„Dass ich auch noch Mensch bin“

Pädophilie ist nicht heilbar. Aber die Betroffenen können lernen, mit ihr umzugehen
„Diese Fragen, die stachen genau ins Wespennest ... bis dahin war ich damit noch nie so konfrontiert worden.“ Foto: epd/ Gustavo Albiso
„Diese Fragen, die stachen genau ins Wespennest ... bis dahin war ich damit noch nie so konfrontiert worden.“ Foto: epd/ Gustavo Albiso
Seit zehn Jahren arbeitet das Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ mit Männern, die sich von Kindern sexuell angezogen fühlen. Einer von ihnen ist Mark Schmidt. Bettina Markmeyer, Hauptstadtkorrespondentin des Evangelischen Pressedienstes, hat mit ihm gesprochen und stellt das Projekt vor, das demnächst von den Krankenkassen finanziert werden soll.

Es geht um Männer wie Mark Schmidt (Name geändert). Mehr als 7000 haben in den vergangenen zehn Jahren beim Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ Hilfe gesucht. Es sind Männer, die sich von Kindern sexuell angezogen fühlen, pädophile Männer, Menschen die geächtet würden, käme raus, was mit ihnen los ist.

Mark hatte mit Mitte 20 seinen ersten Termin in den Räumen des Instituts an der Charité, der Universitätsklinik in Berlin. Er litt unter Depressionen, beendete sein Studium nicht und zog sich immer wieder von seiner Freundin zurück, der Frau, die ihn liebte.

In den Räumen des Instituts, in denen er zum ersten Mal über das sprechen konnte, was ihm sein Leben zur Hölle machte, erzählt Mark seine Geschichte. Hier hat er Hilfe gefunden. Hier fühlt er sich sicher. Gleichwohl ist das Gespräch gekennzeichnet von vielen Umschreibungen - auf beiden Seiten - von Pausen, Seufzern und nicht zu Ende gesprochenen Sätzen. Denn es ist nicht einfach, über ein Leben mit Pädophilie zu sprechen.

„Während des Studiums habe ich Probleme gehabt mit Depressionen … mir ging es halt oft nicht so gut. Ich hatte schon meine Freundin - und das war immer so ein Auf und Ab mit ihr, weil ich nicht wusste: Mag ich sie? Liebe ich sie? Das ist halt ... schwer gewesen. Sie hat mir damals gesagt: Es gibt Psychologen, lass dir helfen. Wo wirklich mein Problem war, das habe ich ja nicht gesehen. Das war mir auch noch nicht bewusst, als ich hierher kam. Ich wusste zwar, das passt irgendwie hierher, aber ... mir selbst das so sagen zu können ... da war ich ja noch lange nicht.“

Das Projekt „Kein Täter werden“ soll in diesem Jahr auf sichere Füße gestellt werden. Die Krankenkassen finanzieren die Präventionsarbeit fünf Jahre lang als Modellprojekt mit dem Ziel, die Behandlung von Männern wie Mark zu einer Kassenleistung zu machen. Nach monatelangen Verhandlungen ging das Bundesgesundheitsministerium im Oktober mit dem Beschluss an die Öffentlichkeit. Bis dahin hatte die Finanzierung stets auf der Kippe gestanden.

Mit dem Geld werden Therapien und Nachsorgegruppen für pädophile Männer, Forschungsprojekte und Auswertungsstudien bezahlt. Gegenwärtig beläuft sich der Etat des Netzwerks für Berlin und Anlaufstellen in zehn weiteren Städten auf rund 1,4 Millionen Euro. Das Geld kommt überwiegend von den Ländern. Die Arbeit an der Charité in Berlin wurde zuletzt vom Bundesjustizministerium gefördert. Für 2017 hat der Berliner Senat eine Zwischenfinanzierung zugesagt.

