Polizisten küssen

Punk-Feminismus
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Das Buch ist Bericht, Kampfschrift, Gedankenspeicher und Pamphlet zugleich, aber auch Rechenschaft über Nadjas Weg in die Gegnerschaft zu Putins System.

Obszön macht sich die orthodoxe Kirche in Russland mit dem Regime von Autokrator Wladimir Putin gemein. Priester, die mit unrechtsverdrossenen Bürgern fraternisieren, werden gemaßregelt, jene mit Beihilfe der Kirche in Lager gesteckt wie die 1989 geborene Nadja Tolokonnikowa. Sie hatte die löbliche Frechheit, Kirche und Regime auf der Nase herumzutanzen. Nadja gehört zur Aktionskunst-Gruppe „Pussy Riot“, die in einem sonst oft und gern an Reiche und Einflussreiche vermieteten Saal der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale 2012 das „Punk-Gebet“ inszenierte.

Auch davon erzählt ihr Buch Anleitung für eine Revolution. In 200 kurzen und sehr kurzen Kapiteln ist es ein aufwühlendes Fanal von einer, die weiß, was das kostet: „Sprich, halte Reden, schreibe Texte bis zum Letzten. Denn es gibt nur einen Weg, dieses ungleiche Duell zu gewinnen: durch Denken, Fühlen und Aufrichtigkeit. Klingt selbstsicher.

Aber was bleibt dir außer Selbstsicherheit, wenn du dich mit 22 Jahren plötzlich in Opposition zum staatlichen Machtblock wiederfindest, der schon ganz andere mal eben zu Pulver verarbeitet hat?“ Zwei Jahre im sumpfigen Mordwinien, das schon seit Stalin eine Lagergegend ist, hat sie bekommen. In gnadenlosem Akkord 16 bis 20 Stunden am Tag, ohne Wochenenden musste sie Polizeiuniformen nähen. Bittere Ironie: Eine ihrer Polit-Aktionen war es, Polizisten zu küssen.

Statt Gewalt sind Erfindungsgeist und Nonsense, schöpferische Arbeit, Streben nach Erkenntnis und Freiheit Motto und Motor ihres Enthusiasmus. Die Anleitung für eine Revolution ist Bericht, Kampfschrift, Gedankenspeicher und Pamphlet zugleich, aber auch Rechenschaft über Nadjas Weg in die Gegnerschaft zu Putins System. Aufgewachsen in Sibirien, mit 16 Studentin der Philosophie, im Umfeld der feministischen Riot-Grrrl-Bewegung, dann Aktivistin in einem Staat, der Angst vor dem Lachen hat, wie sie schreibt. Notgedrungen konspirativ, kreativ und unerschrocken treten sie und Gleichgesinnte für Freiheit und Gerechtigkeit ein – Werte, auf deren Seite man sich auch die Kirche wünschte.

Es rührt zu lesen, wie Nadjas Vater und ihre kleine Tochter ihre Leidenschaft für kindliche anarchistische Freiheit teilen, nicht als einzige. Sie erzählt, dass sie Polizisten traf, sogar aus den Sondereinheiten, die hinter vorgehaltener Hand Respekt bezeugten und Solidarität, was Nadjas Glauben stärkt, dass es in der chauvinistischen Gesellschaft noch mehr Potentiale gibt, die es zu wecken gilt. Aktuell kämpft sie für menschliche Zustände im Lager- und Gefängnissystem, das sie selbst erlitt. Beschwörende „Strand-unter-dem-Asphalt“-Sentenzen in der „Anleitung für eine Revolution“ sind insofern ohne jeden Verdacht auf Klischee. Nadjas eigene Geschichte gliedert das Buch nur grob chronologisch, im Vordergrund steht die Sache, für die sie begeistern will. Mutig, fehlbar, quicklebendig und herrlich freiheitsverliebt.

Provokant, aber schlüssig ist, wie sie dabei Maria und Eva für den Kampf um Freiheit und Gleichheit reklamiert. Ein buntes anregendes Buch mit überzeugendem „Sei dir selbst treu!“, das Nadja dem lastenden Unrechtsgrau entgegenwirft.

Töchtern und Söhnen sollten wir es schenken, uns selbst erst recht – und ihr trauen, denn: „Punk-Kultur, Dichtung und die verdammte Literatur haben uns gelehrt, dass Mäßigung und Zurückhaltung oft die falsche Wahl sind.“

Udo Feist

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