Typisch evangelisch

Über den Posaunenchor
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So typisch evangelisch Posaunenchöre auch sind: Gerade an ihnen lassen sich die Klischees und Stereotypen vom Evangelischsein hinterfragen.

Es gibt wohl weniges, das so typisch evangelisch ist, wie ein Posaunenchor. Entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts, zählt die kirchliche Statistik heute 6?200 Chöre mit rund 95?000 Mitgliedern. Damit unterhält beinahe jede zweite Kirchengemeinde eine solche Bläsergruppe, der im Schnitt zehn bis zwanzig Personen angehören. Interessanterweise findet man sie dagegen im katholischen Raum oder international fast gar nicht. Doch so typisch evangelisch Posaunenchöre auch sind: Es ist die Pointe dieses Buches, dass sich gerade an ihnen die Klischees und Stereotypen vom Evangelischsein hinterfragen lassen.

Da wäre etwa die These von der Individualität und Innerlichkeit, die die Religionssoziologen der Moderne zum Hauptmerkmal des Protestantismus erhoben. Ihr setzt Julia Koll im Blick auf die Posaunenchöre das Bild einer dezidiert sozialen Form von Religion entgegen. Auf der anderen Seite steht die These von der evangelischen Wortlastigkeit, die seit der Reformation ebenfalls das Bild vom Protestantismus geprägt hat. Dies möchte Koll korrigieren, indem sie die Bedeutung von Praktiken hervorhebt, also von gemeinsam geteilten, eingeübten und verstetigten Handlungsabläufen.

Entsprechend ist es das Konzept „sozialer Praktiken“, das Koll – derzeit Studienleiterin an der Evangelischen Akademie in Loccum – zum Leitfaden ihrer Habilitationsschrift macht. Inhaltlich besteht sie aus zwei Teilen: Erstens baut sie auf der norddeutschen Posaunenchorbefragung aus dem Jahr 2012 auf, deren empirisches Material hier gekonnt analysiert und aufbereitet wird. Schon darin ist das Buch eine Fundgrube kirchenmusikalischer Einsichten und eine praktisch-theologische Pionierleistung.

Anschließend werden diese Ergebnisse in drei Theorieperspektiven gerückt: Religion, Musik und Kirche. Im Hinblick auf Religion tritt Koll, wie erwähnt, für eine soziale Erweiterung des üblicherweise individuell gefärbten Religionsbegriffs ein. Im Gespräch mit der Musikwissenschaft plädiert sie für eine Öffnung der Musiktheorie für die religiösen Dimensionen gemeinsamen Musizierens – auch jenseits von Vokalmusik. Und schließlich tritt sie dafür ein, den Posaunenchören auch in der Kirchentheorie denjenigen Stellenwert einzuräumen, der ihnen in der kirchlichen Praxis längst zukommt.

Denn auch das zeigt die Umfrage unter den Bläserinnen und Bläsern sehr deutlich: Im gemeinsamen Spiel liegt nicht nur die Möglichkeit von religiöser Erfahrung; darüber hinaus stärkt die Zugehörigkeit zu einem Posaunenchor auch die Verbundenheit mit der Kirche. Die Kirche der Zukunft wird daher auch eine Kirche der Gruppen sein, wie Koll am Ende ihrer ambitionierten und gut lesbaren Studie resümiert.

Deren Stärke macht sie in ihrem besonderem „Sachbezug“ aus, hier dem gemeinsamen Musizieren. Er erlaubt es, Menschen aus ganz unterschiedlichen Altersgruppen und Lebenslagen auch persönlich zu verbinden. Darüber ist er aber auch für das Religiöse von Bedeutung: Die gemeinsame Sache wird gleichsam zum Medium, in dem sich religiöses Erleben zwanglos, bisweilen auch probeweise ereignen kann. Im Medium der Musik ist man ganz dabei, ohne sich als religiös exponieren zu müssen. Eben doch typisch evangelisch, könnte man sagen.

Tobias Braune-Krickau

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