Zwölf Jahreszeiten

Transformation mit Bratsche
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Der Bratschist David Aaron Carpenter ist eine Nuss, die die Spötter nicht knacken werden. Sein Vivaldi hat Momente, die so intensiv und anrührend sind, wie sie mit der Geige nie erreichbar wären.

Mal wieder Vivaldi. Natürlich die Jahreszeiten. Für einen jungen Geiger führt kein Weg daran vorbei, ist der erste Gedanke. Das berühmte Allegro des Frühlings ziemlich forsch. Aber doch ohne das Glitzern großer Vorbilder wie bei Menuhin oder Mutter, so der spontane Eindruck. Doch halt, etwas stimmt hier nicht, der Vergleich hinkt. Weil hier gar keine Geigerin und kein Geiger am Werke ist. Sondern ein Bratschist!

Puh, wie soll das denn werden: Die Viola, Opfer unzähliger Musikerwitze. David Aaron Carpenter, ein 30-jähriger Bratschist aus New York, ist allerdings eine Nuss, die die Spötter nicht knacken werden. Sein Vivaldi kommt in den schnellen Sätzen naturgemäß nicht so eloquent wie gewohnt herüber. Dafür hat er Momente, die so intensiv und anrührend sind, wie sie mit der Geige nie erreichbar wären.

Nun könnte dieses Rezept, barocke Geigenkonzerte auf die Viola zu übertragen, sicher formatfüllend für eine ganze CD sein. Carpenter und das Salomé Chamber Orchestra, ebenfalls aus New York, kommen auf „12 Seasons“, indem sie noch zwei weitere Zyklen der Jahreszeiten hinzugenommen haben. Die Four Seasons of Buenos Aires von Astor Piazolla. Und die Four Seasons of Manhattan ihres Haus- und Hofkomponisten Alexey Shor. Shor, Jahrgang 1970, zeichnet ein überraschend melancholisches Bild seiner Heimatstadt - und zitiert dabei genüsslich klassisch-barocke Vorbilder. Dass der „Frühling“ aus einer Gegenwartskomposition stammt, muss man schon wissen - zu hören ist es nicht. In den New Yorker Jahreslauf mischt sich bei Shor nichts Disharmonisches oder gar Atonales, was schon verwunderlich ist. Angenehm, aber harmlos.

Was man den Piazolla-Jahreszeiten nun wahrhaftig nicht vorwerfen kann. Sie erleben eine doppelte Transformation. Einmal, als der russische Komponist Leonid Desyatnikov das Bandoneon-Stück für Solovioline und Streichorchester neu arrangierte (und dabei Vivaldi-Bezüge hineinarbeitete). Und nun in der nochmaligen Übertragung auf die Bratsche als Soloinstrument: Vom Klangspektrum liegt die Bratsche näher am Bandoneon als die Geige, und in den Händen von David Aaron Carpenter ist sie das perfekte Medium, um die Leidenschaft des Tango mit all ihrem Leuchten und all ihren Schwärzen in eine klassische Klangwelt zu überführen. Carpenter lässt sein Instrument schwelgen, beben und zigeunerhafte Funken schlagen. Das Salomé Chamber Orchester ist eins damit, gibt sich von einem Moment zum anderen kratzbürstig und gleich wieder voller Zärtlichkeit. So entstehen Dramen voller Schönheit; wissend, dass das Heute nur das Morgen von gestern ist.

Ralf Neite

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