Perspektiven vermisst

Die akademische Theologie verstolpert das Reformationsjubiläum
Gute Stimmung in Rom, aber Grummeln in der Heimat. EKD-Delegation mit Papst Franziskus, 6. Februar 2016.  Foto: epd/ L‘Osservatore Romano
Gute Stimmung in Rom, aber Grummeln in der Heimat. EKD-Delegation mit Papst Franziskus, 6. Februar 2016. Foto: epd/ L‘Osservatore Romano
Statt sich den Chancen und Herausforderungen zu stellen, sitzt ein Großteil der deutschen akademischen Theologie in der Schmollecke und hat sich von der konstruktiven Diskussion um das Reformationsjubiläums 2017 abgemeldet, meint Thies Gundlach, Vizepräsident im Kirchenamt der EKD.

Die Theologie ist eine kritische Wissenschaft, und das ist auch gut so. Sie ist im Vergleich mit anderen Fakultäten nicht nur eine altehrwürdige, sondern eine gut ausgestattete Wissenschaft, worüber man sich nur freuen kann. Und sie wird in aller Regel von den Landeskirchen und der EKD in Schutz genommen, wenn aufgrund der geringeren Zahl von Studierenden wieder einmal der staatliche Versuch gemacht wird, trotz gültiger Verträge in den Fakultäten zu sparen. Die Funktion der Theologie, die sie vor allem in der Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern übernimmt, bezieht sich auf exegetische, historische und dogmatische Traditionen, die kritisch zu durchdenken und gegenüber der jeweiligen Gegenwart intellektuell zu verantworten sind. Reformierungen der traditionellen Theologie, wie zum Beispiel von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher im 19. Jahrhundert oder von Karl Barth im 20. Jahrhundert, sind Meilensteine theologischer Kons-truktion, die Glauben und Denken, Gottesbewusstsein und Gegenwartsrationalität in eindrücklicher Weise aufeinander beziehen.

Nicht jede Generation hat einen Schleiermacher oder einen Barth; aber jede Generation hat die Aufgabe, neben Kritik auch eine konstruktive Interpretation des Glaubens zu bieten. Diese Aufgabe sollte jene Plausibilität für andere - Nichtglaubende wie Andersglaubende - entfalten, die zu einer gehaltvollen Einladung zum Glauben ebenso befähigt wie zu einem echten Dialog. Dazu gehört die Entfaltung eines weiterführenden Gedankens, einer tragenden Idee, einer Perspektive, die überlieferten Glauben und gegenwärtiges Weltbewusstsein ineinander denkt und verschränkt. Dazu im Folgenden drei Gedanken.

Tiefe Beklommenheit

Erstens: Das gegenwärtige Weltbewusstsein in unseren Breiten ist nicht nur von einer tiefen Beunruhigung und Beklommenheit erfasst, sondern auch von der verbreiteten Überzeugung, in der Reformation, insbesondere in Martin Luther und seinen Anfängen, eine geistige Substanz zu haben, die die Ängste der Gegenwart begrenzen und die Orientierungslosigkeit einhegen kann. Diese Überzeugung scheinen allerdings Menschen außerhalb der Grenzen des Glaubens deutlicher und zuversichtlicher zu teilen als Menschen innerhalb der Grenzen. Vom Deutschen Bundestag bis zur Kulturstaatssekretärin, von Freunden des Rotaryklubs bis zur Deutschen Bahn scheint der Gedanke Kraft zu haben, dass der vor 500 Jahren vollzogene Thesenanschlag und seine Folgen konstruktive Bedeutung für das heutige Selbstverständnis nicht nur der Kirchen, sondern auch der Demokratie, der Menschenwürde, der Partizipation und so weiter hat.

Selbst die römisch-katholische Kirche formuliert die Einsicht, dass jene Reformation auch für sie ekklesiologisch relevant sei. Dies alles dürfte ein gewichtiger Grund dafür sein, dass das von der EKD und ihren Gliedkirchen ausgerichtete Reformationsjubiläum im Jahre 2017 keineswegs eine reine Kirchenparty ist, sondern ein gesamtgesellschaftlich bedeutsames Ereignis. Natürlich geht es auch um Tourismus und die Profilierung von Regionen; aber das erklärt nicht die Bereitschaft so vieler, in einem langen Anlauf über die sogenannte Luther- oder Reformationsdekade von 2008 bis 2017 mit einigen zentralen Themen, die mit der Reformation verbunden werden, einen Europäischen Stationenweg und eine Weltausstellung „Tore der Freiheit“ mitzugestalten, einen nationalen Feiertag ohne großen Widerstand zu genehmigen und einen großen Kirchentag in Berlin mit einem Festgottesdienst in Wittenberg zu fördern. All diese bemerkenswerten Anstrengungen sind in dieser Dimension nur möglich, weil die Bundesländer ebenso wie der Bund darin eine sinnvolle Aktivität erkennen und deswegen reformatorisch bedeutsame Orte und ebensolche Veranstaltungen unterstützen.

