Vom Kopf auf die Füße

Öffentliche Theologie ist nicht nur etwas für Bischöfe und Bischöfinnen
Öffentliche Theologie: Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm beim Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker. Foto: epd/ Horst Wagner
Öffentliche Theologie: Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm beim Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker. Foto: epd/ Horst Wagner
Eine Öffentliche Theologie, die das Priestertum aller Getauften ernst nimmt, skizziert der Praktische Theologe Thomas Schlag, der an der Universität Zürich das Zentrum für Kirchenentwicklung leitet.

Es ist unübersehbar, dass die evangelische Kirche in der medialen Öffentlichkeit Deutschlands gegenwärtig durch Bischöfe repräsentiert wird. Zu Reformationsjubiläum, Flüchtlingsfrage, Rechtspopulismus und Präsidentenwahl in den USA werden die bekannten protestantischen Protagonisten ins Rampenscheinwerferlicht gezogen - oder richten sich selbst darauf aus.

Dass der Protestantismus auf bischöfliche Weise öffentlich wird, ist für die Medien nur konsequent. Denn von wem sollte man anschaulicher erfahren können, was die Kirche denkt und wie sie sich positioniert? Medienleute suchen das Spiegelbild zur katholisch-päpstlichen Einheitsstimme und finden es bei evangelischen Bischöfen. Und die entsprechenden Personen sind mediengewandt und eloquent wie gleichsam theo-telegen. Kein Wunder, dass die Presseabteilungen der EKD und Landeskirchen sich eifrig bemühen, den Studios die eigenen Auskunftsgeber anzupreisen. Ganz zu schweigen davon, dass die entsprechenden Stäbe der evangelischen Kirchenämter durchaus intensiv und nicht selten neidvoll mitzählen, welcher Repräsentant wie oft in welcher Taktung in welchen Talkshows auftreten darf.

Und so scheint es auf den ersten Blick schlüssig, dass die Frage nach der Öffentlichen Theologie und die aktuelle Kritik an ihr vornehmlich an ihren exponierten Repräsentanten festgemacht wird. Wenn es darum geht, mit welchem Öffentlichkeitsanspruch Kirche auftreten soll und inwiefern sie möglicherweise den eigenen Auftragsbogen bis fast zum innerkirchlichen Zerreißen überspannt, kommen ihre ideengebenden Protagonisten in den Blick. So scheuen sich Johannes Fischer (zz 5/16) oder Ulrich Körtner (zz 2/16) nicht, die bischöflichen Rosse und Reiter mehr oder weniger deutlich beim Namen zu nennen. Beklagt wird, dass ein bestimmter moralischer Rigorismus die notwendige politische Verantwortung in komplexen Gemengelagen durch gesinnungsethische und unduldsame Eindeutigkeit ersetzen wolle. Öffentliche Theologie legitimiere so eine vermeintlich klare Wahrheitsrede in höchst problematischer Weise. In ihrem Kern zeige sie sich tendenziell antipluralistisch, diskursverweigernd und unterbelichtet in ethischer Hinsicht.

Nun lassen sich in der Tat eine ganze Reihe von kritischen Rückfragen an öffentliche Stellungnahmen von Bischöfen aufwerfen, erst recht, wenn damit ein Destillat aus politisch korrekten Reinheitsgeboten gebraut wird, so ein weiterer Vorwurf. Ob dies dann tatsächlich auch so gemeint ist, wie es gehört wird, wäre aber näher zu überprüfen.

Kirche mit Anderen

Viel entscheidender ist die Frage, ob die Kritik an der Öffentlichen Theologie, wenn sie sich ausgerechnet an ihren hoch würdigen Repräsentanten abarbeitet, wirklich die Grundintention dieser theologischen Signatur trifft. Ist Öffentliche Theologie also wirklich eine vornehmlich bischöfliche? Möglicherweise sind die Kritiker ja dem Hierarchieanspruch der vermeintlichen Stichwortgeber und den Geltungsansprüchen der entsprechenden Medienbeauftragten auf den Leim gegangen und bestätigen mindestens indirekt deren Anspruch.

