Dieses spezifische Gefühl der Nähe

Eine große Lukas-Cranach-Ausstellung in Düsseldorf
Bildnis Martin Luthers als Junker Jörg, 1521. Fotos: Museum Kunstpalast Düsseldorf
Bildnis Martin Luthers als Junker Jörg, 1521. Fotos: Museum Kunstpalast Düsseldorf
Lukas Cranach ist vielen nur als Maler der Reformation bekannt. Eine große Düsseldorfer Ausstellung zeigt auch seine vielen anderen Seiten und bestätigt, was Kunsthistoriker schon lange wissen: Er war ein Meister auf der Höhe Dürers, wie Helmut Kremers, der ehemalige zeitzeichen-Chefredakteur formuliert.

Ein weißbärtiger Mann, sichtlich noch bei Kräften, mit Augen, die noch nichts von Rückzug aus der Welt und diesem Leben haben: ein Porträt des alten Lukas Cranach, vermutlich gemalt von seinem Sohn, Lukas Cranach dem Jüngeren. Laut Bildinschrift steht Lukas Cranach im 77. Lebensjahr, entstanden ist das Werk 1550.

Da war Martin Luther schon vier Jahre tot. Cranach hat den Reformator um sieben Jahre überlebt, er, der Maler der Reformation: auf diesen Nenner wurde er lange gebracht. Nicht zu Unrecht. Er hat sie alle gemalt, die Reformatoren, denen er begegnet ist, Luther immer wieder, und: Er schuf die gröbsten polemischen Anti-Papst-Bilder, Holzschnitte zumeist, massenhaft verbreitet. Der Maler: ein Propagandist Luthers und der Reformation. So mächtig Luther das Wort zu handhaben wusste (wo der dem Volke aufs Maul schaute, traf er auch ins Herz der Gebildeten), so sehr leuchteten die gemalten Grobheiten nicht nur den analphabetischen Leuten ein. Ganz im Sinne des Reformators, der selbst umso heftiger wütete, je mehr ihn die bloße Möglichkeit des Zweifels bedrohte.

Wer nun von der großen Cranach-Ausstellung in Düsseldorf, nicht zufällig im Reformationsjahr, erwartet oder befürchtet, sie könnte überwiegend den Reformationsmaler würdigen, wird so oder so enttäuscht. Ja, Lutherporträts finden sich natürlich, anhand ihrer lässt sich trefflich darüber sinnieren, wie er, der Reformator, denn wirklich ausgesehen hat, wie in welchem Lebensalter – denn merkwürdig, auch das gelungenste und lebensvollste Bildnis lässt die Vorstellungskraft nicht eine letzte Barriere überwinden, mag diese vom historischen Abstand herrühren oder schlicht von dem Umstand, dass ein Bild ein Bild ist und den Eindruck lebendiger Präsenz nicht ersetzen kann.

Lukas Cranach war seit 1505 Hofmaler in Wittenberg, betraut mit mannigfachen Aufgaben, die wichtigste war, den Kurfürsten zu porträtieren. Später befreundete er sich mit Melanchthon und Luther, dessen Trauzeuge er 1525 wurde. Im bürgerlichen Leben hatte er sich da längst zum Maler-Unternehmer im großen Stil gemausert und zu einem angesehenen Honoratioren der kleinen Universitätsstadt in der damals sächsischen, heute brandenburgischen Provinz.

Seine Malwerkstatt lieferte, der Anachronismus sei erlaubt, am laufenden Band, und ganz und gar nicht nur für seine reformatorischen Freunde, nein, Cranach nahm auch Aufträge von der anderen Seite, der katholischen an, ja er bediente sogar Luthers erklärten Gegner aus dem Ablassstreit, den Kardinal Albrecht von Brandenburg.

Schöne Frauen

Und er hatte natürlich ein Leben vor seinem Engagement in Wittenberg. Geboren in Kronach in Oberfranken absolvierte er eine Lehre bei seinem Vater, der selbst Maler war, dann folgten wohl Gesellenjahre. Seit 1502 hielt er sich eine Zeitlang in Wien auf. Wie jeder Maler, der damals sein Brot verdienen wollte, malte er mit großem Fleiß religiöse Motive. Später, in seiner Wittenberger Werkstatt, wurde daraus eine nahezu serielle Malweise, nicht nur Madonnen entstanden bis zu seinem Lebensende in überwältigender Zahl – eine ganze Reihe von Motiven, nicht zuletzt Luther wurde immer und immer wieder kopiert.

Erst mit seinem Wiener Aufenthalt tritt er für die Historiker ans Licht. Ziemlich spät. Dürer (geb. 1471) etwa, der berühmteste unter den Malern der Zeit, hatte da schon viele seiner Werke geschaffen. Persönlich begegneten sich die beiden erst 1524 in Nürnberg. Da war Dürer für den Wittenberger Kollegen schon lange eine Bezugsgröße ersten Ranges. Von dessen Werk ließ er sich inspirieren. Ein Beispiel sind die Aktbilder: Dürer war der erste, der hierin nördlich der Alpen brillierte: Adam und Eva zunächst, Cranach folgte. Daneben immer wieder Venus mit Cupido, und, meist als Halbakt, Lukretia, die einer römischen Legende nach sich selbst erdolchte, weil sie sich, nach dem sie vergewaltigt worden war, entehrt fühlte.

