Teuer erkauft

Ehe in reformatorischer Perspektive
Familie Steinhäuser-Degelow mit Pflegetochter Sophia (Foto: epd)
Familie Steinhäuser-Degelow mit Pflegetochter Sophia (Foto: epd)
Institutionen sind Ausdruck menschlicher Kultur und damit Garanten wahrer Freiheit. Nach reformatorischem Verständnis sind Ehe und Familie aber Institutionen, die immer wieder dem Wandel unterworfen sind, wobei dieser mit Risiken behaftet ist, zeigt Elisabeth Gräb-Schmidt, Professorin für Systematische Theologie in Tübingen und Mitglied des Rates der EKD, anlässlich der „Ehe für alle“.

In der Orientierungshilfe des Rates der EKD, die 2013 unter dem Titel „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ erschien, wurde ein profiliertes Institutionenverständnis vermisst und angemahnt. Aber nicht erst seit diesem Streit ist eine angemessene Beurteilung des Charakters von Institutionen eine Herausforderung für die reformatorische Theologie. Er ist seit jeher durch die Verschränkung von Gebundenheit und Freiheit herausgefordert, wird allerdings in der Frage nach dem Verständnis von Ehe und Familie in reformatorischer Sicht zum hermeneutischen Fokus verantworteter interpersonaler und intergenerationeller Beziehung.

Im Traubüchlein für den einfältigen Pfarrherrn von 1529 nennt Martin Luther die Ehe ein „weltliches“ Geschäft. Zugleich sieht er aber in der Ehe, die auf Familie hin angelegt ist, einen „göttlichen Stand“. Entgegen einem ersten Eindruck widersprechen sich diese beiden Einschätzungen nicht. Vielmehr interpretieren sie einander. Denn weil Ehe und Familie dem göttlichen Stand entsprechen, haben sie auch ihren ordnungsgemäßen Ort in der Welt. Hier spiegelt sich die besondere Konstellation der Zwei-Reiche-Lehre Luthers, die Gottes Handeln in und seine Herrschaft über beide Bereiche walten sieht, ohne dass diese der menschlichen Gestaltung entzogen sind. Demnach stehen Institutionen im Dienst der Bewahrung und Begleitung menschlichen Handelns. Nur so, in diesem Wechselspiel von Freiheit und Gebundenheit, dienen Institutionen der Bildung und Reifung des Individuums wie der Gesellschaft im Ganzen.

In der Moderne verstehen wir Institutionen in erster Linie als funktionale Einrichtungen, die zweckorientiert Orientierungsbedürfnisse des Menschen befriedigen und die den Arbeits- und Lebensalltag entlasten. So zutreffend dieses funktionalistische Verständnis ist, so einseitig ist es aber, denn es vernachlässigt den überindividuellen, überrationalen und überzeitlichen Charakter von Institutionen. Mit ihnen geht es um das Verständnis von Ordnungsstrukturen, die für das Menschsein unverzichtbar sind, gerade auch wegen der Erhaltung von Freiheit und Kritikfähigkeit des Menschen. Tradition und Rationalität gehen in Institutionen eine freiheitliche Verbindung ein, die beide über sich hinausweist. Institutionen ist eine Ordnung eingestiftet, die nicht machbar, aber durchaus freiheitlich geprägt ist.

Institutionen sind nicht naturgegeben - aber eben auch nicht Gott gegeben -, sondern soziale Errungenschaften, die ein Beieinander von Stiftung und Gestaltung abbilden. Eine rigoristische Auffassung von der Unantastbarkeit der Institutionen widerspricht daher ebenso dem Verständnis der Institution wie eine rein funktionalistische. Institutionen können nicht als sakrosankt feststehende unveränderliche Größen auftreten, denn auch in ihnen fließen kulturelle Bedingtheiten ein, die unter neuen Bedingungen wiederum neu gestaltet werden können und sollen. Institutionen sind der Zeit unterworfen und sie sind nicht lebensfähig, wenn sie keinen Rückhalt mehr in der gelebten Sozialität finden.

