Schatten der Diktatur

Chiles Lutheraner tun sich schwer mit ihrer Wiedervereinigung
In Frutillar begann - und spaltete sich die lutherische Kirche in Chile. Foto: dpa/ Udo Bernhart
In Frutillar begann - und spaltete sich die lutherische Kirche in Chile. Foto: dpa/ Udo Bernhart
Politische, aber auch ethnisch-kulturelle Differenzen führten vor 42 Jahren zur Spaltung der evangelisch-lutherischen Kirche Chiles. Die Hintergründe und die Schwierigkeiten, die die Annäherung von konservativen und liberalen Lutheranern behindern, schildert der Theologe Daniel Lenski. Er ist im Konfessionskundlichen Institut Bensheim Referent für die Weltökumene.

Obwohl in Chile nicht mehr als 5.000 Lutheraner leben, gibt es dort seit 1975 zwei Kirchen, die sich in der Tradition des Wittenberger Reformators sehen. Jahrzehnte nach der Kirchenspaltung und 27 Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur sind die Kirchen von einer Wiedervereinigung noch immer weit entfernt.

Wer die geschwungene Straße nach Frutillar hinabfährt, fühlt sich schnell wie in einem deutschen Heimatfilm: Rotbäckige Gartenzwerge grüßen in den Vorgärten, die Holzhäuser erinnern an den Schwarzwald, und neben der weiß glänzenden Holzkirche wird „Kuchen“ verkauft, der sogar auf Spanisch diesen Namen trägt. Von dort aus blickt man über den Strand direkt auf den Vulkan Osorno, der mit seiner weißen Krone einem Zuckerhut ähnelt.

In diesem malerischen Ort am See Llanquihue liegen die Ursprünge der evangelisch-lutherischen Kirche Chiles. Es waren deutsche Siedler, die in dem langgezogenen Land an der Pazifikküste die ersten protestantischen Gemeinden aufbauten. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte wirtschaftliche Not die Landwirte und Handwerker zur Auswanderung bewegt. In den chilenischen Kolonien, weit entfernt von der Hauptstadt Santiago, konnten sie ihre Traditionen und ihre Sprache bewahren. Sie gründeten einen deutschen Gesangsverein, einen deutschen Turnverein und irgendwann auch eine deutsche Kirche.

Auch die Gemeinde in Frutillar entstand in dieser Zeit. Das rosa gestrichene Pfarrhaus steht neben der Kirche und wird noch heute mit Holz beheizt. Pfarrer Carlos Neibirt legt noch ein Scheit nach, bevor er sich wieder seinem Mate widmet. Der deutschstämmige Argentinier arbeitet seit zwölf Jahren für die Lutherische Kirche in Chile (ilch). Nicht zuletzt wegen seiner Deutschkenntnisse wurde er nach Frutillar geholt, auch wenn dort seit langem keine deutschen Gottesdienste mehr gefeiert werden. „Das Deutsche geht immer mehr zurück. Mehr als die Sprache wird aber die deutsche Kultur bleiben, um die eigene Identität zu erhalten. Dazu gehören Lieder und Bier genauso wie die Art, ein deutsches Osterfest zu feiern.“

Der Pfarrer blickt nicht ohne Sorge auf die Entwicklungen der vergangenen Jahre: „Die Gemeinden werden älter, wir müssten eigentlich viel mehr nach außen gehen und uns öffnen. Eine Annäherung zur ielch hätte deshalb Vorteile für beide Seiten.“

Diese Abkürzung steht für Iglesia Evangélica Luterana en Chile, Evangelisch-Lutherische Kirche in Chile. Zu ihr bekennt sich der kleinere Teil der 5.000 Lutheraner des Landes. Der größere und konservativere Teil gehört dagegen - wie Pfarrer Neibirts Gemeinde - zur deutschstämmigen Lutherischen Kirche in Chile (Iglesia Luterana en Chile, ilch).

Die lutherische Kirche Chiles spaltete sich zwei Jahre nach dem Beginn der Militärdiktatur 1973. Auch die Anfänge dieser Trennung liegen in Frutillar. Nach dem Putsch unter General Augusto Pinochet hatte Propst Helmut Frenz, der leitende Geistliche der lutherischen Kirche, mit ökumenischen Partnern zwei Hilfskomitees gegründet. Gemeinsam wollten sie den politisch Verfolgten der Militärdiktatur beistehen. Viele der deutschstämmigen Gemeindemitglieder konnten das Engagement zugunsten der Menschenrechte nicht nachvollziehen. Denn unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende hatten viele von ihnen ökonomische Einbußen und Landbesetzungen hinnehmen müssen. Die Mehrheit der Mitglieder forderten deshalb, Politik und Kirche klar zu trennen. Doch Frenz hielt das Engagement zugunsten der Verfolgten für einen unverzichtbaren Teil des kirchlichen Auftrags. Bei Auftritten im Ausland prangerte er die Folterungen der Militärs öffentlich an.