Zweitens: Kann man nun von der wissenschaftlichen Theologie an den Universitäten erwarten, dass sie die besondere Bedeutung, die die Gesellschaft der Reformation weithin zuerkennt, auch historisch rekonstruiert und theologisch interpretiert? Kann man erwarten, dass die zuständige theologische Wissenschaft ihrerseits öffentlich entfaltet, warum das Jubiläum so viel Aufmerksamkeit erhält und welche zukunftsfähigen Botschaften in ihr schlummern? Darf man hoffen, dass die Theologie ihr gewissermaßen eigenes Jubiläum konstruktiv begleitet angesichts einer stark verunsicherten Übergangszeit? Natürlich finden sich solche Bemühungen; einzelne Beispiele gibt es durchaus, und pauschale Sätze stimmen sowieso nie. Und eine wirklich imponierend große Leistung stammt von den Exegeten, die mit der Erarbeitung der revidierten Lutherbibel ein wirkliches Schmuckstück zum Reformationsjubiläum beigetragen haben.

Aber gesagt werden soll auch: In aller Regel haben sich viele relevante theologische Wissenschaftler aus der konstruktiven Diskussion um das Jubiläum abgemeldet, weil sie bei der Kritik an Details stehengeblieben sind. Es gibt einen Ausfall perspektivischer Theologie im Blick auf eine konstruktive Interpretation der kirchlichen und gesellschaftlichen Gestaltung des Reformationsjubiläums. Es herrscht eine Art grummelige Meckerstimmung gegenüber allen Aktivitäten der EKD und ihrer Gliedkirchen und eine Art besserwisserische Ignoranz gegenüber den Anliegen von Bund, Ländern und Zivilgesellschaft. Es scheint fünfhundert Jahre nach der Thesenveröffentlichung ein tragender Gedanke zu fehlen, eine weiterführende Idee und eine konstruktive Interpretation des Ereignisses. Aktualisierungsversuche werden in aller Regel als unsachgemäß kritisiert.

Da weiß der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf schon vor der Veröffentlichung des ökumenischen Textes „Erinnerung heilen - Jesus Christus bezeugen“, dass die Autoren nicht in der Lage sind, zwischen äußerer (debitum) und innerer (culpa) Schuld zu unterscheiden (siehe zeitzeichen 10/2016). Er verbindet dabei sein vertrautes Hochamt der Pluralität mit dem Gericht über die Werke der Ökumene, und die ökumenische Gestaltung des Reformationsjubiläums als Christusfest hält er für Verrat. Auch mit den Buß- und Versöhnungsgottesdiensten in Lund (31. Oktober 2016) und Hildesheim (11. März 2017) seien doch nur die Erwartungen der katholischen Kirche nach angemessener Zerknirschung der Protestanten für die Spaltung der abendländischen Kirche bedient. Andere Systematiker sehen darin eine langfristige Strategie aufgehen, in der sich die Evangelischen den Wünschen der Römer unterwerfen (so Ulrich Körtner in zeitzeichen 1/2017)). Letzterer sieht darüber hinaus noch das Urteilsvermögen eingetrübt, weil der Papst-Gottesdienst in Lund am 31.10.2017 doch nur die Show des „Meisters der Symbole“ war, gibt es doch immer noch keine Anerkennung der reformatorischen Kirchen und keine Einladung zur gemeinsamen Eucharistiefeier. Wer aber glaubt, man könne ein Reformationsjubiläum im 21. Jahrhundert mit konfessionellen Unterschieden ausfüllen, der ist genau in dem 19. Jahrhundert gefangen, das zu überwinden die Wissenschaft verlangt.

