Pionierarbeit

Im falschen Körper leben
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Transsexualität war auch in der Antike und in indigenen Kulturen kein unbekanntes Phänomen.

Wie soll man Menschen bezeichnen, die in einem Körper leben, der dem angeborenen Geschlechtsempfinden entgegengesetzt ist? Bei der in diesem Sammelband dokumentierten Frankfurter Tagung, die erstmals umfassend Geistes- und Naturwissenschaften zum Thema Transsexualität zusammenbrachte, fand eine Theologin und Seelsorgerin die radikalste Sprachlösung. Ilka Wieberneit bezeichnet Personen, die sich einer operativen Geschlechtsangleichung unterziehen, als „trans* Pat“ (von Patient) und umgeht so alle geschlechtsspezifischen Endungen. Aber Sprache übt Macht aus, und so drückt die scheinbar analoge Kurzform „Psy*“ in dem Netzwerkbericht von Eltern transsexueller Kinder deutliche Kritik an den Berufsgruppen aus, die sich an Therapie oder Begutachtung der psychischen Krankheit beteiligen, als die Transsexualität vom medizinischen Diagnoseverzeichnis ICD-10 immer noch eingestuft wird.

Die deutschsprachige Theologie ist für solche Fragen spätestens seit der „Bibel in gerechter Sprache“ sensibilisiert. In ihr wird der Kämmerer aus Äthiopien als „Eunuch“ bezeichnet. Damit Philippus ihn aber als solchen erkennen konnte, muss der Kämmerer, so Joan Roughgarden, als Frau in Erscheinung getreten sein, so dass „Eunuch“ hier eigentlich „transsexuelle Frau“ bedeutet - eine Hypothese, der das Jesuslogion über Eunuchen von Geburt zur Seite steht. Dass Transsexualität in der Antike und in indigenen Kulturen kein unbekanntes Phänomen war, belegt ein eigener kulturwissenschaftlicher Teil des Bandes für verschiedene Erdteile.

Es sind solche Entdeckungen, die das Thema Transsexualität für die Theologie interessant machen. An sich gehört hier das Feld den Neurowissenschaften, seit der Nachweis gelang, dass das Geschlecht nicht in eine biologische Körperbeschaffenheit (Sex) und eine soziale Rolle (Gender) eingeteilt werden kann, sondern beide Faktoren bereits pränatal bestimmt werden, jedoch zu unterschiedlichen Zeiten: In der sechsten bis zwölften Woche bildet sich das genitale Geschlecht. Das hirnphysiologische Geschlecht, von dem später subjektives Geschlechtsempfinden und Rollenverhalten determiniert sind, bildet sich erst ab Mitte der Schwangerschaft (brain sex) und kann vom "genital sex" abweichen, wie es bei Transsexuellen der Fall ist.

Die Theologie muss diese Erkenntnisse, die quer zu katholischer wie evangelischer Sexual- und Eheethik stehen, erst einmal hinnehmen. Dass führende theologische Vertreter des Nationalen Ethikrates am vorliegenden Band nur mit (starken) Beiträgen zu den Themen Ehe (Eberhard Schockenhoff) und Homosexualität (Peter Dabrock) beteiligt sind, zeigt den Nachholbedarf. Die Theologie reagiert teils mit metaethischen Reflexionen oder Reflexen, die die These vom "brain sex" als Neuauflage der deterministischen Kritik am freien Willen der Person wahrnehmen.

Hilfreicher scheint aber Dirk Evers, der "brain sex" durch den Hinweis auf die Erste-Person-Perspektive transsexueller Menschen ergänzt und nicht ersetzt, die kein neurowissenschaftlicher Zugang erreicht. So erst kommt das Bewusstsein vieler Transsexueller in den Blick, unter dem Leben im falschen Körper zu leiden - auch wenn Transsexualität keine Krankheit ist und deshalb weder Psychotherapie noch psychiatrische Begutachtung braucht, sondern eine Novelle des Transsexuellen-Gesetzes, die Hilfen zum Leben im empfundenen Geschlecht auch ohne die große Lösung der geschlechtsangleichenden Operation bietet. Die Erste-Person-Perspektive Transsexueller zu hören, scheint mir wichtiger als die im Band erhobene Forderung nach theoretischer Überwindung des Geschlechterdualismus. Denn das zurückliegende Leben im alten Geschlecht bleibt für viele Transsexuelle im neuen Leben ein wichtiger Teil der eigenen Geschichte. Dem Herausgeber gebührt Anerkennung für eine echte Pioniertat.

Henning Theißen

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