Dass künftig fast viermal so viel Geld fließt wie bisher, ist ein Erfolg für das Netzwerk und Klaus Michael Beier, den Leiter des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité, dessen Name untrennbar mit der Arbeit verbunden ist. Seit der Gründung des Netzwerks 2005 wirbt Beier beharrlich für Präventionsarbeit, um Übergriffe auf Kinder und die Nachfrage nach Missbrauchsdarstellungen zu reduzieren. Er sagt: „Was wir da sehen, wollen wir verhindern.“

Kampf mit dem Internet

Mark hatte zu dem Zeitpunkt, als er sich beim Netzwerk vorstellte, schon jahrelang im Internet Missbrauchsdarstellungen angeschaut, obwohl er alles über die Grausamkeiten wusste, die den Opfern der so genannten Kinderpornografie angetan werden. Er hasste sich deswegen. Mit dem Internet kämpft er noch heute. Es sei wichtig, sagt er, dass er sich immer weiter damit auseinandersetze. Dass er sich frage: Wo stehe ich? Wie verhalte ich mich? Finde ich das noch okay, was ich mache?

„Ich weiß, dass ich mit zwölf oder so Kataloge angeguckt habe ... mit Kindern. Das ging eher schleichend, dass ich das bemerkt habe. Dann hatten wir irgendwann Internet, und ich weiß, dass ich da schon nach Bildern gesucht habe. Das war vielleicht mit 14 oder 16. Bis heute ist es schwer, dem Internet zu widerstehen und diesem Drang, Bilder zu gucken. Wenn man weiß, wo man da sucht, findet man die Sachen auch. Ich weiß nicht, ob es besser wäre, wenn es das nicht gäbe. Dann wäre ich vielleicht übergriffig geworden, oder so… ich weiß es nicht…. Also, es ist auch so eine Art Ventil, um halt einfach irgendwie…. um halt die Befriedigung zu finden, die ich suche. Ich meine, ich habe eine Freundin und habe mit ihr auch Sex, und das ist auch schön ….. aber es ist doch was anderes, als das, was ich eigentlich möchte…“

Die Bilder anzuschauen, herunterzuladen, zu speichern oder weiterzugeben, ist strafbar. Die Männer, die sich beim Netzwerk melden, haben in aller Regel schon Missbrauchsdarstellungen gesehen, sind von Polizei und Justiz aber nicht entdeckt worden. Sie werden nicht angezeigt, bleiben während der Therapie anonym. Das ist Präventionsarbeit im Dunkelfeld. Dieses ist ungleich größer als das Hellfeld, also die Zahl der Täter, die entdeckt oder angezeigt werden. Mark schaut sich manchmal Bilder an, die Kinder und Jugendliche von sich auf Facebook oder Youtube posten. Wenn er aber davon spricht, dass er immer noch mit dem Internet kämpft, dass er rückfällig wird, dann meint er nicht diese Bilder. Dann meint er das, was „Kinderpornografie“ genannt wird. Er weiß, was er tut, und er will das nicht mehr. Nur in seiner Nachsorgegruppe und bei den Therapeuten kann er das Thema ansprechen.

„Ich klicke ja da nicht aus Versehen rum. Ich gehe auf eine Suchmaschine und gebe die üblichen Begriffe ein. Sofort finde ich was und schaue es mir fünf bis zehn Minuten an. Dann aber merke ich, was ich mache und dass mir das nicht gut tut. Ich denke auch an die Nachsorgegruppe und an das, was ich jetzt alles hinschmeiße. Dann mache ich wieder aus - und versuche, bei diesen Gedanken zu bleiben. Zur Zeit arbeite ich daran, dass ich den Kick gar nicht brauche. Ich hoffe es wirklich stark, dass ich vom Internet wegkommen werde.“

Nach der Statistik des Netzwerks haben 70 Prozent der Männer, die sich in den Anlaufstellen melden, Missbrauchsabbildungen im Internet konsumiert oder selbst einen Übergriff auf ein Kind begangen. Nur 15 Prozent haben nach Beiers Angaben vor Beginn der Therapie keine so genannte Kinderpornografie gesehen. Erlangen die Therapeuten während der Behandlung Kenntnis davon, dass ein Kind in Gefahr ist, würden sie ihre Schweigepflicht brechen, sagt Beier. Noch seien sie aber nicht in eine solche Situation gekommen.

