Hoffnungskörper des Messias

Beim Abendmahl geht es um das Leben, nicht um Tod und Sünde
Passionsspiele Oberamergau 2010: Jesus und die Jünger bei Abendmahl Foto: dpa
Passionsspiele Oberamergau 2010: Jesus und die Jünger bei Abendmahl Foto: dpa
Was im Neuen Testament über das Abendmahl steht und wie es die ersten christlichen Gemeinden gefeiert haben, ist stark von jüdischen Traditionen und Vorstellungen geprägt, zeigt Claudia Janssen, die an der Universität Marburg Neues Testament lehrt.

Vom letzten Mahl Jesu wird im Neuen Testament viermal berichtet: in den synoptischen Evangelien, also bei Matthäus (26,26–29), Markus (14,22–25) und Lukas (22,15–20), und im Ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth (11,23–26). Die Berichte unterscheiden sich. Festgelegte Einsetzungsworte gab es nicht, als diese Texte entstanden. Die heute verbindliche evangelische Abendmahlsliturgie verwendet einen Mischtext, der Elemente verschiedener neutestamentlicher Abendmahlstexte kombiniert.

Wie vielfältig demgegenüber die Praxis mindestens bis ins Zweite Jahrhundert hinein war, zeigt die Didache, eine frühchristliche Gemeindeordnung, die wahrscheinlich in Syrien verfasst wurde. Die darin „Eucharistie“ genannte Abendmahlsfeier umfasst eine Mahlzeit und erhält ihren besonderen Charakter durch die Dankgebete, zuerst über dem Becher, dann über dem Brot. Ihr Wortlaut weist eine große Nähe zu jüdischen Segensworten auf. Weitere Einsetzungsworte werden nicht erwähnt. Und es fällt auf, dass es im Zusammenhang der Liturgie keinen Bezug auf die Passion Jesu gibt. Bis ins dritte, vierte Jahrhundert waren die Abendmahlsfeiern Gemeinschaftsmahle, zu denen Essen und Trinken dazu gehörten.

Der Mahlbericht im Ersten Brief des Paulus an die Gemeinde in Korinth und das letzte Mahl Jesu liegen zeitlich nah beieinander. Wir sind hier also dicht an dem historischen Ereignis selbst, vor allem weil Paulus deutlich macht, dass er sich auf eine gewachsene Gemeindetradition beruft. Das Abendmahl war unmittelbar nach Jesu Tod der identitätsstiftende Akt der messianischen Gemeinschaften, die sich in seinem Namen zusammenfanden. Auch der von Paulus beschriebene Ritus mit Segensgebeten über Brot und Wein entspricht dem jüdischer Gemeinschaftsmahl. Dass der Apostel beide nur kurz erwähnt und nicht den genauen Wortlaut wiedergibt, zeigt: Er setzt sie als selbstverständlich voraus. Die Segensworte entsprachen möglicherweise denen, die die Mischnah überliefert: „Gesegnet seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der hervorbringt Brot aus der Erde.“ Entsprechend lautet der Segen über den Wein: „… der du die Frucht der Rebe schaffst“. Der Mahlzeit folgte ein Dankgebet. Und in den neutestamentlichen Texten werden diese traditionellen Gebete mit der Erinnerung an Jesu Tod verbunden und erzählen, Jesus selbst habe denen, mit denen er Brot und Wein teilte, aufgetragen, dies zu tun.

Die Mahlberichte der Evangelien stimmen darin überein, dass Jesus zu Beginn des Mahles Gott preist, wie das jüdische Hauseltern tun, und dann das Brot am Tisch verteilt. An das Segenswort (eulogein: segnen, eucharistein: danken) schließt er an: „Nehmt und esst! touto estin to soma mou“ (Matthäus 26,26). Die traditionelle Übersetzung „das ist mein Leib“ legt nahe, das Wort „das“ auf das zuvor genannte Brot (griech. artos) zu beziehen. Touto (grammatisch: Neutrum) kann sich jedoch nicht auf artos (grammatisch: Maskulinum) beziehen. Die Übersetzung hat dazu geführt, dass verstanden wurde, symbolisch oder in Realpräsenz solle Jesu Körper gegessen und sein Blut getrunken werden.