Diese mit dem gesellschaftlichen Wandel hervortretenden Herausforderung melden sich nun auch angesichts der Verlautbarung der EKD anlässlich der Debatte des Bundestags zur „Ehe für alle“. Hier bekennt sich die EKD zur Ehe als Zukunftsmodell. In ihrem rechtlich geschützten Rahmen bietet die Ehe Raum für den Wunsch und die Unterstützung einer lebenslangen verbindlichen Partnerschaft. Und die Öffnung dieses Instituts für gleichgeschlechtliche Paare muss mit der Forderung einhergehen, auf die Ausgestaltung des rechtlichen Rahmens zu achten.

Damit nimmt die EKD jenes Verständnis von Institutionen ernst, die in ihnen kein Bollwerk gegen gesellschaftlichen Wandel sieht, sondern sie als lebensdienliche Ordnung einer an Freiheit orientierten humanen Gesellschaft begreift. Eine solche Gesellschaft richtet sich gegen Diskriminierungen, ohne zu vergessen, dass jede Öffnung des Freiheitsraums neue Schutzanforderungen hervorruft, dem die Institutionen als Lebens- und Schutzraum für alle Glieder der Gesellschaft Rechnung tragen müssen.

Die Institution der Ehe kann dieses Wechselspiel von Freiheit und Ordnung abbilden, indem sie den Raum der Freiheit in der Bindung aneinander schützt im Sinne guten und gerechten und dann auch glücklichen Lebens. Die symbolische Bedeutung der Ehe als Sinnbild glücklichen Lebens ist offensichtlich bei allen emanzipativen und auch feindlichen Angriffen auf sie als Institution nicht zum Verschwinden zu bringen. Junge Menschen träumen nach wie vor von ihr, obwohl ihnen die Realität der Scheidungen und des permanenten Scheiterns von Beziehungen drastisch vor Augen steht und sie eines Besseren belehren müsste. Und auch von gleichgeschlechtlichen Paaren wird sie gewünscht. Sorge um Nachkommen und Sexualität sind zwar biblisch zusammengebunden und der freiheitlichen Beziehungsgestaltung des Menschen in Institutionen aufgetragen. Das Offensein für andere Beziehungsformen schließt dies aber nicht aus.

Diese Sehnsucht und dieses Streben nach Gemeinschaft hat daher auch über die Erzeugung von Nachkommenschaft hinaus in der Verbindung zweier Menschen ihr eigenes Recht. Das liegt nicht nur im Sicherheitsstreben, das Sorge für das Generationenverhältnis trägt, sondern es liegt auch daran, dass es ein inneres Sehnen des Menschen nach solcher Gemeinschaft gibt. Nicht nur, weil er in Gesellschaft und Gemeinschaft existiert, ist es nicht gut, dass der Mensch allein sei, sondern auch weil er in seiner Individualität auf ein Gegenüber hinstrebt.

Wir bedürfen solchen geglückten Zusammenlebens mit, in und am Anderen, in der der Mensch seine Ebenbildlichkeit erfährt. Das ist in jener paradiesischen, partnerschaftlichen Beziehung des unbedingten aufeinander Verwiesenseins ausgesprochen, wie es im hebräischen Wort des Erkennens „jadah“ intendiert ist. In solcher Begegnung mit dem Anderen kommt etwas zum Vorschein, das ein Licht auf den Charakter der Institution als solcher fallen lässt. Denn neben der rechtlichen und sozialen Begründung, die durchaus nicht zu vernachlässigen ist, schwingt in den Institutionen immer auch eine ethisch-religiöse Dimension mit.

Für die Ehe bedeutet das, dass in der Liebe die Treue des Anderen mitgedacht ist, die der Liebe erst ihre Entfaltungsmöglichkeiten gewährt. Freiheit versteht sich dort nicht als Beliebigkeit und Willkür, schon gar nicht als egoistische Bedürfnisbefriedigung, die den Anderen zum Objekt degradiert, sondern als Gestaltungsauftrag der eigenen Beziehung. Das sich Finden im Anderen und das

Erkennen des Anderen ist nicht natürlich gegeben, es muss vielmehr in Freiheit gewonnen werden. Dabei weiß das christliche Verständnis des Menschen um dessen Entfremdung und die Korruption seiner Zielbestimmung.