Ein Prozent aller Männer richten ihr sexuelles Begehren auf den kindlichen Körper (Pädophilie) oder den Körper von Mädchen und Jungen am Beginn oder in der Pubertät (Hebephilie). Haben sie einmal einen Übergriff begangen, ist die Rückfallgefahr sehr hoch: Fünf bis acht von zehn Männern werden erneut übergriffig. Pädophile Männer sind indes nicht die Haupttäter beim sexuellen Kindesmissbrauch, sexueller Gewalt gegen Kinder. Vierzig Prozent der Taten werden von pädophilen Männern begangen, 60 Prozent aber von anderen Personen, von psychisch gestörten, gewalttätigen oder anderweitig motivierten Tätern, Vätern, Stiefvätern, Brüdern, Priestern. Den Männern, die sich bei „Kein Täter werden“ melden, wird nach einem ersten Beratungsgespräch die Diagnostik angeboten. Stellt sich eine pädophile Neigung heraus, können sie eine Therapie beginnen. In der Regel handelt es sich um Gruppen mit zwei Therapeuten. Deren Arbeit konzentriert sich auf Verhaltenskontrolle und die emotionalen Voraussetzungen, die dafür nötig sind. Es gilt, was bei allen Menschen gilt: Je isolierter und unglücklicher jemand ist, desto größer ist die Gefahr, dass er sich und anderen etwas antut. Je mehr er mit sich im Reinen ist, umso besser sind die Voraussetzungen, dass es ihm gelingt, nicht zu tun, was anderen und ihm selbst schadet.

„Ich habe erst in der Therapie gelernt, mich selbst zu mögen, mich zu lieben - oder mit mir selbst halt… einfach zufriedener zu sein. Vorher habe ich mich nur gehasst. Es ist einfach eine Erleichterung zu wissen: dass ich nicht nur pädophil bin. Dass ich auch noch Mensch bin. Dass ich Seiten habe, die gut sind. Seiten, für die ich mich selber lieben und mögen kann....“

Mark, Mitte dreißig, schlank, große Brille, Ringel-T-Shirt, Fahrradfahrer ist Vater eines fast dreijährigen Sohnes. Er lebt mit seiner Freundin, der Mutter des gemeinsamen Kindes, zusammen. Erst am Ende der einjährigen Gruppentherapie vor sieben Jahren hat er ihr gesagt, dass er pädophil ist, dass er auf Kinder steht, wie er sagt, genauer: auf Mädchen am Beginn der Pubertät.

„Erst ganz zum Ende habe ich es meiner Freundin gesagt. Das war sehr wichtig: Dass sie mich trotzdem liebt, trotz dieses….. ja. Ich glaube, das ist das Wichtigste. Das, was mir geholfen hat, damit klarzukommen. Damit habe ich schon viel Glück gehabt. Ich hatte jemandem, mit dem ich darüber reden konnte. Das hat uns auch zusammengeschweißt. Und es hat für sie viel erklärt - warum es so schwer war am Anfang.“

Außer seiner Freundin gibt es nur einen weiteren Menschen, der über Marks sexuelle Präferenz Bescheid weiß, sein bester Freund. Eltern, Schwester, Bekannte und Kollegen - niemand weiß, was sein Leben lange bestimmt hat und was er getan hat, damit das nicht mehr so ist. Mit niemandem sonst - außer mit den Therapeuten und Teilnehmern der Gruppen - kann Mark über das reden, was ihn seit seiner Jugend jahrelang gequält hat, bis hin zu Selbstmordgedanken. Das Schwerste ist, sich selbst zu akzeptieren. Wenn es überhaupt jemals geht:

„Ich kann zwar sagen, ich bin pädophil, und es ist okay, und ich kann damit leben …. aber das wirklich auch so zu empfinden und zu sagen: Ich bin …. und hab‘ mich trotzdem gern. Das ist das Schwerste. Ich kann es nicht wegmachen. Aber ich bin nicht nur das. Ich lebe jetzt damit.

