Experten der Mangelwirtschaft

Gespräch mit der Soziologin Antje Bednarek-Gilland über Fähigkeiten von Langzeitarbeitslosen
Foto: privat
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Die Wirtschaft brummt, die Konjunktur ist stabil. Trotzdem ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen seit 2010 nicht gesunken. Mit ihrer Situation hat sich Antje Bednarek-Gilland in einer Studie für das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD beschäftigt.

zeitzeichen: Frau Dr. Bednarek-Gilland, die Zahl der Langzeitarbeitslosen liegt bei einer Million Menschen. Mit Ihrer Studie wollen Sie einen Perspektivwechsel wagen. Statt nach Defiziten fragen Sie nach den Fähigkeiten dieser Menschen. Warum?

Antje Bednarek-Gilland: Wir wissen, wie unser Sozialstaat aufgebaut ist und welche sozialpolitischen Maßnahmen vorliegen. Die hohe Zahl von Langzeitarbeitslosen verändert sich einfach nicht, trotz der Sozialreformen. Warum diese nicht greifen und die Vermittlungsquote so gering ist, wissen wir nicht. Deshalb wollten wir vom Sozialwissenschaftlichen Institut herausfinden, wie Langzeitarbeitslose ihren Alltag bewältigen und welche Fähigkeiten sie dafür entwickeln. Das haben wir in Interviews abgefragt. Diese Fertigkeiten werden oft übersehen, weil der Fokus auf den beruflichen Qualifikationen liegt.

Was fällt auf bei der Betrachtung von Lebensgeschichten?

Antje Bednarek-Gilland: Zuallererst ist mir aufgefallen, dass mit Freude vom eigenen Leben erzählt worden ist. Das hatte ich nicht erwartet. Natürlich haben wir auch über Leid gesprochen, gerade auf den unterschiedlichen Wegen in die Langzeitarbeitslosigkeit. Letztlich tauchen das persönliche Leid und die biografisch verketteten Umstände nicht in der Statistik auf. Das hat diese Studie sehr interessant gemacht.

Wenn Sie diese individuellen Erfahrungen betrachten, die in die Langzeitarbeitslosigkeit geführt haben: Gibt es Unterschiede zwischen Ost und West?

Antje Bednarek-Gilland: Alle Lebensgeschichten der Forschungsteilnehmer aus Ostdeutschland unterscheiden sich eklatant dadurch, dass sie durch den Wechsel des politischen Systems einen ganz schweren Abbruch in der Erwerbsbiografie erlitten haben. Keiner hat seine Arbeit behalten. Damit einhergegangen ist die systematische Entwertung der Lebenserfahrung in Ostdeutschland. Diese Forschungsteilnehmer haben zwei große Schlappen erlitten. Schließlich haben sie nicht nur ihre Arbeit verloren, sondern zum größten Teil auch ihre Berufsabschlüsse.

Lassen sich Muster in der alltäglichen Lebensführung erkennen?

Antje Bednarek-Gilland: Es gehört viel Mühe dazu, die Tagesstruktur aufrechtzuerhalten. Die Langzeitarbeitslosen müssen mit wenig Geld auskommen, Lebensmittel und Kleidungsstücke beim Discounter, in Tafelläden oder Sozialkaufhäusern besorgen. Dieses mühsam geschaffene Gleichgewicht wird immer wieder von schweren Krisen gestört. Das prägt alle Lebensgeschichten.

Warum sind Langzeitarbeitslose so anfällig für Krisen?

Antje Bednarek-Gilland: Zum Teil haben sie schlimme Ablehnungs- und Ausgrenzungserfahrungen erlitten. Aus Angst wieder beschämt zu werden, sind sie zurückhaltend im Umgang mit Menschen. Eine weitere Ursache sind Insolvenzverfahren. Wenn arme Menschen krank werden, tappen sie rasch in die Schuldenfalle. Da sie keine Rücklagen haben, gelingt es nie zu sparen. Für einen Langzeitarbeitslosen steht sofort die Existenz in Frage.

Sie haben sich neben der alltäglichen Lebensführung auch mit den Fähigkeiten von Langzeitarbeitslosen beschäftigt. Welche sind das?

Antje Bednarek-Gilland: Zum allerersten entwickeln die Betroffenen die Fähigkeit, mit den Mängeln umzugehen. Sie entfalten interessante Strategien, wie man sich zum Beispiel billige Lebensmittel organisiert, wie man sein Einkommen erhöht, zum Beispiel über Schwarzarbeit. Oder auch wie man sich zivilgesellschaftlich engagiert. Ich war überrascht zu sehen, wie häufig Nachbarschaftshilfe ausgeübt wird. Eine ganz wichtige Fähigkeit ist, Dinge auf Dauer zu stellen, die im Leben in der Langzeitarbeitslosigkeit nicht auf Dauer sind, wie zum Beispiel seine Wohnung zu behalten.

Warum ist es so schwer für Langzeitarbeitslose, in die Arbeitswelt zu finden?

Antje Bednarek-Gilland: Es gibt in keiner Region in Deutschland ausreichend Arbeitsplätze für Menschen mit geringen Qualifikationen. Jemand, der heute lange Zeit arbeitslos ist, hat wenig von der technologischen Wende mitbekommen. Hinzu kommt häufig, dass Arbeitslose Angehörige pflegen, während der Partner erwerbstätig ist. Und es kann während der Dauer der Arbeitslosigkeit zu einer Umorientierung der Werte kommen. Die meisten haben schon unter den Bedingungen der so genannten Zeitarbeit gelitten und wollen nun nicht mehr um jeden Preis arbeiten. Sie helfen anderen oder arbeiten in einem Sozialunternehmen, das gibt dem Alltag Struktur. Doch auch hier fehlen die Arbeitsplätze.

Welche Handlungsoptionen ergeben sich für die Bundesagentur für Arbeit aus den Ergebnissen Ihrer Studie?

Antje Bednarek-Gilland: Zum einen sollten alle Jobcentermitarbeiter die Methode der Kompetenzanalyse erlernen und diese auch in ihrem Berufsalltag umsetzen. Für die Langzeitarbeitslosen selbst wären längerfristige Beschäftigungsprogramme sinnvoll. Doch für sie stehen sehr wenig Mittel zur Verfügung, es sei denn sie sind unter 25 Jahre alt.

Ihre Studie will zum Verständnis beitragen, wie Menschen in diese Situation kommen. Welche Möglichkeit hat der Einzelne, Langzeitarbeitslose zu unterstützen?

Antje Bednarek-Gilland: Kirchengemeinden bieten Möglichkeiten der Zusammenkunft. Gerade in Regionen, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist und trotzdem eine aktive Gemeindearbeit besteht, lässt sich das beobachten. Wichtig ist eine offene und vorurteilsfreie Haltung. Denn Langzeitarbeitslose fühlen sich in ihrer eigenen Wahrnehmung aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen.

Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 20. Januar.

Antje Bednarek-Gilland

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