Christliche Theologie hat dafür den Begriff der „Sünde“ geprägt. Ergebnis solcher Sünde ist die Isolation und das Missverstehen der Liebesbeziehungen. Diese Freiheit braucht daher selbst einen Schutz. Sozialer Schutz gegen die menschlichen Irrungen und Schwächen dokumentiert sich auch in den Institutionen. Institutionen, die für diesen Raum beweglicher Freiheit stehen, können dann mit dafür Sorge tragen, die Freiheit als Freiheit zu erhalten, indem der Haltung des Anerkennens und Erkennens Raum und Zeit gewährt wird.

Nach Martin Luther äußert sich das in der Ehe darin, dass „eines das ander von Herzen und mit ganzer Treue meine“. Damit wird die Institution der Ehe zum Sinnbild der Annahme des Anderen. Die Weitung der Institution Ehe wertet mithin auch die mittelalterliche Dimension der moralischen Keuschheit auf. Auch Luther hatte zwei Dimensionen der Ehe im Blick: Zunächst und an erster Stelle dient sie als Rechtsinstitut der Sorge für Nachkommenschaft, an zweiter Stelle dann aber der Kanalisierung der Begierde. Auf die zweite Dimension kann sich in veränderter Form auch die Forderung nach Verlässlichkeit und Treue der Partnerschaft berufen, die grundlegend den Schutz für die Schwächeren in der Paarbeziehung wie in der Familie auch berücksichtigt.

Gerade hier birgt die Öffnung der Ehe Gefahren hinsichtlich des Schutzes der Schwachen im Generationenverhältnis. Orientiert sich die Güte der Institution am Erhalt von Freiheit, dann ist genau diese Funktion für das Generationenverhältnis zu beachten. Und was das bedeutet, ist in seiner ethischen Komplexität angesichts der christlich und auch rechtlich vorausgesetzten Unverfügbarkeit menschlichen Lebens noch lange nicht erfasst, geschweige denn dargelegt.

Angedeutet sei hier nur so viel: Selbst wenn die Ehe sich nicht mehr nur an die Zweigeschlechtlichkeit gebunden sieht, wird dies für die Zeugung von Kindern nicht aufzugeben sein. Für die Öffnung der Ehe bedeutet das, dass jetzt erhöhte Anforderungen an den Schutz der Familie, das heißt der Kinder, gedacht werden muss. Dies betrifft vor allem die Frage der physischen Reproduktion. Das Offensein für Kinder, das die Ehe als zweigeschlechtliche Institution vorsieht, ist daher nicht ohne weiteres auf gleichgeschlechtliche Verhältnisse zu übertragen. Eine Offenheit der Ehe für Kinder, die bisher konstitutiv mit dem Verständnis von Ehe verbunden war, wird durch die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Verbindungen problematisiert werden müssen. Ein Recht auf Kinder kann daraus nicht abgeleitet werden. Ein solches Recht gibt es nicht.

Mit der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wird man sich der Mühe unterziehen müssen, dem Gewinn an Selbstbestimmung in der Lebensführung eine Pflicht der ethischen Reflexion des „Kindeswohls“ zur Seite zu stellen. Die meist rudimentäre Rede vom „Kindeswohl“ verdeckt unter einem solchen Pauschalbegriff, dass für dessen Sorge auch die Kenntnis und Rücksicht auf dessen Voraussetzungsbedingungen gehört. Ein leichtfertiges Heranziehen (noch) futuristischer Szenarien der Ablösung des Geborenwerdens durch technisches Reproduzieren zur Verteidigung der Nivellierung solcher Bedenken verbietet sich. Nicht technisch Gemachtes, sondern die unverfügbar, kontingent geborene, leibliche Individualbestimmtheit steht für die Freiheit und Würde des Individuums. Wie die Freiheit selbst, so darf auch das humane Leben seiner Unverfügbarkeit und Unhintergehbarkeit nicht beraubt werden, sollte es sich nicht selbst verlieren.