Ich erinnere mich noch, wie es vor der Therapie war. Dass ich abends im Bett lag und einfach geweint habe, weil ich nicht mehr konnte. Ich habe auch mit Selbstmordgedanken gespielt. Ich weiß, dass ich da lag und geweint habe und alles gehasst habe, mich ... alles … und dass ich das Gefühl hatte, das geht so nicht weiter. Ich darf das nicht. Ich bin ein Arsch. Ich bin ein Idiot, ich bin dreckig, eklig. Ich würde das gern irgendwie wegmachen.“

Diagnose wie ein Hammer

Obwohl Mark schon als junger Mann ahnte, was mit ihm los ist, traf ihn die Diagnose „pädophil“ wie ein Hammer. Die Fragen, die er 2007 bei seinem ersten Termin am Institut beantworten musste, trafen ihn ins Herz. Aber dieser Tag leitete auch die Wende in seinem Leben ein.

„Das war das erste Mal, bei diesem Erstgespräch, wo man diese Bögen ausfüllt, wo ich wirklich damit konfrontiert wurde. Ich weiß noch, dass es Sommer war, und dass ich dann hier raus bin ... und völlig fertig war. Diese Fragen, die stachen genau ins Wespennest … bis dahin war ich damit noch nie so konfrontiert worden.“

Ein halbes Jahr musste Mark dann noch auf einen Platz in einer der Gruppen warten. Gut ein Jahr lang ging er jede Woche dorthin. Und seitdem kommt er alle drei Wochen in eine Nachsorgegruppe.

„Ich werde nie aufhören können, daran zu arbeiten. Ich werde mit meinem Verhalten ein Leben lang zu kämpfen haben. Es wird immer ein Problem sein... . Aber ich habe schon das Gefühl, dass ich mehr im Leben stehe. Dass ich einfach mehr schaffe. Ich habe jetzt ein Kind, das ist sehr wichtig. Ich habe meinen Abschluss gemacht, arbeite in meinem Beruf. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, das hätte ich ohne die Therapie nicht geschafft. Weil ich viel zu viel an meiner Person gezweifelt habe - oder an meinem Können oder an meinem Menschsein überhaupt.“

Auf einer Pressekonferenz des Netzwerks im Oktober zog Klaus Michael Beier als Leiter der Arbeit in Berlin eine Bilanz. Die Teilnehmer der Therapiegruppen würden lernen, ihr Verhalten zu kontrollieren. Man könne inzwischen nachweisen, sagte er, dass die Behandlung die Risikofaktoren für sexuellen Kindesmissbrauch vermindere. Fünf Jahre nach der Therapie war von den 23 Männern, die sich auf Nachfrage des Instituts zurückgemeldet hatten, keiner rückfällig geworden. In einer ersten Nachuntersuchung im Jahr 2010 waren es von 53 Männern noch fünf.

Die Zahlen sind niedrig, müssen aber vor dem Hintergrund gesehen werden, dass die Therapeuten im Dunkelfeld arbeiten. Das bedeutet auch: Die Angaben der Klienten sind freiwillig. Wer sich nicht mehr meldet, dessen weitere Entwicklung können die Wissenschaftler nicht verfolgen.

Von den 7.075 Männern, die seit 2005 beim Netzwerk Hilfe gesucht haben, haben sich knapp 2.300 zu Diagnostik und Beratung vorgestellt, 1.264 pädophilen Männern wurde ein Therapieangebot gemacht. Insgesamt haben 659 eine Therapie begonnen, und 251 haben sie erfolgreich abgeschlossen. Das entspricht in etwa der Abbrecherquote bei Psychotherapien überhaupt. Derzeit befinden sich 265 Männer in therapeutischer Behandlung.

„Pädophilie ist nicht heilbar, aber behandelbar“, sagt Beier. „Bei uns meldet sich nur, wer Leidensdruck verspürt.“ Das Präventionsnetzwerk erreicht Männer, die Verantwortung übernehmen wollen. Das ist eine kleine Gruppe, aber eine enorm wichtige, weil sie Hoffnung macht und hilft, Pädophilie zu erforschen und zu behandeln. Es sind Männer wie Mark Schmidt, die ihr Verhalten kontrollieren wollen. Die pädophil sind und wissen, dass es keine einvernehmlichen Sexualkontakte zwischen Erwachsenen und Kindern gibt.

Internetseite des Präventionsnetzwerks
Forschungsstudien über das Dunkelfeld bei Kindesmissbrauch und sexuellen Übergriffen

Bettina Markmeyer

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