Lässig und weise

Der gute Scheriff
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Reichlich Spannung und eine überaus unterhaltsame Charakterstudie über einen, den man biblisch auch einen „Narren in Christo“ nennen könnte.

„Manchmal muss man sich zurückhalten und Dingen Gelegenheit geben, sich zu entwickeln.“ Nach dieser Devise macht Lucian Wing seinen Job und er macht ihn gut. Er ist Sheriff in einem Landkreis in Vermont, Neuengland. Es gibt dort Farmen und einige kleine Ortschaften. Auch die Verbrechen sind meist nur geringfügig: Verkehrsdelikte, Einbrüche – solche Sachen – und am Wochenende alkoholbefeuerte Schlägereien. Wing regelt das souverän. Er kennt seine Pappenheimer und ruht in sich selbst, ist cool und extrem lässig, so eine Art Alltagsphilosoph gewitzter Großzügigkeit.

Sonst heißt es ja, der Sheriff ist das Gesetz. Wing sieht das anders. Für ihn ist Sheriffsein weich, nie perfekt. Nur das Gesetz sei hart – eben das, was danach kommt, wenn der Sheriff seinen Job nicht gut gemacht hat. Erst den Dingen – und Übeltätern – Zeit lassen, dann seinen Job machen. Was das jeweils ist, weiß man schon, findet er, und fuhr damit bisher gut. Nachsicht, die nach spinnertem Sozialarbeiteransatz klingt. So wundert nicht, dass Castle Freemans Krimi „Auf die sanfte Tour“ im Original mit „All That I Have“ betitelt ist, einem Zitat aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn, das ihm auch vorangestellt ist: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein.“

Dass da die Probe aufs Exempel ansteht, ist dramaturgisch klar: Nachdem schwerreiche Russen aus New York hergezogen sind – Mafia-Typen, im Roman stets nur „die Investoren“ genannt, gibt es Ärger von ganz anderem Kaliber. Sie haben sich hier eine protzige Villa gebaut, aus der bei einem Einbruch ein Safe gestohlen wurde, der heikle Papiere enthält. Der Verdächtige ist rasch ausgemacht, und ebenso rasch tauchen üble Killer auf, die ihn jagen. Es ist Dachdecker Sean, „Superboy“ genannt. Attraktiv, sexuell in der Gegend sehr aktiv, aber „nicht die hellste Kerze in der Kirche“ und notorisch kleinkriminell, also einer von Wings Pappenheimern. Und der versucht nun, die Sache wie stets auf seine Weise zu regeln, damit die Russen ihren Safe zurückbekommen, ohne dass sie Leichen hinterlassen.

Das kann eigentlich nicht gut gehen, sorgt jedoch für reichlich Spannung und ist der Rahmen für eine witzige und überaus unterhaltsame Charakterstudie über einen, den man biblisch auch einen „Narren in Christo“ nennen könnte. Denn es ist offen, ob Sheriff Wing wirklich so cool ist oder nicht doch eher dumm. Aber auch das gehört zu seinem Kalkül: Es sei gut, unterschätzt zu werden, findet er. Trotzdem wird es für ihn eng, denn er hat nicht nur die Russen zu bändigen und einen Trottel vor sich selbst zu schützen, sondern auch privat großen Druck. Um so faszinierender ist zu lesen, wie er das durchzieht. Eben seinen Job macht – wie Wing das selbst nennen würde –, eine literarische Gestalt, die man nie mehr vergisst.

Die erinnert zwar an den aufrechten Sheriff Bell aus Cormac McCarthys Southern Western-Thriller „Kein Land für alte Männer“, den man nicht genug loben kann. Doch während dort die Brutalität ungefiltert losgelassen ist, wird sie hier bloß angedeutet ausgeführt. Ich-Erzähler Lucian Wing steht im Mittelpunkt. Man mag ihn bewundern oder für utopisch halten, dennoch bleibt hängen, dass er erstrebenswert cool ist und irgendwie auch weise. Er achtet auf sich – und auf die Menschen. Ein angenehm starker Roman, überzeugend wie wohltuend lässig.

Udo Feist

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