Dass dies ein Missverständnis ist, zeigt auch das zweite Deutewort bei Matthäus. Dieses bezieht sich explizit auf den Becher und macht deutlich: Es geht nicht darum, Jesu Körper mit dem Brot und sein Blut mit dem Wein zu identifizieren. Die Deuteworte beziehen sich vielmehr auf den ganzen Ritus und Jesu Gesten. Deshalb übersetzt die Bibel in gerechter Sprache: „So ist mein Leib.“

Doch was bedeutet dies konkret? Worauf zeigt er beim Sprechen? Das griechische Wort soma ist hier vielfältig zu verstehen. Es kann den konkreten, verletzlichen Körper Jesu bezeichnen, auf den er deutet. Und die das Abendmahl zu seiner Erinnerung feiern, wissen, dass er wenig später von der römischen Staatsmacht gekreuzigt wurde. Soma kann darüber hinaus aber auch den Leib des Auferstandenen meinen, der im Abendmahl – über seinen Tod hinaus – gegenwärtig ist. Und drittens bezeichnet soma die Gemeinschaft derer, die mit Jesus Brot und Wein teilen. Sie sind das soma Christou (1. Korinther 12,27; Römer 12,4f), der Leib Christi, in der Gemeinschaft gegenwärtiger Körper.

Sakramentale Durchlässigkeit

Somit muss man sich die Szene so vorstellen: Jesus zeigt nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf die Anwesenden: So ist mein Leib. So gehören auch die Körper der Menschen, die zusammen essen, zu den Dimensionen des Brotwortes (vergleiche 1. Korinther 10,16f). Andrea Bieler und Luise Schottroff sprechen deshalb von der „sakramentalen Durchlässigkeit“ des Abendmahls.

Wenn ich selbst zum Abendmahl gehe, erlebe ich in der versammelten Gemeinde oft eine große Schwere. Die getragene Melodie des „Agnus Dei“ und der Text: „Christe, Du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt…“ verstärken diesen Eindruck. Ist das Abendmahl also ein Geschehen, in dem es vor allem um die Sünde geht? Feiern wir, dass Jesus für unsere Sünden gestorben, sein Blut „für mich“ vergossen worden ist? Manche meiden Abendmahlsgottesdienste, weil ihnen diese Vorstellung fremd ist und sie bedrückt.

„Trinkt alle daraus, denn so ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für die Vielen vergossen wird zur Vergebung der Sünden“, lautet das Becherwort im Matthäusevangelium. Und hier kommen verschiedene jüdische Traditionen zusammen. Angespielt wird auf 2. Mose 24,8, wo der Bund am Sinai durch Stierblut besiegelt wird. Und Lukas 22,22 und 1. Korinther 11,25 beziehen sich explizit auf den neuen Bund nach Jeremia 31,31–34. Hier wird die Vision beschrieben, dass Gott den Menschen die Tora ins Herz legt, so dass Gotteswille und Menschenwille identisch werden. „Neu“ meint deshalb nicht die Ablösung des „alten“ Bundes mit Israel. Denn Inhalt und Adressatinnen bleiben dieselben. „Neu“ beschreibt vielmehr eine Verheißung: Der Messias Jesus setzt die Tora in Kraft. Sie will die Menschen ermutigen, nach Gottes Weisung zu leben und zeigt den Weg ins Leben.

Auch in der Rede vom „Blut, das für die Vielen vergossen wird“, die Jesu Tod deutet, steckt eine lebensbejahende Botschaft. Sie ist nur schwer zu verstehen, weil sie auf Vorstellungen jüdischer Martyriumstheologie gründet, die sich uns heute nicht sofort erschließen. Sie gehören in den politischen Kontext der Geschichte Israels, das über Jahrhunderte verschiedenen Großmächten ausgeliefert war.

Durch die Hebräische Bibel und die nachbiblische jüdische Tradition zieht sich die Deutung, dass die Macht der Feinde Ausdruck der Sünde des Volkes ist, seiner Abkehr von Gott (vergleiche Jesaja 63, 17–19). „Sünde“ meint hier in erster Linie nicht individuelle Schuld, sondern Strukturen der Schuldverstrickung. Nach Gottes Willen, nach seinem Gesetz leben wollten zwar alle, die in der jüdischen Tradition zu Hause waren. Aber die alltägliche Not ließ dafür oft keinen Raum. So erschien ihnen ihr Leben eingebunden in ein System der Gewalt, das sie dazu brachte, an dem Zerstörungswerk mitzumachen und sich immer weiter von Gott zu entfernen.

