Gelungenes Vermittlungsgeschick

Kooperativ und kommunikativ – 1910 übernahm Fritz v. Bodelschwingh die Leitung Bethels
Pfingstpredigt am 4. Juni 1933 in Berlin  Fotos: Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
150 Jahre ist es her, dass die „Rheinisch-Westfälische Anstalt für Epileptische“ gegründet wurde, die dann später „v. Bodelschwinghsche Anstalten“ hieß. Friedrich v. Bodelschwingh d. J. übernahm 1910 die Leitung von seinem Vater im „Zeitalter der Weltkriege“. Der Bielefelder Kirchenhistoriker Matthias Benad gibt einen Überblick.

Pastor Fritz, wie er in Bethel liebevoll genannt wurde, war das letzte von acht Geschwistern. Die vier älteren waren 1869 an Diphterie gestorben. Dass den verwaisten Eltern erneut drei Jungen und ein Mädchen geboren wurden, galt als Erweis der Liebe Gottes. Der Jüngste stand seiner Mutter besonders nah. Sie litt an einer „anlagemäßig bedingten, periodischen Schwermut“ und dankte ihm kurz vor ihrem Tod, dass er sie „so liebewarm […] in manchen kranken und einsamen Stunden“ umgeben habe. An ihrer Seite dürfte sein Einfühlungsvermögen geschult worden sein, das ihn als Prediger, Seelsorger und Vermittler auszeichnete.

Wie seine Brüder entschloss sich Friedrich (1877 bis 1946) zum Theologiestudium. Der Vater wählte Studienorte und Professoren aus. Die stärksten theologischen Anregungen gewann der Sohn bei Adolf Schlatter in Tübingen. Kurz vor der Pensionierung holte der Vater Fritz 1904 nach Bethel bei Bielefeld, wo er sich als Stellvertreter des geistlichen Anstaltsleiters bewährte. Da schon lange vor dem Tode des Alten im April 1910 kein berufserfahrener Nachfolger in Sicht war, wurde dem 32-Jährigen umgehend die Gesamtleitung übertragen.

Im August 1914 begann mit dem Ersten Weltkrieg jene dichte Folge von Krisen und Katastrophen in der deutschen Geschichte, die nicht nur Fritz v. Bodelschwinghs Amtszeit prägen sollte. In Bethel wurden annähernd 2?000 Lazarettplätze geschaffen. Infolge Lebensmittelknappheit stieg die Sterblichkeitsrate unter den Epilepsiepatienten auf das Fünffache. Die Niederlage im Krieg verstand Pastor Fritz als Strafe Gottes für mangelnde Opferbereitschaft. Um dem Vaterland für die Zukunft „opferwillige, glaubensstarke (…) Persönlichkeiten“ zu gewinnen, gründete er die Heimvolkshochschule Lindenhof. In den folgenden Jahren entstand auch das Betheler Gymnasium. Um die Einheit des Werkes zu sichern, wurde 1921 der „Bund der v. Bodelschwinghschen Anstalten“ gebildet. Im März desselben Jahres starb überraschend Bruder Wilhelm, das Jahr darauf ging Bruder Gustav in Frühpension. Pastor Fritz war nun alleiniger Nachfolger des Vaters und musste eine Reihe wichtiger Personalentscheidungen treffen. Im Sommer 1921 wurde Erich Meyer Vorsteher der Schwesternschaft Sarepta (bis 1950). In der diakonischen Gemeinschaft Nazareth übernahm 1923 Paul Tegtmeyer dieses Amt (bis 1954). Er gehörte zu v. Bodelschwinghs Stützen, als die Diakonenschaft ins Fahrwasser der Hitlerbewegung geriet. Im selben Jahr holte Pastor Fritz Paul-Gerhard Braune als Leiter der Hoffnungstaler Anstalten nach Lobetal bei Berlin. Er wurde v. Bodelschwinghs Vertrauensmann im Kontakt zu staatlichen und kirchlichen Stellen in der Hauptstadt, insbesondere im Centralausschuss (CA) für die Innere Mission (IM), dem Braune bis zu seinem Tod im Jahre 1954 angehörte.

Die Weimarer Republik betrachtete Fritz v. Bodelschwingh mit Misstrauen, war sie doch aus dem Sturz der von Gott eingesetzten Obrigkeit hervorgegangen. Er befürchtete, durch den neu gegründeten Sozialstaat könnten „Ansprüche aller Art in unsere Mitte“ drängen. Die „Bethelgemeinde“ müsse aber „ein scharfes Instrument in der Hand ihres himmlischen Meisters“ bleiben. Als soziale Wohlfahrtsorganisation habe eine solche Anstalt nur einen geringen Wert.