Insofern erscheint es angebracht, für einen Moment bei der Bedeutungsvielfalt dessen innezuhalten, was sich mit dem Begriff der Öffentlichen Theologie verbindet. Auch wenn es sich um eine historisch gewachsene und vielfältig verzweigte Entwicklungsgeschichte handelt, lassen sich doch einige wesentliche Grundaspekte benennen, die auf den Bedeutungskern verweisen. Öffentliche Theologie bringt grundsätzlich zum Ausdruck, dass die Krisenphänomene gegenwärtiger Gesellschaften theologisch verstärkt wahrgenommen und artikuliert werden müssen. Zudem ist in ihr der Aufruf angelegt, sich als Kirche grundsätzlich am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Bei aller unterschiedlichen Deutung zeichnet sich der Anspruch einer Öffentlichen Theologie dabei durch eine gemeinsame Einsicht aus: Kirchliche Artikulation kann nicht primär von oben vorgenommen oder gar gesteuert werden. Das öffentlich relevante Glaubensleben nimmt seinen Anfang vielmehr an der Basis, hat also eine Perspektive von unten her. Dies manifestiert sich im vielfach gebrauchten Stichwort von der „Option für die Armen“, denen der aufmerksame Blick der Kirche in besonderer Weise zu gelten habe.

Nun vermuten die Kritiker, dass es sich dabei nur um eine neue Spielart der alten Befreiungstheologie handelt, in deren Folge die Rede vom prophetischen Wächteramt höchst demokratieskeptisch gewendet wird. Tatsächlich ist eine theologisch begründete Figur nicht ohne Probleme, durch die offenbar eine bestimmte Gruppe - hier die „Armen“ - bevorzugt ins Licht treten. Denn damit kommt es logischerweise zur Gefahr, dass alle anderen, nicht Genannten, faktisch ausgeschlossen oder ignoriert werden, ganz abgesehen von der Frage, wer mit den „Armen“ überhaupt gemeint ist.

Insofern ist es an der Zeit, die Perspektive von unten in einem sehr viel weiteren biblisch-theologischen Teilhabesinn zu bedenken. Dabei hilft, das hierarchische Bild des Paulus vom Haupt und seinen Gliedern mindestens um die wunderschöne Metapher jedes einzelnen Leibes (!) als Tempel des Heiligen Geistes zu ergänzen. Mit anderen Worten: Nach reformatorischem Verständnis verweist dieses Unten zuerst einmal auf die offene Frage, wer denn innerhalb der Kirche für wen und in wessen Interesse handelt. Öffentliche Theologie will den Gedanken des Priestertums aller Gläubigen ernsthaft mit der Vision einer Kirche für Andere und mit Anderen verbinden und damit zum Empfehlungsbrief zu werden, der für alle Menschen verständlich und lesbar ist. Man verliert also keineswegs politisch-prophetische Schärfe, wenn man die Basis derer, die die Kirche ausmachen, in dieser Weise programmatisch erweitert. Die Pointe der Öffentlichen Theologie, an der sich zukünftig auch die Kritik orientieren sollte, ist, ob und in welchem Sinn das, „was Christum treibet“, im alltäglichen Denken und Handeln von evangelischen Christen überzeugend erkennbar wird.

Nun ist es eine in kirchlichen Reformprozessen längst formulierte Binsenweisheit, dass die fortwährende Erneuerung der Kirche (semper reformanda) von der ganzen Gemeinde ausgehen muss und dass deshalb möglichst breite Teilhabemöglichkeiten eröffnet werden müssen. Hier bildet sich mit zeitlicher Verzögerung ab, was seit den Neunzigerjahren als Stärkung der Zivilgesellschaft intensiv diskutiert und gefordert wird. Und natürlich finden Reformationsjubiläum, Flüchtlingsarbeit und Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Tendenzen in vielen einzelnen Kirchengemeinden längst statt. Kirche ist lokal eben immer schon in vielfältiger Weise öffentlich. Aber offenbar hat sich dies noch nicht bis in die kirchlichen Leitungsgremien durchgesprochen und auch das gemeindliche Selbstverständnis noch nicht wirklich erreicht.

Möglicherweise bildet sich im Selbstverständnis evangelischer Gemeindeglieder bis heute eine gewisse Gehorsamshaltung gegenüber dem landesherrlichen Kirchenregiment - bis hinein in die alltägliche Gemeindewirklichkeit, in der offenbar immer noch Wesentliches vom Wohl und Wehe des Pfarramtes abhängig gemacht wird. Wenn etwa - wie erlebt - Vikarinnen und Vikare beim Anblick ihres Bischofs zusammenzucken und innerlich stramm stehen, sollte dies nicht nur den angehenden Pfarrern peinlich sein, sondern auch dem Bischof. Und wenn eine Bischöfin geradezu von Jüngerinnen umgarnt und angehimmelt wird, sollte sie sich auch einmal zum Phänomen irrationaler Fankulte äußern.

