Grenzgängerin zwischen den Welten

Zu Unrecht vergessen: Die Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin Elisabeth Gnauck-Kühne
Elisabeth Gnauck-Kühne durfte als erste Frau vor den Delegierten des Evangelisch-Sozialen Kongresses sprechen. Foto: Ida-Seele-Archiv
Elisabeth Gnauck-Kühne durfte als erste Frau vor den Delegierten des Evangelisch-Sozialen Kongresses sprechen. Foto: Ida-Seele-Archiv
Vor hundert Jahren, am 12. April 1917, starb Elisabeth Gnauck-Kühne. Die Bochumer Kirchengeschichtsprofessorin Ute Gause erinnert an eine literarisch begabte Frau, die die Frauenverbände der evangelischen und römisch-katholischen Kirche förderte und sich für bürgerliche Frauen wie für Arbeiterinnen einsetzte.

Elisabeth Gnauck-Kühne wurde am 2. Januar 1850 in Vechelde bei Braunschweig geboren. Doch sechs Jahre später wurde ihr Vater als Staatsanwalt nach Blankenburg versetzt. Und die Stadt im Harz wurde ihre Heimat.

Mit 14 Jahren wurde sie ins Lehrerinnenseminar in Callnberg aufgenommen, das sie drei Jahre später mit Auszeichnung abschloss. Danach unternahm Elisabeth Kühne einige Jahre Bildungsreisen in Frankreich und England und arbeitete als Erzieherin und Lehrerin in Paris und London. Nach Blankenburg zurückgekehrt, gründete sie mit ihrer Schwester 1875 ein Institut für höhere Töchter, das sie dreizehn Jahre erfolgreich leitete, aber vor ihrer Eheschließung verkaufte. In diese Zeit fielen erste literarische Versuche, es entstanden Gedichte, Balladen und Dramen.

Protestantische Frauenrechtlerin

Die 1888 geschlossene Ehe mit dem Nervenarzt Rudolf Gnauck wurde schon 1890 geschieden. Ihre Biographin Helene Simon schreibt: „Was zwischen den Gatten im einzelnen vorgegangen ist, entzieht sich der Beurteilung. Der mehrmalige Ausspruch: ,Das Laster hat mein Lebensglück zerstört’ kann sich auf Dr. Gnaucks Frivolität beziehen, welche die letzte Brücke zwischen ihm und der keuschen, stolzen Frau zertrümmerte.“

Mehrere Jahre verbrachte Elisabeth Gnauck-Kühne nun in Florenz, Capri und Cannes, bevor sie 1891 in Berlin ein Studium aufnahm, zunächst privat bei dem Nationalökonomen Gustav Schmoller. Ab 1895 durfte sie mit ministerieller Sondergenehmigung Staatswissenschaften und Volkswirtschaftslehre belegen.

1891 war ihre Streitschrift Das Universitätsstudium der Frauen erschienen. Darin forderte sie für Frauen das Recht auf Bildung und Arbeit, nachdem eine entsprechende Petition des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“, dem sie angehörte, abgelehnt worden war. Die Universität bezeichnete sie in ihrer Schrift als „Durchgangsthor zur Citadelle männlicher Vorrechte“ und forderte: „Versorgt die Frauen - oder gebt sie frei!“

1894 gründete Gnauck-Kühne in Berlin die Frauengruppe des Evangelisch-Sozialen Kongresses (ESK), der unter Führung liberaler Protestanten die Lage der Arbeiter verbessern wollte. Die Frauengruppe wollte „im christlichen Geist in die Frauenbewegung eintreten und an der wirtschaftlichen, geistigen und sittlichen Hebung des weiblichen Geschlechts mitwirken“. Gnauck-Kühne sprach 1895 als erste Frau auf dem Evangelisch-Sozialen Kongress. Sie erklärte die Frauenfrage zur Bildungsfrage. Ihr Vortrag zur „sozialen Lage der Frauen“ problematisierte die Situation der Arbeiterfrauen, die unter einem Überfluss an Arbeit und Pflichten leiden würden.

Gleichzeitig thematisierte sie das Elend der ledigen bürgerlichen Frauen, die von einer erfüllenden Berufstätigkeit ausgeschlossen waren: „Diese innere Not der Einsamen werden Sie, meine Herren, nur schwer nachempfinden können; welches persönliche Unglück sie auch trifft, Sie haben ihren Beruf, der Sie trägt und im Gleichgewicht erhält. Wenn Sie aber ein einziges mal nur den Gesundungsprozeß beobachten könnten, der sich in einem kranken Frauengemüte vollzieht, wenn dem Leben ein Zweck gegeben wird, Sie würden mit mir übereinstimmen, daß hier der Punkt ist, wo ein Hebel zur Lösung der Frauenfrage anzusetzen ist. Es gilt, der Frau neue Arbeit, neue Pflichten, neue Berufe als Lebensinhalt zu erschließen, sie muß Ersatz für verlorene Arbeitsgebiete haben, die überschüssigen Kräfte, die verlorenen Pfunde müssen Verwendung finden.“

Ein Jahr zuvor hatte Gnauck-Kühne Erfahrungen in der Arbeitswelt gesammelt, als sie für drei Monate als angelernte Arbeiterin in einer Berliner Kartonfabrik tätig war. Ihre Erfahrungen schilderte sie 1895 in der von dem linksliberalen Pfarrer und Politiker Friedrich Naumann herausgegebenen Zeitschrift Die Hilfe: „Den Fleiß und die Anspruchslosigkeit meiner Kolleginnen kann ich nicht genug anerkennen. Bei zehn- oder elfstündiger hastiger Arbeit und schlechter Nahrung guten Muts sein und noch Verlangen nach geistiger Bereicherung haben, das ist in der That ein Beweis von moralischer Gesundheit, der der deutschen Volksseele Ehre macht.“

Kämpferische Katholikin

1896 wurde Gnauck-Kühne Gewerkschaftsmitglied, und ein Jahr später unterstützten sie und die Frauengruppe des ESK den Streik der Berliner Konfektionsarbeiterinnen. Vorwürfe, sie paktiere mit der religionslosen Sozialdemokratie, wies sie zurück. Sie kannte gegenüber den Ideen der Sozialdemokratie keine Berührungsängste. 1905 veröffentlichte sie ihre Schrift Einführung in die Arbeiterinnenfrage, in denen sie ihre Erfahrungen reflektierte und Forderungen anschloss.