Der 100. Geburtstag des Vaters 1931 bot Anlass, das bisherige Werk zu sichten. Trotz Weltkrieg, Revolution, Hyperinflation und Wirtschaftskrise hatte sich Bethel kräftig entwickelt. Den Kern bildeten die beiden größten Mutterhäuser des Protestantismus mit über 3?000 Schwestern, Brüdern und deren Ehefrauen. In fünf Anstaltskolonien gehörten rund 6?000 „Gesunde“ und ebenso viele „Kranke“ und Hilfsbedürftige zur Bethelgemeinde. Die Hauptarbeitsfelder Epilepsie, Psychiatrie, Wandererfürsorge, Fürsorgeerziehung und Allgemeinkrankenhäuser waren nach dem Krieg konzeptionell, organisatorisch und baulich konsolidiert und weiterentwickelt worden. Gleiches galt für zahlreiche andere Einrichtungen und Außenstationen.

Aber der Zusammenhalt der Gemeinde war gefährdet. Im Herbst 1931 wurde die NSDAP in Bethel zur stärksten politischen Bewegung. Fritz v. Bodelschwingh blieb Hindenburg-Anhänger – und hielt die Errichtung der Diktatur 1933 für die einzige Möglichkeit, um den Staat vor Anarchie und atheistischem Marxismus zu retten. Er beklagte die Quälerei von Juden. Es ging um Prügel, Hetze in der Presse, die Boykotte vom 1. April 1933, die auch zu Selbstmorden geführt hatten. Er hatte Briefe mit Schilderungen erhalten und war gebeten worden, sich öffentlich zu äußern, was er aber nicht wollte, hielt jedoch die gegenwärtige harte Reaktion auf die „Flut von Schmutz, Zersetzung und Unwahrheit“ aus „entartetem jüdischen Geist“ für „geschichtlich unvermeidlich“. Denunziationen in Bethel nötigten ihn, den Alttestamentler Wilhelm Vischer an der Theologischen Schule vom Dienst zu suspendieren. Zwei Chefärzte empfahlen derweil hinterrücks dem preußischen Wissenschaftsminister, die Leitung Bethels einem Staatskommissar zu übertragen.

Zwischen den Fronten

Ende Mai 1933 wurde Fritz v. Bodelschwingh zum Reichsbischof gewählt. Weite Kreise des deutschen Protestantismus hofften, im Schwung der nationalen Revolution werde die Gründung einer einheitlichen Deutschen Evangelischen Kirche (DEK) gelingen. Während die Kirchenverfassung noch in Arbeit war, versuchten die Führer der Landeskirchen, das Amt des Reichsbischofs schon vorab mit einem Mann zu besetzen, der für die Unabhängigkeit der Kirche stand. Pastor Fritz nahm pflichtbewusst die Wahl an, trat aber schon nach einem Monat wieder zurück, weil ihm die Reichsregierung die Anerkennung versagt hatte und die Unterstützung aus den Landeskirchen bröckelte.

Bei der reichsweiten Kirchenwahl erhielten die nationalsozialistischen Deutschen Christen (DC) eine Zweidrittelmehrheit. Um Klarheit über das Verhältnis der unterlegenen Bekenntniskräfte zu den DC zu klären, lud Fritz v. Bodelschwingh im August 1933 einen Kreis von Theologen ein, darunter Dietrich Bonhoeffer. Ihr Entwurf zu einem Betheler Bekenntnis wurde über 20 namhaften Theologen zur Stellungnahme zugesandt. Ihre Antworten lösten einen langwierigen Redaktionsprozess aus, an dem v. Bodelschwingh kein weiteres Interesse zeigte. Am Jahresende 1933 erschien ein von Martin Niemöller herausgegebener Text, der – im Unterschied zur Barmer Theologischen Erklärung – in den weiteren innerkirchlichen Kämpfen wenig Wirkung entfaltete.

