Monstermotetten

Max Regers Opus 110
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Mit dieser Einspielung ist Bernius und den herausragenden Vokalprofis des SWR-Chores ein wirklich großer Wurf gelungen.

Es gibt viele Anekdoten über den Komponisten Max Reger (1873-1916), an dessen 100. Todestag in diesem Jahr gedacht wird (vergleiche zz 5/2016). Die erste erzählte früher unsere Kantorin. Max Reger habe einst an einen Kritiker, der ihm nicht wohlgesonnen war, geschrieben: „Ich sitze in dem kleinsten Raum meines Hauses und habe ihre Kritik vor mir. Bald werde ich sie hinter mir haben …“. Was haben wir gelacht! Und sie erzählte noch eine, die uns Kinder tief beeindruckte: Reger sei in ein Restaurant gekommen und habe dem Kellner gesagt: „Bringen Sie mir bitte zunächst die erste Seite der Speisekarte und dann die zweite Seite der Speisekarte …“. Und schließlich noch die: Einmal spielte ein völlig talentfreies Mädchen Max Reger auf dem Konzertflügel vor. Als ihn die Mutter um ein Urteil bat, meinte er: „Gnädige Frau, ohne Flügel wäre Ihre Tochter ein Engel!“

Diese Schnurren lassen Reger kauzig, geistreich und irgendwie ganz besonders erscheinen, und das gilt erst recht für seine Musik: „Es ist keine Musik, die sich von einem vorherigen Stil ableiten lässt. Reger ist keine Fortführung von irgendetwas, sondern hat einen ganz eigenen und einzigartigen Stil, für den man Zeit braucht“, sagt Dirigent Frieder Bernius über seine neue Aufnahme der „Drei Motetten op. 110“. Dass er und das phänomenale SWR-Vokalensemble sich offenkundig diese Zeit genommen haben, ist in der vorliegenden Neueinspielung beglückend zu erfahren. Souverän und klangschön werden die vielfältigen Konturen und die harmonische Subtilität dieser geistlichen Monstermotetten nachgezeichnet. Besonders die Fugen der beiden siebenstimmigen „Mein Odem ist schwach“ und „Ach Herr, strafe mich nicht“ atmen eine Präzision, die normalsterbliche Laienchöre wohl nie erreichen werden. Und erscheinen die Fugen zunächst auch sperrig, ja mechanisch in ihrer ortlos anmutenden Harmonik, ziehen sie nach mehrfachem Hören unwiderstehlich in ihren Bann. Ganz zu schweigen von den wunderbar aus dem Nichts erblühenden Choralstrophen „Sei du selbst mein Bürge“ und „Ich liege und schlafe“, die als spätromantische Offenbarung erstehen. Die dritte Motette „O Tod, wie bitter bist du“ ist vielleicht für Normalsterbliche am singbarstenund vom flirrenden Einstieg bis zum unsagbar schönen Rückung nach Dur am Schluss („O Tod wie wohl tust du…“) ein weiterer Höhepunkt.

Mit dieser Einspielung, die zusätzlich noch die großangelegte Passionskantate „O Haupt voll Blut und Wunden“ enthält, ist Bernius und den 35 herausragenden Vokalprofis des SWR-Chores - der Komponist selbst führte die Erlöser-Motetten 1910 in Dortmund mit 256 Sängern, allerdings Laien, auf - ein wirklich großer Wurf gelungen. Hoffentlich kann Max Reger sie auch hören, wo immer er sich in seinem 100. Todesjahr befinden mag …

Reinhard Mawick

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