Angenehm manisch

Seth Lakemans achter Streich
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Folk frönt dem Gespür für Verlust, was letztlich auch romantisch ist. Der Tod ist dort all gegenwärtig.

Raucher sind die allerletzten, die sich noch dem Tod stellen, dieser verdrängten, ärgerlichen, einzig sicheren Lebenstatsache. Könnte man meinen, wenn man sie mal nicht mit dem Zeitgeist als bloß Suchtgesteuerte geringschätzt. Beim Griff zum Takak atmen sie täglich schockbildverordnete Todesnähe. Ganz allein sind sie indes nicht: Folk frönt seit jeher diesem rein gar nicht utilitaristischen Gespür für Verlust, was letztlich auch romantisch ist. Tod ist dort all gegenwärtig - und die Folkgefolgschaft wächst.

Auf „Ballads of the Broken Few“, achte Soloplatte des Engländers Seth Lakeman, gilt das jedenfalls für alle elf Songs. Spärliche, soundstarke Instrumentierung zeichnet sie aus: Die verschleppt, teils leiernd, nie fiddle-virtuos gespielte Geige legt getragene Rhythmen vor, die unmittelbar ins Wippen bringen. Dass das als sakral empfunden wird, liegt an dem ergreifenden Gesang und daran, wie ihn mit viel Wärme das Vokaltrio „Wildwood Kin“, zwei Schwestern und ihre Cousine, mehrstimmig rahmt, überlagert, darauf antwortet. Gitarre und selten Percussionakzente und akustischer Bass kommen hinzu.

Der Körper nimmt konzentriert Spannung auf, die zwar stampfend ist, doch kurz vor eigentlichem Tanz verharrt. Feierlich, trotzdem locker. Eingespielt wurde in der Empfangshalle eines jakobinischen Gutshauses, um dessen organische Akustik zu nutzen. Der Titeltrack etwa ist feinster Americana-Stil mit Rockriffs, Gospelklatschen, verzerrter E-Gitarre, Schlagzeug. Unentrinnbar, vielleicht schaurig, aber wunderschön.

Harmonien und die sachte Melancholie von „Fading Sound“ erinnern an frühe Neil Young-Songs. Lakeman ist typisch und prägend für diese jüngste Folkwelle von den Inseln. Der traditionelle Fundus wird sehr gekonnt erweitert. Und wer wegen der „ballads“ im Titel bloß klischeemäßig seit dem Mittelalter überliefertes Liedgut erwartet, verwurzelt in den Mythen der Regionen und nun neu interpretiert, liegt falsch. Lakeman, der Geige, Bratsche und vierseitige Gitarre spielt und selbst aus Devon mit seinen Steinmonumenten der Megalithkultur kommt, schrieb fast alle Songs selbst, nur „Anna Lee“ ist von Ex-„The Band“-Mann Levon Helm.

Das Album wirkt angenehm manisch, ist inständig, drängend, lässt einem aber die Wahl, die man am liebsten gar nicht hätte. Man gerät in einen Gottesdienst, der zwar versteckt, doch sehr selbstbewusst in einer Höhlenkirche stattfindet, wie es sie etwa im Gasteinertal im Salzburger Land für verfolgte Protestanten gab. Fackeln spenden bewegtes Licht, rußen. Tiefer im Berg, wo sich die Höhle weitet, brennt sogar ein Lagerfeuer, aber fern von Abziehbildern, vielmehr auf eine Weise dringlich, dass es einen gebannt still macht. Das ist Ritualraum pur und fasziniert, wegen des präzisen Gespürs für Verlust. „Ballads of the Broken Few“ ist ein echter großer Gewinn.

Udo Feist

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