Die Beurteilungen der kirchlichen Gestaltung des Jubiläums durch Teile der theologischen Wissenschaft klingen oftmals so: Die evangelischen Kirchen seien nicht in der Lage, die Fremdheit Luthers und Ferne des Reformationszeitalters angemessen zur Sprache zu bringen (so Thomas Kaufmann in zeitzeichen 8/2014), sie haben kein ekklesiologisches Niveau (Körtner), seien nicht international aufgestellt (Hartmut Lehmann), kritisieren Luthers Antijudaismus überzogen und verraten dabei zentrale christologische Aussagen (so Dorothea Wendebourg in zeitzeichen 7/2016 und 9/2016) und vernachlässigen mit dem Leitwort „Christusfest“ die konfessionellen Unterschiede (Graf). Und auch außerhalb der kirchlichen Gestaltungen gibt es nur Unheil zu sehen: Die offizielle Kampagne für die nationalen Sonderausstellungen (3 x Hammer - die volle Wucht der Reformation) sei nur blamabel (zeitzeichen 9/16), weil es ein heroisierendes Bild Luthers aus dem 19. Jahrhundert perpetuiere. Aus der zuständigen wissenschaftlichen Theologie kommt weithin ein kontinuierlicher Ton der Missbilligung, der die Gestaltung des Reformationsjubiläums 2017 durch Kirchen und Gesellschaft als Verrat an historischer Exaktheit und theologischer Verantwortung erkennen zu müssen meint.

Drittens: Es scheint eine Art Babylonische Gefangenschaft in den Deutungsmustern der Achtzigerjahre zu geben. Denn jene Kritikhaltung hat seine Wurzel offenbar in den Diskussionen um den 500. Geburtstag Martin Luthers 1983: Damals wurde in der DDR der Reformator als „frühbürgerlicher Revolutionär“ vereinnahmt, eine Deutung, die man mit klaren Hinweisen auf die Geschichte bestreiten konnte. Diese Historisierungskarte wird auch 2017 gespielt, obwohl kein vergleichbarer Gegner vorhanden ist. Und natürlich muss die Geschichte historisch-kritisch analysiert werden, ist doch die Gefahr viel zu groß, sich die Geschichte zurechtzulegen, sie mit Pathos aufzuladen oder mit eigenen Interessen zu überlagern. Die Geschichte der Reformationsjubiläen ist ein Paradebeispiel dafür. Aber man kann bei dieser Historisierung nicht stehen bleiben. Wenn man ein Jubiläum gestalten will, muss man das Risiko des Missbrauchs kennen und reflektieren, aber nicht scheuen.

Will man für ein Geschichtsdatum eine aktuelle Relevanz und eine zukunftsweisende Bedeutung entfalten, sollte man nicht bei der historischen Forschung stehenbleiben. Das Risiko einer aktuellen Nutzung der Erinnerungen an die Reformation war und ist zuerst die Aufgabe und die Verantwortung der evangelischen Kirchen und ihrer Theologie, die auch gegenüber der Zivilgesellschaft sagen können muss, was an diesen historischen Ereignissen noch heute relevant ist. Dieser Aufgabe mussten sich die reformatorisch geprägten Kirchen oftmals ohne Begleitung durch die zuständige Wissenschaft stellen, und eben dies ist der Kummer vieler Kirchenleitender: Die theologische Wissenschaft kritisiert die Vorbereitung beziehungsweise Gestaltung des Jubiläums, lassen sie aber bei einer gegenwartsbezogenen Interpretation des Jubiläums allein. Da bleibt die Frage zurück, was los ist in einer Wissenschaft, die ja im Grunde eine einzigartige Gelegenheit hätte, dieses Jubiläum zu nutzen, um einer distanzierten, vielleicht sogar skeptischen Gesellschaft die eigene Relevanz sichtbar und verständlich zu machen.

Mehr Mut

Summa: Statt eine tragfähige Deutungsperspektive einzutragen, werden oftmals kleinliche Kritiken an der kirchlichen, staatlichen und zivilgesellschaftlichen Fest-Gestaltung vorgetragen. Gibt es noch eine Möglichkeit, aus dieser Abseitsposition der zuständigen Wissenschaft heraus zu finden? Ich wäre jedenfalls froh, wenn die theologische Wissenschaft im Nachgang zum Jubiläum und in der Deutung seiner Gestaltung konstruktive Perspektiven aufzeigt für eine (ökumenische) Kirchensituation, die sich in einer zunehmend religions- und institutionsskeptischen Welt zurechtfinden muss. Ich wünsche mir den Mut zu weiterführenden Thesen und theologischen Perspektiven, die das Spezialistentum der Forschungen das wieder sein lassen, was sie sein sollten: Zuarbeit für große Glaubensentfaltung, die Gottesbewusstsein und Weltrationalität auch im 21. Jahrhundert zusammenbindet.

Thies Gundlach

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Foto: ekd

Thies Gundlach

Thies Gundlach ist einer der drei theologischen Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD und leitet die Hauptabteilung „Kirchliche Handlungsfelder und Bildung“.


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