Kurz darauf forderten konservative Deutschchilenen seine Ausweisung. Und bei der Synode, die 1974 in Frutillar tagte, kam es zum Bruch: Die Vertreter fast aller deutschstämmigen Gemeinden verließen aus Protest gegen Frenz die Synode und gründeten in einem Nebenraum einen „Koordinationsrat“. Aus ihm ging ein Jahr später die ilch hervor.

Die Gründe für die Kirchenspaltung waren allerdings nicht nur politischer Natur. Wer mehr darüber erfahren will, muss in die Hauptstadt Santiago reisen, knapp 900 Kilometer nördlich von Frutillar. Hier befinden sich die Bischofssitze beider Kirchen, jeweils nur wenige Kilometer voneinander entfernt.

Die Christuskirche mit dem ausladenden Zeltdach und der massiven Betonarchitektur steht im Stadtteil Ñuñoa. Die Architektur der Fünfzigerjahre erinnert daran, dass sie zunächst für die deutschsprachigen Lutheraner gedacht war, die aus dem Zentrum Santiagos in die umliegenden Viertel zogen. Doch schon bald trafen sich zu den Gottesdiensten mehr Lutheraner ohne deutschen Hintergrund. Sie gründeten die Dreifaltigkeitsgemeinde - eine von vielen spanischsprachigen Gemeinden, die in dieser Zeit entstanden. Und nach der Kirchenspaltung gehörten sie zur ielch, die das Menschenrechtsengagement von Propst Frenz unterstützte. Der Verwaltungssitz dieser Kirche befindet sich nebenan, im ehemaligen Pfarrhaus der Christuskirche.

Im dortigen Archiv lässt sich nachlesen, dass es innerhalb der Gemeinden bereits Jahre vor der Spaltung heftige Auseinandersetzungen gegeben hatte. In den Sechzigerjahren hatten Pfarrer, die in Deutschland ausgebildet worden waren, ihren Dienst in den chilenischen Gemeinden begonnen. Viele von ihnen wollten an der gesellschaftlichen Entwicklung des Landes mitwirken. Aber sie trafen auf Gemeinden, denen der Erhalt ihrer deutschen Identität besonders wichtig war. So kam es zu Konflikten über die Sprache im Gottesdienst, Sozialprojekte außerhalb der deutschen Kolonie und neue Formen der Konfirmandenarbeit. Viele Eltern erwarteten ganz selbstverständlich, dass die Pfarrer ihre Kinder in der deutschen Sprache unterrichten und konfirmieren - während in den Elternhäusern nur noch Spanisch gesprochen wurde. Und während Allendes spannungsreicher Präsidentschaft und der folgenden Militärdiktatur wurden die jungen Geistlichen von den deutschstämmigen Gemeindemitgliedern ermahnt, Politik und Kirche streng voneinander zu trennen.

Liberale Stellungnahmen

Diese Sorge ist für viele Mitglieder der ilch bis heute noch relevant. Während sich die meisten Pfarrer der deutschstämmigen Kirche politischer Erklärungen enthalten, ist es der ielch, die stark von der Theologie der Befreiung geprägt ist, wichtig, ihre „prophetische Stimme“ zu erheben. So haben ihre Bischöfe in der Vergangenheit progressive Stellungnahmen zu Abtreibung, Homosexualität und Umweltschutz veröffent-licht. Und dies hat die konservativen Lutheraner verschreckt.

Lange Zeit galten gerade die deutschstämmigen Chilenen als Bremser der kirchlichen Wiedervereinigung. Doch dies hat sich in den letzten Jahren verändert. Einer der Hauptverantwortlichen dafür ist ausgerechnet der Bischof der deutschstämmigen ilch-Gemeinden.

Siegfried Sander steht im Hof der Erlöserkirche, dem zweiten lutherischen Bischofssitz in Santiago. Der gelbe Kirchturm kann sich nur mit Mühe gegen die glänzenden Hochhäuser und großen Shoppingmalls des exklusiven Geschäftsviertel Providencia behaupten. Sander lebt seit 27 Jahren in Chile. Als Absolvent einer freikirchlichen Schweizer Hochschule erhielt er dort sofort eine Gemeinde. Denn nach der Kirchenspaltung wurden deutschsprachige Pfarrer gebraucht.