Die Rede von einer Öffentlichen Theologie geht von der grundsätzlich antielitären Überzeugung aus, dass sie nur durch alle Kirchenmitglieder sichtbar werden kann. Es ist wohl kein Zufall, dass Öffentliche Theologie entscheidende Wurzeln gerade aus den reformierten Traditionen des Protestantismus bezieht. Insofern bedeutet Öffentliche Theologie, kirchliche wie politische Hierarchien immer wieder demokratisch zu durchwirken, zu prüfen und gegebenenfalls zu verändern.

Nun soll nicht dafür votiert werden, dass sich die Bischöfinnen und Bischöfe aus der Medienberichterstattung zurückziehen. Ihre Funktion bleibt im Sinn äußerer Erkennbarkeit und einer hoffentlich entsprechenden Glaubwürdigkeit vielmehr bedeutsam. Die evangelisch-lutherische Kirche lebt aus guten Gründen von einer funktional hierarchischen Ordnung mit entsprechenden bischöflichen Vollmachten. Udo Lindenbergs aktuelles Diktum „einer muss es ja machen“ hat insofern ihre historisch gewachsene und theologisch legitime institutionelle Analogie. Aber dies darf eben nicht zum Zentralismus führen.

Viele Gesichter

Denn neben der überregionalen medialen Öffentlichkeit werden lokale Stimmen zukünftig noch wichtiger und bedeutsamer. Wenn die evangelische Kirche in ihrer geistlichen und geistigen Bedeutung wirklich erfahrbar werden soll, müssen Menschen in Gemeindeinitiativen und in ihren individuellen religiösen Praktiken und theologischen Deutungen immer stärker das Gesicht, beziehungsweise die vielen Gesichter, von Kirche zum Ausdruck bringen. Es ist an der Zeit, sich der guten lutherischen Tradition des gegenseitigen Dialogs (mutuum colloquium) und der Stärkung der Brüder und Schwestern (consolatio fratrum et sororum) zu erinnern. Option für die Armen in einem weiten öffentlichen Sinn heißt dann, sich als Gemeinde der Brüder und Schwestern zu verstehen, die sich auf Augenhöhe zuhören, trösten und annehmen. Dann werden auch die patriarchalen Muster entzaubert.

Was Öffentliche Theologie wirklich meint und von welcher Relevanz eine öffentliche Kirche gegenwärtig tatsächlich sein kann, wirft dann auch wichtige Fragen auf. Die fachliche Expertise darf nicht den akademischen Expertinnen und Experten überlassen bleiben - tragen diese nun ein bischöfliches Ornat oder den einfachen Talar. Denn ob sie in ihren Amtsstuben und Gremien tatsächlich über eine so breite Weltwahrnehmungskompetenz verfügen wie jedes einfache Kirchenmitglied, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.

Bevor sich Religion also endgültig ins säkulare Nirwana auflöst, sollten Menschen das geistliche Leben am Ort im Fluss halten. Und kirchenleitendes Handeln muss ihnen ermöglichen, in der Kirche ganz eigenständig und wirklich verantwortlich mitzuwirken. Alle müssen den Raum erhalten, ihre Potenziale und Interessen einbringen zu können, auch wenn ihre Ideen möglicherweise nicht den jeweiligen Gemeindestandards entsprechen. Denn woher soll Innovation kommen, wenn nicht von einer breiteren aktiven Basis? Und Raum für eine relevante Mitwirkung existiert wahrlich genug. Seelsorge, Bildung, Verkündigung, Diakonie und Gemeindeentwicklung sind nicht nur etwas für besoldete Profis.

Die Idee, Kirchenleitung in diesem Sinn vom Kopf auf die Füße zu stellen, hat erhebliche Konsequenzen für Organisation und Recht der Kirche. Manche Entscheidungswege müssen anders werden, denn Teilhabe braucht eine breitere, auch rechtlich garantierte Entfaltungsbasis. Ein demokratisches Selbstverständnis von Kirche ist eine Frage der Haltung und eben auch der institutionellen Neugestaltung.

Über die Überzeugungskraft einer öffentlichen Kirche wird jedenfalls an der und durch die Basis entschieden. Und wenn Bischöfinnen und Bischöfe das Wort ergreifen und Steuer geben wollen, sollten sie gute Gründe vorbringen, weshalb man ihnen überhaupt zuhören soll - nicht nur, weil sie aufgrund ihres Amtes über einen vermeintlich herausgehobenen Status verfügen und ihre Worte deshalb besonders würdevoll erscheinen.

Thomas Schlag

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