Zur Scheidung der Geister trugen die DC selbst bei, als sie auf der Berliner Sportpalastkundgebung im November 1933 die Abkehr von den jüdischen „Viehhändler- und Zuhältergeschichten“ des Alten Testaments, die Verwerfung der Lehren des Juden Paulus und die Verkündigung eines heldischen Christus forderten. Eine Austrittswelle war die Folge. Bodelschwingh ging das Geschehen „sehr stark an die Nerven“, so dass er „regelrecht alles ausbrach, was er gegessen hatte. Es war eben teilweise richtig ‚zum Kotzen‘“, notierte ein Beobachter.

Ende Mai 1934 sorgte die Barmer Theologische Erklärung (BTE) für Klärung, obwohl auch sie über das Verhältnis der Christen zu den Juden schwieg. Pastor Fritz nahm als einziger berufener Synodaler an der Barmer Bekenntnissynode teil und stimmte der BTE zu, die zur Grundlage der nun entstehenden Bekennenden Kirche (BK) wurde. In den folgenden Kämpfen schlug er einen eigenständigen Weg zwischen den innerkirchlichen Fronten ein. Der Forderung der Dahlemer Synode, Anhänger der BK sollten sich von der Zusammenarbeit mit allen zurückziehen, die dem DC-Kirchenregiment weiter Gehorsam leisteten, lehnte er ab, weil viele „Mitglieder der (...) diakonischen Einrichtungen (...) nicht nur geistlich, sondern auch wirtschaftlich miteinander verbunden“ waren. Sie seien seiner Meinung nach erpresst worden. Stattdessen trieb er die Gründung der Reichsarbeitsgemeinschaft der diakonischen und missionarischen Werke und Verbände voran, die sich an der BTE orientierte, aber DC-Mitglieder nicht prinzipiell ausschloss. Um den Eindruck zu vermeiden, sein seelsorgerlicher Dienst gelte nur einer kirchenpolitischen Richtung, lehnte er es ab, die rote BK-Mitgliedskarte zu unterzeichnen.

Weil die DC mit der Selbstgleichschaltung des deutschen Protestantismus im NS-Staat gescheitert waren, gründete Hitler 1935 ein Reichskirchenministerium, dessen Aufgabe es sein sollte, die evangelische Kirche zu befrieden. Das eigentliche Ziel war die Spaltung der BK, was 1936 auch erreicht wurde. Mittel zum Zweck waren Kirchenausschüsse, in denen gemäßigte Kräfte beider Seiten mit Vertretern der kirchlichen Mitte zusammenarbeiten sollten. Bodelschwingh sah in diesem Vorgehen die Absicht des Staates, für geordnete kirchliche Verhältnisse zu sorgen, – so, wie es vor 1918 üblich gewesen war. Eine schwere Lungenerkrankung enthob ihn der Entscheidung, den Vorsitz im Reichskirchenausschuss selbst zu übernehmen. Er fand sich aber bereit, Emissäre des Reichskirchenministers am Krankenbett zu empfangen, um mit ihnen das Personaltableau für den Reichskirchenausschuss zu beraten.

Als im März 1940 in der IM ruchbar wurde, dass in Süddeutschland bis dahin gesunde Anstaltsbewohner reihenweise zu Tode kamen, war klar, dass die seit 1920 öffentlich diskutierte „Auslöschung lebensunwerten Lebens“ heimlich begonnen hatte. Im Auftrag des Centralausschusses für die Innere Mission suchten Fritz v. Bodelschwingh und Paul Gerhard Braune höchste staatliche Stellen auf. Mehrere Minister empfingen sie – und sie wussten angeblich von nichts. Am 18. Juli 1940 übergab Braune in der Reichskanzlei seine „Euthanasie“–Denkschrift, in der er zahlreiche einzelne Indizien zu einer schlüssigen Beweiskette verknüpft hatte. Als er mündlich Bescheid bekam, die Maßnahmen würden nicht eingestellt, in Zukunft aber „anständig“ durchgeführt, war klar, dass die Morde an höchster Stelle gebilligt wurden.