Mehr Freiheit ist unter menschenwürdigen, menschenrechtlichen Bedingungen mit mehr moralischer Normativität verbunden. Darauf verweist ein erhöhter ethischer Erklärungsbedarf bezüglich der in der Reproduktionsmedizin verhandelten Fragen mit all ihren Folgeproblemen, wie etwa der Frage der Leihmutterschaft. Damit ist aber mit der Ankündigung, die Institution Ehe nicht mehr nur an verschiedengeschlechtliche Paare zu binden, etwas erreicht, das mit erheblichen Folgefragen verbunden ist.

Dieser Wandel der Institution ist teuer erkauft. Es ist zwar ein Schritt, der mit einem Zugewinn an Freiheit verbunden ist. Zugleich stellt er enorm erhöhte Schutzanforderungen, sollte das Freiheitsversprechen nicht in sich selbst zusammenfallen. Die Theologie hat dafür zu sorgen, dass sich diese Reflexion der Freiheitsbedingungen an einer schöpfungsbestimmten Sicht des Menschen orientiert. Was dies im Einzelnen bedeutet, liegt nicht immer klar auf der Hand, sondern ist dem Diskurs der moralischen Überzeugungen im Feld der sozialen und wissenschaftlich-technischen Wandlungen abzuspüren. Sakrosankte einfache Wahrheiten gibt es nicht, die sich in moralische Werte gießen lassen.

Das Recht trägt dieser Wandlung Rechnung, indem es verändertes moralisches Wertempfinden berücksichtigt. Dabei gibt es Grenzen der Akzeptanz, die nicht ins Beliebige verschiebbar sind, soll der Mensch als Mensch seines Humanum nicht verlustig gehen. Diese Grenze ist markiert durch den Erhalt der Freiheit und Würde des Anderen, auch und gerade desjenigen, der sich nicht selbst wehren kann. Die Lebensdienlichkeit von Institutionen erweist sich an der Abbildung eines Wechselspiels von errungener Freiheit durch Wandel und Etablierung des Schutzraums für die Erhaltung der Freiheit gerade auch des Schwächeren. Institutionen sind daher nicht beliebig und nicht grenzenlos disponibel. Ein Wandel der Institutionen bleibt immer der Erhaltung der Freiheit und Würde des verletzlichen Menschen selbst verpflichtet.

Wenn wir das Verhältnis von Freiheit und Institutionen bestimmen wollen, dann rücken wir zum Kern der reformatorischen Botschaft vor, die sich in der Freiheit eines Christenmenschen dokumentiert. Dass Freiheit einhergehen muss mit Selbstbeschränkung, ja dass diese Ausdruck von endlicher Freiheit ist, war die große Einsicht des Philosophen Immanuel Kant (1724–1804). Damit brachte er gleichwohl lediglich einen Gedanken Luthers zur Geltung, der Freiheit als Befreiungserfahrung von einer sich selbst überschätzenden und überfordernden Freiheit begriff. Menschliche Freiheit – das hat der Reformator klar gesehen – ist keine sich selbst setzende Freiheit. Menschliche Freiheit ist endliche Freiheit. Sie hat daher auf ihre Bedingungen und ihre Abhängigkeiten zu achten. Sonst missversteht sie sich und droht selbst totalitär zu werden. Dies schränkt menschliche Freiheit nicht ein, sondern befähigt sie zur mutigen und wagenden Übernahme von Verantwortung.

Solche freiheitliche Verantwortung bezieht sich auch auf die Erhaltung und Gestaltung von Institutionen. Das Wesen der Institution verstehen heißt damit, die Freiheit des Menschen als seine Verantwortung für die Freiheit und Würde des Anderen zu verstehen.

Elisabeth Gräb-Schmidt

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