Sensibler Blick

Leben mit einem Demenzkranken
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Wenn die Sprache versagt, wenn kein „normaler“ Zugang zu dem Kranken mehr möglich ist, bleibt das Gefühl als Brücke.

Muss das eigentlich sein? Das dritte Buch zum Thema Demenz aus dem Hause Jens? Nachdem Sohn Tilmann bereits 2009 mit dem Titel Demenz über die Erkrankung seines Vaters Walter die Feuilletons heftig in Wallung gebracht hatte und sich dann in Vatermord gegen Häme und Angriffe verteidigt hatte, nun auch noch Inge Jens mit einem Buch über die letzten Jahre ihres Mannes? Angesichts der großen Fülle an vorhandener Literatur muss das wirklich nicht sein.

Aber: Es kann sein. In diesem Falle zumal, da es sich hier um Texte handelt, die im Ursprung nicht zur Veröffentlichung gedacht waren und die gerade darum in ihrer Authentizität bestechen. In dem kleinen Büchlein sind Briefe versammelt, die die Literaturwissenschaftlerin Inge Jens zwischen 2005 und Februar 2013 – also etwa vier Monate vor dem Tod des berühmten und hochgeachteten Tübinger Altphilologen am 9. Juni 2013 – an Freunde und Bekannte geschickt hatte. In diesen Briefen berichtet sie über den Alltag der Familie und über das Befinden ihres Mannes.

Sie selbst, die Ehefrau, die Angehörige, die Betroffene, tritt hinter den Berichten zurück. Ihr tiefes Inneres bleibt den Leserinnen und Lesern weitgehend verschlossen. Wir können nur ahnen, welche Wunden die Jahre der Krankheit von Walter Jens auch bei ihr, einer schließlich nicht mehr jungen Frau (Inge Jens ist inzwischen 89 Jahre alt) hinterlassen haben. Aber wenn sie das Adjektiv „traurig“ benutzt (und das kommt häufiger vor), geht es niemals um sie, stets geht es um den Zustand ihres Mannes.

Eines der wenigen Gefühle, die sie mitteilt, ist Dankbarkeit. Dankbarkeit für die gute gemeinsame Zeit, Dankbarkeit für die Hilfe, die ihr und ihrem Mann zuteil wird, und Dankbarkeit für die im Vergleich zu anderen privilegierte Situation, die sie trotz der Pflege in die Lage versetzt, ihr eigenes Leben, wenigstens zum Teil, weiterzuleben.

Langsames Entschwinden heißt der Band von Inge Jens, und schon der Titel bestätigt einmal mehr die allgemeinen Erfahrungen mit dieser Krankheit: Die Demenz raubt den Angehörigen den geliebten Mann, die Mutter, den Vater schon zu Lebzeiten. Demenz – das ist ein schleichender Prozess des allmählichen und unumkehrbaren Abschiedes: Der Verstand geht, der Körper bleibt. Am Schluss steht das Paradoxon der „anwesenden Abwesenheit“ (Inge Jens).

Aber noch etwas bleibt: das Gefühl. Wenn die Sprache versagt, wenn Worte fehlen (eigentlich unvorstellbar für einen Mann des Wortes wie Walter Jens), wenn kein „normaler“ Zugang zu dem Kranken mehr möglich ist, bleibt das Gefühl als Brücke. Und das ist momentan, da wirksame Medikamente gegen die Demenz noch auf sich warten lassen, vielleicht die einzige Hoffnung für alle betroffenen Angehörigen: Der Weg zum anderen muss nicht gänzlich versperrt sein.

Freude oder Kummer, Wohlbefinden oder Unwillen – auch schwer an Demenz Erkrankte empfinden das breite Spektrum menschlicher Gefühle. Und sie spüren es, wenn ihnen jemand vertraut ist. Dass sie dessen Namen nicht mehr nennen können, wird dann, das hat auch Inge Jens im Laufe der Zeit gelernt, zur Nebensache.

Wer sich bereits intensiver mit dem Thema Demenz befasst hat, wird nicht wirklich Neues in dem Buch von Inge Jens entdecken. Wer sich aber erstmals mit dem Thema befasst, erhält einen Eindruck davon, wie diese Krankheit – bei allen individuellen Unterschieden – verläuft. Dafür ist der sensible Blick der Autorin ebenso hilfreich wie ihre klare Sprache. Und wer selbst einen Demenzkranken pflegt oder gepflegt hat, findet vielleicht Trost darin, zu erfahren, wie andere mit ihrem Schicksal umgehen.

Annemarie Heibrock

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