Da es nicht gelang, diese Verstöße gegen geltendes Recht zu stoppen, erhob v. Bodelschwingh die zwiespältige Forderung nach einer gesetzlichen Regelung, zu der es jedoch nicht kam. Er verweigerte das Ausfüllen von Meldebögen – und machte einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen. Sofern eine Anstalt wie Bethel den Besuch einer staatlichen Ärztekommission erhielte, werde man sich „selbstverständlich fügen“ und dieser – wie seit Jahrzehnten üblich – Patientenakten und mündliche Auskünfte nicht vorenthalten. „Dann aber würden wir die Provinzialverwaltungen bitten müssen, die in Betracht kommenden Krankengruppen (...) in eigene Anstalten zu übernehmen.“

Bodelschwingh und sein neuer Chefarzt Gerhard Schorsch entschlossen sich zu einem Weg, der unter normalen Umständen tabu gewesen wäre: Die Patienten wurden von Betheler Ärzten untersucht und in Kategorien eingeteilt, die denen der „Euthanasie“-Betreiber ähnelten. So sollten Argumente gewonnen werden, um als „Anwalt der Kranken“ auftreten zu können – und ansonsten auf Zeit zu spielen. Die Brisanz dieses „teilnehmenden Widerstandes“ lag darin, dass die Grenze zur Kollaboration nicht klar gezogen werden konnte. Die Ergebnisse der von Bethel vorgenommenen Kategorisierung wurden von der Ärztekommission als so zuverlässig anerkannt, dass sie ihre Tätigkeit erheblich früher beendete als geplant. Fritz v. Bodelschwingh rechnete nach der Abreise der Kommission damit, dass mit dem Abtransport von rund 450 Patienten zu rechnen sei.

Die angekündigten Transportlisten trafen aber nie ein. Das hing damit zusammen, dass v. Bodelschwingh neben seinen Verhandlungen mit den zuständigen Behörden beharrlich darauf gedrungen hatte, einen verantwortlichen Betreiber der Mordaktion zu treffen, um ihm seine Einwände persönlich vorzutragen. Tatsächlich kam im Februar 1941 Hitlers Begleitarzt Karl Brandt nach Bethel, freilich ohne darüber aufzuklären, dass er einen persönlichen Befehl des Führers für die Patientenmorde erhalten hatte. Bodelschwingh und Brandt bauten eine respektvolle persönliche Beziehung auf, die es dem Anstaltsleiter ermöglichte, Gedanken vorzutragen, die auszusprechen für ihn lebensgefährlich war. Er erreichte zwar bei Brandt keine grundlegende Veränderung seiner Einstellung. Aber er vermochte es, diesem doch zu vermitteln, dass hunderte Patienten und zahlreiche Verwundete in den Betheler Lazaretten ihren Angehörigen darüber schreiben würden, falls Mitbewohner in den berüchtigten grauen Bussen abtransportiert werden sollten. So blieb Bethel bis Kriegsende unbehelligt, auch wenn die Morde andernorts weitergingen und es 1942/43 kurz so aussah, als sollten die Anstalten nun ebenfalls mit einbezogen werden.

Vermittlungsgeschick

Trotz zwiespältigen Vorgehens und mancher Fehleinschätzungen: Dank seiner außerordentlichen kommunikativen Fähigkeiten gelang es Fritz v. Bodelschwingh als einzigem christlichenVerantwortungsträger in Deutschland, während des Krieges zu einem Mitglied des inneren Zirkels um Adolf Hitler durchzudringen und abweichenden Auffassungen Gehör zu verschaffen. Zahlreichen Betheler Patienten, die für einen Transport ausgewählt worden waren, rettete v. Bodelschwingh durch den Kontakt mit Brandt das Leben. Anderen konnte nicht geholfen werden. Im September 1940 wurden jüdische Patienten verlegt und, wie erwartet, umgebracht, weil die Anstaltsleitung keine Möglichkeiten mehr sah, diesen doppelt stigmatisierten Menschen zu helfen. Das v. Bodelschwingh gesagt haben soll, an seine Patienten käme man nur über seine Leiche, gehört zu den Erfindungen der Nachkriegszeit, die mit Billigung der Betheler Leitung weithin verbreitet wurden.

Im August 1945 war Fritz v. Bodelschwinghs Vermittlungsgeschick noch einmal gefragt. Als im nordhessischen Treysa die EKD gegründet wurde, fand einer der Teilnehmer, er sei „in allem der gute Engel der Versammlung“ gewesen. An Heiligabend 1945 stand er ein letztes Mal auf der Kanzel. Nachdem er noch am Vorabend mit Anstaltsangelegenheiten beschäftigt gewesen war, starb er am Morgen des 4. Januar 1946 in den Armen seiner Frau.

Matthias Benad

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Foto: Kirchliche Hochschule Wuppertal Bethel

Matthias Benad

Matthias Benad ist emeritierter Professor für Neuere Kirchengeschichte, Diakonie und Sozialgeschichte. Er lebt in Bielefeld.


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