Kurzweilig

Über Schuld
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Eine kurzweilige und allgemein verständliche Darstellung von Ergebnissen aus Hirnforschung und Psychologie zum Thema Schuld.

Ist ein Mensch verantwortlich für seine Entscheidungen? Kann sie oder er anders entscheiden, als es in den Genen bereit liegt? Sind Menschen frei, Entscheidungen zu treffen oder sind diese im Gehirn programmiert? Philosophie und Theologie haben diese Fragen früher zu beantworten versucht, heute eher Psychologie und Hirnforschung. Vor Gericht und im täglichen Leben findet sie oft eine konkrete Antwort. Wenn alles gut geht, haben wir frei entschieden, wenn nicht, sind die anderen schuld oder eben das Schicksal.

In Scheeles Buch geht es um mehr als um die Bebilderung des Themas Schuld mit dem eigenen Leben und seinen Erfahrungen. Da geht es um private und berufliche Verantwortung, Rechenschaft und deren Konsequenz. Als evangelischer Theologe lese ich in dem Buch seitenweise davon, was die protestantische Sündenlehre eigentlich meint, wenn sie davon spricht, dass Menschen „allzumal Sünder“ seien – alle, nicht nur die anderen. Das hat allerdings mit der von Scheele kritisierten Erbsündenlehre der Katholiken nur wenig zu tun.

Doch ist ein gnädiger Umgang das Ziel der Justiz und ihrer Organe? Sie bestrafen Verantwortliche und das mit unerbittlicher Hoheit, großem Ernst und oft schweren Folgen für deren weiteres Leben. Für viele Menschen, insbesondere in der Politik, scheint der Rechtsstaat fast so von Unfehlbarkeit umweht wie der Papst in Rom. Dieser Rechtsstaat setzt seine Strafmaße auf der Basis der Schuldfeststellung im Verfahren fest. Dass Schuld nicht ohne weiteres, vielleicht aber überhaupt nicht feststellbar ist, davon sucht Michael Scheele seine Leser zu überzeugen.

Dazu nimmt er sie mit auf die Reise durch die Forschungsergebnisse von Hirnforschern, Psychologen und Humangenetikern und durch die eigene Lebensgeschichte: Der erste Eindruck bleibt entscheidend. Meinungen werden gefestigt anstatt sie zu überdenken. Gefühle und Erwartungen machen aus dem Gedächtnis eine Angelegenheit der Illusionen, die Zeugenaussagen generell unzuverlässig werden lassen. Traumata können sogar genetischen Einfluss auf Folgegenerationen und ihre Wahrnehmungen ausbilden. Soziale Zugehörigkeiten gestalten Wahrnehmungen und Stereotypen. Religionen bilden ganze Ensembles davon. Schuldzuweisungen folgen aus Motiven, die wir alle nur zu gut kennen: Eifersucht, Habgier, Neid, Vorurteile und allerhand andere Stereotypen. Da klingen fast die sieben Todsünden der katholischen Tradition an. Einen Schuldigen zu finden, beruht allzu oft auf Eigeninteresse, nämlich auf der Selbstrechtfertigung und „befreit die Psyche“. Dazu ist unser Gehirn in seiner Funktionsweise gut ausgerüstet. Es denkt in einmal gefundenen Schablonen – gutmeinend gesagt, es denkt bildhaft – und in der Logik der eigenen Bedürfnisse. Vieles, was als Begründung daherkommt, ist in Wirklichkeit eine Rechtfertigung für das eigene Handeln. Aber so ganz ohne eigenen Einfluss auf seine Entscheidungen ist das menschliche Gehirn auch nach Meinung der Hirnforschung nicht.

Angesichts dieser Sachlage folgert Michael Scheele, dass es keine gerechten Urteile gibt, die alle Determinanten berücksichtigen. Er sieht die Lösung in der Umgestaltung der Justiz zur „Restorative Justice“ oder deutsch zur heilenden Gerechtigkeit, bei der es nicht um Schuld, sondern um Verantwortung geht. Zumindest aber sollte die mit dem Stichwort „Resozialisierung“ beschriebene Richtung des Strafvollzuges in Deutschland endlich angepackt werden, statt Worthülse zu bleiben.

Die kurzweilige und allgemein verständliche Darstellung von Ergebnissen aus Hirnforschung und Psychologie – verknüpft mit eigener Erfahrung – legt dem Leser und der Leserin größte Sorgfalt in der Schuldfeststellung im Alltag und vor Gericht nahe. Davon kann man nicht genug lesen und es dann befolgen.

Martin Hagenmaier

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