Der unbekleidete Mensch war zuvor im christlichen Abendland tabuisiert. Adam und Eva boten fast das einzige entsprechende biblische Motiv, neben der Susanna im Bade. Die Renaissance entdeckte dann in der klassischen Mythologie und Legendenwelt die Möglichkeit, „nackete Bilder“ zu malen, so der Terminus Dürers. Aber dem Einfallsreichtum waren damit keine Grenzen gesetzt, wie etwa eine Cranachsche Verkörperung der Caritas als nackte Mutter inmitten ihrer ebenso nackten Kinder zeigt.

Schöne Frauen waren immer ein beliebtes Motiv, ob nun ein anonymes Modell, das Vorbild war, oder eine reiche Auftraggeberin. Das Porträt der Sibylle von Cleve entstand anlässlich ihrer Eheschließung im Jahre 1526. Sie war da gerade einmal vierzehn Jahre alt.

Rund zwei Jahrzehnte später, 1547, musste Ihr Ehemann, Kurfürst Johann Friedrich der Großmütige, nach seiner Niederlage gegen Karl V. in Gefangenschaft.

Drei Jahre später forderte Johann Friedrich – nicht mehr Kurfürst, nur noch Herzog – Lucas Cranach zu seiner Gesellschaft an, Cranach kam und blieb wohl oder übel die letzten zwei Jahre der fürstlichen Internierung. Er konnte sich jedoch frei bewegen und arbeiten. Zwischendurch begegnete er sogar Tizian, in Augsburg. Jene Sibylle aber, das junge Mädchen auf dem Bild von 1447, war inzwischen zu einer nach den Zeitumständen emanzipierten Frau geworden – sie hatte die ganze Zeit ihren abwesenden Mann vertreten.

Lukas Cranach zog nach seiner Rückkehr zu seiner Tochter nach Weimar, der neuen Residenz. Er starb am 16. Oktober 1553. Stellt ein Gemälde eine junge Fürstin dar, ist seine Deutung für die Kunstgeschichte kein Problem. Nicht bei allen Gemälden ist das der Fall. So bei dem Porträt einer jungen, reich gekleideten Frau, die einen nackten Säugling auf dem Schoß hält.

Erst spät ist die Entschlüsselung gelungen, dabei ist die Lösung im Bild versteckt. Im waldigen Hintergrund, nicht auf den ersten Blick zu entdecken, kriecht nämlich eine männliche Jammergestalt auf allen Vieren. Dies ist der Schlüssel: Es handelt sich um die Legende des Heiligen Chrysostomos. Als Einsiedler, so geht die Geschichte, traf er eines Tages eine verirrte Prinzessin im Wald. Er missbrauchte sie und stürzte sie anschließend eine Felswand hinunter. Die göttliche Strafe: er verlor den aufrechten Gang. Erst, als er der noch sehr lebendigen Prinzessin nebst Kind begegnete, wurde er begnadigt.

Doch auch weniger rätselhafte Motive erschließen sich dem Betrachter des einundzwanzigsten Jahrhunderts oft nur mit kundiger Hilfe. Gewiss ist nichts dagegen einzuwenden, sich nur der Opulenz des Gezeigten hinzugeben und so seine Phantasie anregen zu lassen. Wer sich aber damit nicht zufrieden geben will, wer die überwältigende Fülle der ausgestellten Werke einigermaßen einordnen möchte, ist auf die Lektüre des Katalogs angewiesen und muss sich damit abfinden, dass die dort veröffentlichten Aufsätze von Kunsthistorikern für Kunsthistoriker geschrieben sind. Aber die Mühe lohnt sich. In jedem Falle begegnet der Betrachter einem überragenden Künstler, der lange Zeit zu Unrecht irgendwo nach und unter Dürer eingeordnet wurde. Dass er auf die Maler der Moderne eingewirkt hat, zeigen eine Reihe von Cranach zitierenden Werken – auch in der Ausstellung zu sehen, etwa von Picasso oder, jüngstes Beispiel, eine „Sünderin“ von Katerina Belkina von 2014. Cranach gehört, heute unbestritten, in die erste Reihe der Maler seiner Zeit.

Aber der Betrachter begegnet in diesen Werken nicht nur dem Künstler, er begegnet auch einer Zeit, die uns, auf unserer europäischen Insel der Seligen, sehr fern gerückt ist, eine Zeit der immer bedrohten Lebensumstände – man denke nur an die alle paar Jahre auftretenden Seuchen –, eine Zeit tiefer Frömmigkeit, deren Unbedingtheit oft genug zum Fanatismus, zu wildem Aberglauben oder zu beidem ausartete. Dazu die sozialen Zustände, die die Menschen in aller Regel unerbittlich festbannten in ihren Stand, und zu denen wie selbstverständlich eine Justiz von rohester Grausamkeit gehörte.

Kunstgeschichte ist immer ein Spiegel der Geschichte. Erinnerung, Mnemosyne, unzuverlässige Göttin, die sie ist, und ihre Töchter, die Musen, vermögen es aber doch, eine Brücke über den Abgrund des Entrückt-Fremden zu schlagen: Wer in die vielen dargestellten Gesichter schaut, den wird vielleicht, über ein halbes Jahrtausend hinweg, unvermittelt ein Gefühl der Nähe überkommen, dieses Tat Tvam Asi: Das bist du.

Helmut Kremers

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