und vielleicht eine ganz bestimmte Kommunikationstechnik, die sogenannte Validation, die den Patienten helfen soll, ihre Ziele zu erreichen, nicht die der Pfleger oder Pflegerinnen. Sie sollen den Menschen im Augenblick begegnen und auf das jeweilige Bedürfnis achten, das beim nächsten Treffen schon wieder ein ganz anderes sein kann. Und diese Offenheit geht verloren, wenn man weiß, dass ein Patient pädophil war oder in Südamerika für ein Unrechtsregime gearbeitet hat.

Dieser Grundsatz hat auch dazu geführt, dass in Zimmern der Bewohner keine Möbel aus der früheren Wohnung stehen. Selbst die Fotos von Angehörigen haben die Betreuer mal bei einer Patientin weggeräumt. „Die Frau kam einfach nicht an, war ständig unruhig. Als die Fotos weg waren, hat sie sich bedankt. Danach ging es ihr besser.“ Auch in der „Villa“, einem weißen Haus im Garten, sind die Zimmer eher funktional eingerichtet. Die Bewohner, denen die Krankheit noch erlaubt, in dieser WG zu wohnen und auch einen Teil der Hausarbeiten zu übernehmen, sitzen am Tisch im Erdgeschoss, in der offenen Küche wurde gerade gekocht. Es gibt Flunderfilet. Eine Patientin erlaubt dem Besucher einen Blick in ihr Zimmer im Obergeschoss zu werfen. Bett, Regal, Schrank, Zeitschriften – alles eher wie in einem Hotelzimmer. „So soll es sein“, sagt Schmieder. „Aber eines mit vier Sternen.“

Dann geht es zurück ins Hauptgebäude, in die „Oase“. Das ist der Teil des Hauses, in dem die Menschen leben, bei denen die Demenz schon weit fortgeschritten ist. Die meisten von ihnen sind bettlägerig. Draußen gibt es eine große windgeschützte Terasse, auf die auch Betten geschoben werden können, und innen farbiges Licht, das unterschiedliche Stimmungen erzeugt. Und Schränke auf Rollen, die Schmieder von einem Möbelbauer hat anfertigen lassen. Sie können bei Bedarf so ausgeklappt werden, dass sie das Bett vor Blicken abschirmen, etwa wenn der Patient gewaschen wird. Warum nicht gleich Einzelzimmer? Das wäre doch dem Vier-Sterne-Standard angemessen… Das sah Schmieder auch so, als er die Oase konzipierte. Aber ein erfahrener Pfleger aus seinem Team stoppte ihn: „Du kannst alles machen, bloß keine Einzelzimmer.“ Denn ein Demenzkranker kann nicht mehr rufen, wenn es ihm schlecht geht. Und die Erfahrung habe gezeigt, dass die Patienten entspannter seien, wenn sie wahrnehmen, dass noch jemand im Raum ist, und sei es nur durch ein Schnarchen des Bettnachbarn. Punktuell sollen also auch in diesem Stadium basale Beziehungen ermöglicht werden bei Menschen, die zu langfristigen Beziehungen nicht mehr fähig sind. Und die auch nicht alleine sterben sollen.

In der Regel bleiben die Bewohner in der Sonnweid bis zu ihrem Tod. Schmieder öffnet eine Tür im Gartengeschoss, ein Raum für die Toten des Hauses. In einem Nebenraum stehen noch unbenutzte Särge, die Pfleger und Pflegerinnen waschen die Toten und bahren sie dann darin auf. Das Personal und die Mitbewohner haben so die Möglichkeit, Abschied zu nehmen. Ebenso die Angehörigen, denen nach dem Tod des Bewohners eine kleine Tonsäule übergeben wird. Jeder Bewohner fertigt gemeinsam mit einer Künstlerin zwei davon bei seinem Einzug an. Einfache kleine Stehlen, in denen aber die Abdrücke der Finger sichtbar sind, so dass keine der anderen gleicht. Die zweite bleibt im Haus und findet ihren Platz im „Raum der Stille“ im Erdgeschoss: Viel Holz, indirektes Licht, bequeme Sessel, in die Wand eingelassene Fächer für die Säulen der Toten. Kein Kreuz, keine anderen religiösen Symbole – aber dennoch ein Raum der Andacht.

Schmieder, Jahrgang 1955, hat sich vor einiger Zeit aus dem aktiven Dienst in der Sonnweid zurückgezogen, die Pflegeleitung an eine Nachfolgerin übergeben. Aber er hat noch immer ein Büro im Hause, er berät andere, die Heime erichten wollen, reist umher und hält Vorträge, legt sich weiterhin mit den Vertretern der vorherrschenden Expertenmeinung an. Aber er kann auch tröstend über Demenz sprechen und schreiben, so wie in seinem Buch, das im vergangenen Jahr erschien. Die Übergänge in den verschiedenen Krankheitsphasen seien mitunter schmerzhaft für die Betroffenen, heißt es dort. Aber es sei vor allem die Umwelt, die auf Dauer ein Problem mit der Demenz hätte, nicht die Betroffenen selbst. Im Gegenteil: „Zwänge bestehen nur für die anderen.“ Höflichkeit und Konventionen seien nicht mehr relevant, Demenzkranke seien Menschen, die offen ehrlich, direkt und ungeschminkt mit ihrer Umwelt umgehen könnten. „Sie haben die Möglichkeit, das lebenslang Ungesagte zu sagen, das Ungelebte zu leben. Erst die Verwirrtheit schafft Zugang zu sich selbst.“

Literatur

Michael Schmieder: Dement, aber nicht bescheuert. Für einen neuen Umgang mit Demenzkranken. Ullstein-Verlag, Berlin 2015. 224 Seiten, Euro 19,99.

Zur Rezension des Buches

Stephan Kosch

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