1899 initiierte sie den „Deutschen Evangelischen Frauenbund“. Aber schon ein Jahr später trat sie in der Steiermark beim Redemptoristenpater Augustin Rösler zur römisch-katholischen Kirche über. Denn „seit - sagen wir 35 Jahren bin ich nur intellektuell tätig gewesen, auf Kosten aller anderen Kräfte - glücklich entrinne ich dem entsetzlichen, seelenmordenden Intellektualismus, so sich Protestantismus nennt, glücklich finde ich Religion, ja, Religion, lebendigen Verkehr mit dem dreieinigen Gott - ich lebe auf, die Seele lernt das Atmen wieder, Lebensfreude und Sehnsucht, Gott zu dienen, erwachen (...).“

An der römisch-katholischen Kirche faszinierte sie auch, dass diese der ehelosen, jungfräulichen Frau Vorrang vor der verheirateten einräumte. Sie kritisierte, dass gerade das Luthertum für die Frau nur die Ehe als Lebensentwurf vorsehe. Dabei böten Klöster Frauen einen eigenständigen Lebensentwurf und ein gemeinschaftliches Leben. Offensichtlich hatte sie nach der Konversion einen Klostereintritt geplant; ihrem Wunsch bei den Josephsschwestern in Trier einzutreten, wurde jedoch nicht entsprochen.

Die Konversion hinderte sie jedoch nicht daran, Autoritäten in Frage zu stellen. An dem Artikel über das „Weib“, den Pater Rösler im Freiburger Kirchenlexikon veröffentlicht hatte, übte sie scharfe Kritik: „Und bitte: Welchem Mann ist das Weib ,sozial untergeordnet’, weil es Weib ist? Glauben Sie im Ernste, daß ich sozial Ihren Ackerknechten untergeordnet bin?[...] Und in dem vertierten Trunkenbolde am Wegrande hat Frau Gnauck den ihr sozial übergeordneten Mann ! zu sehen. (Ich denke nicht dran.) Nein, Hochwürden, so steht’s nicht.“

In der katholischen Kölner Volkszeitung trugen Gnauck-Kühne und Rösler eine erbitterte Auseinandersetzung über wahre und falsche Frauenemanzipation, Einordnung und Unterordnung aus.

Engagierte Volkswirtschaftlerin

Nach ihrer Konversion kritisierte sie auch die römisch-katholische Kirche: „Es mag sehr untheologisch sein, aber ich glaube, wir werden große Überraschungen am jüngsten Tage erleben! Wie mancher aufgeblasene ,Christ’ mag unter einem verachteten Juden oder Heiden gestellt werden. Jedenfalls wird Gott an uns Katholiken die größten Forderungen stellen.“

1903 unterstützte Gnauck-Kühne die Gründung des „Katholischen Deutschen Frauenbundes“ und bestimmte dessen soziales Programm mit. Ihr eigentliches Hauptwerk Die deutsche Frau um die Jahrhundertwende, in dem sie ihre Statistikkenntnisse zur Analyse der Frauenwirklichkeit im Kaiserreich verwendete, erschien 1904. Und das Lehrbuch über Das soziale Gemeinschaftsleben im Deutschen Reich, erstmals 1909 erschienen, erlebte zahlreiche Neuauflagen. Hier forderte sie die Gleichberechtigung der Frau als Staatsbürgerin. In einer Neuauflage 1914 musste sie aber ernüchtert feststellen: „daß ein männlicher Bewohner der deutschen Kolonien, der ,die deutsche Staatsangehörigkeit erwirbt und ein Jahr lang, sich im Deutschen Reichsgebiet aufhält, wahlberechtigt und wählbar sein würde, während ein weiblicher Doktor der Staatswissenschaft oder der Rechte dieses Recht nicht genießt.“

Während des Ersten Weltkrieges widmete sich Gnauck-Kühne vor allem der Verwundeten- und Hinterbliebenenfürsorge. Am 12. April 1917 starb sie in Blankenburg an den Folgen einer Lungenentzündung. Eine Grabrede hatte sie sich verbeten. Als Spruch für ihren Grabstein wählte sie einen Vers aus dem Philipperbrief: „Sterben ist mein Gewinn.“ Zeit ihres Lebens war sie eine Grenzgängerin: zwischen Protestantismus und Katholizismus, Wissenschaftlichkeit und Schöngeistigkeit, mit den verschiedenen Lebensentwürfen der Lehrerin, Studentin, Ehefrau, Arbeiterin, Gewerkschaftlerin, Sozialpolitikerin, Schriftstellerin und nicht zuletzt als gläubiger Mensch, der lebendige Frömmigkeit und Gemeinschaft suchte.

Literatur

Ursula Baumann: Protestantismus und Frauenemanzipation in Deutschland 1850 bis 1920. Frankfurt/New York 1992.

Elisabeth Prégardier, Irmingard Böhm: Elisabeth Gnauck-Kühne (1850-1917). Zur sozialen Lage der Frau um die Jahrhundertwende, Annweiler 1997.

Ute Gause

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