Der Tod der Märtyrer und Märtyrerinnen verändert die Situation des Volkes. Die Tyrannen haben keine Macht mehr (vergleiche 2. Makkabäer 7). Der Tod der Hingerichteten ist der Beginn des neuen Lebens, das Gott schenkt, des neuen Lebens für das Volk. Es ist nicht ganz einfach nachzuvollziehen, dass die Martyriumstheologie keine Theologie des Todes ist und dem gewaltsamen Tod eine Heilsbedeutung zuschreibt. Sie verherrlicht das Martyrium auch nicht. Ihr ist es vielmehr wichtig, dass nicht die Gewalt das letzte Wort behält, sondern Gottes Parteinahme für die Getöteten. Es geht ihr um Gerechtigkeit für „die Vielen“, nicht um die Erlösung von einer individuellen Schuldbelastung („für mich gestorben“). Martyriumstheologie nennt das Unrecht der Folterer und Mörder beim Namen und verkündet das Ende der Gewalt und der Verstrickungen in das Unrecht. Sie ist eine Theologie des Widerstands gegen den Tod und damit eine Theologie der Auferstehung.

Die Auferstehung wird ausgedrückt in den Deuteworten Jesu, beziehungsweise derjenigen, die diese Worte formuliert haben und seinen Tod damit nachträglich deuten. Dem Volk kommen zu Gute sein Körper, sein Blut, und damit ist nicht nur der Tod Jesu gemeint, sondern sein ganzes Leben. Diejenigen, die das Brot essen und den Wein trinken, werden ein Leib mit dem Gekreuzigten und dem Auferstandenen. Sie werden zum Körper des Messias, zu einem kollektiven Hoffnungskörper. Die Herrschenden konnten Jesus töten, aber der messianische Leib lebt durch die Körper der Menschen, die miteinander Brot und Wein teilen. Darum ist das Abendmahl eine Feier der Auferstehung Christi – und der Auferstehung der Menschen, die auf Gottes gerechte Welt hoffen.

Obwohl ich diese Hintergründe kenne, fällt es mir oft schwer, in den Worten „sein Blut für dich vergossen“ die lebensbejahende und ermutigende Zusage zu hören und zu spüren. So wähle ich andere Segensworte, wenn ich selbst das Abendmahl austeile.

Die gängige Vorstellung, dass nur zwölf Männer beim letzten Abendmahl anwesend waren, ist maßgeblich durch das Gemälde von Leonardo da Vinci geprägt worden. Die Evangelien erzählen, Jesus habe sich mit den „Zwölf“ zu Tisch gelegt (Matthäus 26,20; Markus 14,17) oder mit den „Aposteln“ (Lukas 22,14). Das Wort „Zwölf“ wird missverstanden, wenn es exklusiv verstanden wird und wir uns vorstellen, dass es tatsächlich nur zwölf Personen, gar nur zwölf konkrete Männer umfasst. Die Listen mit den Namen der „Zwölf“ weichen alle voneinander ab.

Die „Zwölf“ repräsentieren die zwölf Stämme Israels. Die gab es zur Zeit des Neuen Testaments zwar nicht mehr. Aber die Hoffnung war lebendig, dass Gott das zerstreute Volk heimholen wird und alle Völker miteinander in Frieden leben. Darum nannte Jesus die Jüngerschaft die „Zwölf“. Sie repräsentieren Männer, Frauen und Kinder, die Toten und die Lebenden, alle – auch die Vergessenen. In die Tischgemeinschaft beim Abendmahl sind alle eingeladen. Die Gemeinschaft, die an die Gegenwart des Auferstandenen glaubt, ist der Hoffnungskörper des Messias.

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Claudia Janssen

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Foto: Sandra Schildwächter

Claudia Janssen

Dr. Claudia Janssen ist seit 2016 Professorin für Neues Testament und Theologische Geschlechterforschung an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Zuvor hat die 55-Jährige unter anderem als Studienleiterin im Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie und als theologische Referentin der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland gearbeitet.  Seit 2011 lehrte sie als apl. Professorin an der Universität Marburg.


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