Mit Jürgen Leibbrandt, dem Kirchenpräsidenten der ielch, warb ilch-Bischof Sander für eine institutionelle Annäherung der beiden lutherischen Kirchen Chiles: „Die ilch muss sich fragen, wie sich die Gemeinden in Zukunft bei Überalterung und schwindender Mitgliedschaft aktivieren, organisieren und finanzieren lassen. Wie können wir anderen Menschen als Kirchen beistehen?“ All das seien Fragen, bei denen beide Kirchen von ihren ganz unterschiedlichen Erfahrungen profitieren könnten. In langen Sitzungen haben beide Kirchen die Satzung für eine „Konföderation“ ausgehandelt. Unter Beibehaltung von zwei Synoden und der jeweiligen finanziellen Unabhängigkeit hätte es demnach im Wechsel nur einen sichtbaren Vertreter beider lutherischen Kirchen gegeben. Auf lange Sicht sollten sich beide Kirchen so annähern und zusammenwachsen.

Stockender Prozess

Und Sander und Leibbrandt haben geschafft, was lange Zeit als undenkbar galt: Vor anderthalb Jahren stimmte auf der Synode eine Mehrheit für den Weg zu einem gemeinsamen institutionellen Dachverband - gegen heftige Kritik. So sprach der konservative Pfarrer aus Puerto Montt in seiner Predigt der progressiven ielch das Recht ab, sich als lutherisch zu bezeichnen. Und die kleine gastgebende Gemeinde in Chamiza trat im Anschluss aus der Kirche aus, weil sie viele ethische und politische Positionen der anderen nicht teile und auch die liberale Bibelauslegung nicht mittragen könne.

Trotz der Mehrheit, die bei der Synode erzielt wurde, ist der Vereinigungsprozess ins Stocken gekommen. ilch-Bischof Sander ist frustriert: „Die Diskussionen auf dem Weg zu einer Föderation mit der ielch haben gezeigt, dass die Gründe zur Spaltung immer noch latent und wirksam sind.“ Denn auch in der liberalen ielch sehen immer mehr Gemeinden eine Annäherung der beiden Kirchen kritisch. Sie fürchten, bei politischen Diskussionen nicht mehr wie bisher Partei ergreifen und nach außen präsent sein zu können, dafür aber finanziell zu viel Verantwortung tragen zu müssen.

Aber die Kritik an der ilch wird nicht von allen Mitgliedern der ielch geteilt. Vor allem junge Leute sind enttäuscht. Der 26-jährige Patrick Bornhardt sitzt auf einer Bank in der Kirche vom Concepción, 500 Kilometer südlich von Santiago. Hier äußerte schon Propst Frenz Kritik an den verkrusteten Kirchenstrukturen.

Für Bornhardt spiegelt der Vereinigungsprozess der Lutheraner die schleppende gesellschaftliche Aufarbeitung der Militärdiktatur, die vor 27 Jahren endete: „Die Spaltung der Kirche ist in der Tat Zeichen für die Spaltung der chilenischen Gesellschaft. Aber gerade in einem gespaltenen Land wäre eine geeinte Kirche ein starkes Zeichen und ein glaubwürdiger Dialogpartner in der Öffentlichkeit.“ Obwohl sich Bornhardt für die Geschichte der Kirche interessiert, gehört er zu den jüngeren Kirchenmitgliedern, die lieber in die Zukunft schauen als in die Vergangenheit. „Besonders die evangelikal geprägten Kräfte sind es, die in Chile mit viel Geld Einfluss auf die Politik nehmen. Angesichts einer wachsenden Mittelschicht wäre es für die Lutheraner eine Chance, mit gut ausgebildeten Pfarrern eine sozial engagierte Alternative zu Katholiken und Pfingstlern darzustellen. Aber nur gemeinsam sind wir dafür stark genug.“

Doch Bonhardt und seine Gemeinde konnten sich auf der ielch-Synode Ende Mai nicht durchsetzen. Ihre Kirche, die sich in ihren Erklärungen immer für die Wiedervereinigung der Lutheraner stark gemacht hatte, stimmte mehrheitlich gegen die Statuten der Konföderation. Zu sehr habe man sich von der Schwesterkirche theologisch und institutionell entfernt, hieß es.

So verschwinden die Vereinigungspläne wieder in der Schublade. Die beiden lutherischen Kirchen Chiles müssen also wieder zu der erprobten Arbeit der letzten Jahre zurückfinden: gemeinsame Pfarrkonferenzen, vielleicht mal ein gemeinsamer Gottesdienst in der Hauptstadt. Auch das diesjährige Reformationsjubiläum möchten beide Kirchen zusammen feiern, aber von einer echten, sichtbaren Einheit sind sie so weit entfernt wie Chiles Gesellschaft.

Daniel Lenski

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