Bemerkenswert

Über die ländliche Peripherie
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Die Geschichte aber, die Kötter erzählt, ist die Geschichte eines Aufbruchs, in dem die Probleme der Region zu Chancen der Gemeindeentwicklung werden.

Es gehört zum Wandel unserer Kirchen und Gemeinden, dass es offenbar die eine Antwort auf alle Fragen nicht gibt. Zu vielschichtig sind die Ursachen, zu plural das kirchliche Leben, zu unterschiedlich die Situationen vor Ort. Auch die Theologie hält sich auffällig zurück. Was heute unter dem Stichwort „Kirchentheorie“ veröffentlicht wird, ist zumeist komplex in der Bestandsaufnahme und bescheiden in Prognosen und Visionen.

Vielleicht auch darum haben momentan kleinere Formate Konjunktur: praktische Beispiele und Modelle von gelingender Kirchlichkeit. Vielleicht lassen sie sich nur begrenzt verallgemeinern, doch entsprechen sie darin ziemlich genau einer Kirche im Übergang, für die es Lösungswege derzeit nur im Plural gibt.

Ein solches Modell beschreibt Ralf Kötter, promovierter Reformationsgeschichtler und Pfarrer der Lukas-Kirchengemeinde im südwestfälischen Eder- und Elsofftal. „Ländliche Peripherie“ nennt der Autor diese Region selbst. Und gleich zu Beginn stößt man auf das Register ihrer typischen Schwierigkeiten: vom Wegzug der Jugend über schwindende Infrastruktur bis zum Schließen des örtlichen Supermarkts.

Die Geschichte aber, die Kötter erzählt, ist die Geschichte eines Aufbruchs, in dem die Probleme der Region zu Chancen der Gemeindeentwicklung werden. Wenn der öffentliche Nahverkehr abgebaut wird, richtet man eben unter dem Dach der Kirchengemeinde einen ehrenamtlichen Busverkehr ein. Wenn der Mangel an Kinderbetreuung den Familien das Leben erschwert, startet man hierfür eine gemeindliche Initiative. Die Grenzen zwischen drinnen und draußen verschwimmen – und genau das ist gewollt. Ein Pfarrer müsse heute „Sozialmanager“ sein, schreibt Kötter. Dass er dafür ein besonderes Talent hat, zeigt sein Buch in überaus eindrücklicher Weise.

Ein ganzes Netzwerk an Kooperationspartnern, vom Diakonischen Werk über das örtliche Schulzentrum bis zu mittelständischen Unternehmen, hat sich um die gemeinwesenorientierte Lukaskirche gesammelt. Sie ist zu einem Zentrum des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens geworden. Sechsstellige Summen werden in ihren Projekten mittlerweile bewegt. Über zweihundert Ehrenamtliche bringen sich regelmäßig ein, sogar die Taufzahlen steigen an.

Es ist ein vielversprechendes, aber auch höchst anspruchsvolles Programm, das Kötter seinen Pfarrkollegen empfiehlt. Es verlangt Kompetenzen, die nicht jedem in die Wiege gelegt sind und auf die Studium und Vikariat nur unzureichend vorbereiten. Es ist zudem ein Programm, bei dem zwangsläufig anderes auf der Strecke bleibt. Die „Befriedigung volkskirchlicher Sekundärinteressen“, wie Kötter sich ausdrückt, verweigert er sich mit großem Nachdruck: Wer so arbeite, könne schlichtweg nicht mehr auf jedem runden Geburtstag und jedem Dorffest präsent sein.

„Leidenschaftliche Kirche in der Mitte der Gesellschaft“ nennt der Autor diesen Ansatz, und sein theologischer Schlüsselbegriff ist die Inkarnation. Denn aufs Ganze gesehen, will Kötters Buch mehr sein als ein bescheidenes ‚Modell gelingender Kirchlichkeit‘. Es gibt Auskunft über den Sinn und die Zukunft von Kirche überhaupt. Leider greift es dabei zumeist drei, vier Etagen zu hoch: Oder braucht es wirklich die Inkarnation, um zu begründen, dass die Probleme des Umfeldes auf die Tagesordnung der Gemeinde gehören? Braucht es gleich einen Märtyrer wie Dietrich Bonhoeffer, der über Kirchengrenzen hinweg gegen Hitler paktiert, um zu begründen, dass heutige Gemeinden mit anderen zum Wohle des Gemeinwesens handeln sollen?

So verbarrikadieren die schweren theologischen Geschütze zuweilen den Charme von Aufbruch und Experiment, von dem dieses Buch eigentlich handelt: Was Kötter aus seiner Praxis beschreibt, ist so bemerkenswert, eine bescheidenere Begründung nähme dem nichts von seiner Inspirationskraft.

Tobias Braune-Krickau

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