Jesus als größter Revolutionär

Die Nähe von Berlins Studentenführer Rudi Dutschke zum Christentum
Rudi Dutschke auf der Kanzel: Rund 200 Studenten der Berliner Universitäten versammelten sich am 20. Juni 1967 in der Neu-Westend-Kirche zur  Diskussionsrunde. Foto: dpa
Rudi Dutschke auf der Kanzel: Rund 200 Studenten der Berliner Universitäten versammelten sich am 20. Juni 1967 in der Neu-Westend-Kirche zur Diskussionsrunde. Foto: dpa
Vor fünfzig Jahren wurde Rudi Dutschke bei einem Attentat so schwer verletzt, dass er nur knapp überlebte und wieder lesen und schreiben lernen musste. Das ist bekannt. Weniger bekannt ist, wie stark der führende Kopf der Studentenbewegung christlich geprägt war. Eine Einordnung des Dutschke-Biografen Ulrich Chaussy.

Kann man sich den linken Rebellen und Bürgerschreck Rudi Dutschke als einen Betenden vorstellen? Es ist gewiss nicht das Bild, das man mit ihm verbindet. In seinem ausführlichsten autobiographischen Text, den er zwei Jahre vor seinem Tod für die von Fritz Raddatz herausgegebene Anthologie „Warum ich Marxist bin“ geschrieben hat, stellt er sich selbst so vor: Dutschke ist ein Kriegskind, geboren am 7. März 1940 im Dorf Schönefeld bei Luckenwalde in der Mark Brandenburg, in der Einflugschneise der alliierten Bomberverbände, die Kurs auf Berlin nehmen.

„Eins steht fest“, schreibt er einleitend über die Bedeutung, die der Marxismus für ihn gewonnen hat, „das Christentum im allgemeinen und Jesus Christus im Besonderen lagen da bei mir viel früher. Mit dem Beten begann ich schon in den vierziger Jahren, und als die Bomben fielen, die unbekannten Flugzeuge über unsere Stadt flogen, hatte ich dazu, wie viele andere, durchaus Gründe.“ Das Sprichwort „Not lehrt beten“ gilt also für den jüngsten der vier Söhne von Elsbeth Dutschke, und die Mutter ist die Person, die vorlebt, aus dem Beten Kraft zu schöpfen, die Not zu wenden, die mit dem Tag der Befreiung am 8. Mai 1945 noch nicht zu Ende war. „Ein Grund für das Beten, der Krieg, war weg, doch das war noch nicht alles. Schließlich war der Vater noch nicht zu Hause, und die Mutter, es war nicht zu übersehen, weinte des Öfteren. Das Beten festigte sich, und die Mitarbeit in der christlichen Gemeinde im nächsten Jahrzehnt war neben Schule und Sport von wesentlicher Bedeutung.“

Rudi Dutschke ist sieben Jahre, als er seinen Vater Alfred zum ersten Mal bewusst erlebt, der krank und unterernährt nach zwei Jahren Gefangenschaft in einem Waldlager zwischen Leningrad und Moskau 1947 endlich heimkehren kann. Das Leben in der frühen DDR, die sich als erster „sozialistischer Arbeiter- und Bauerstaat“ auf deutschem Boden konstituierte und anpries, war zu Beginn der Fünfzigerjahre für die kleinbürgerliche Familie Dutschke noch völlig konfliktfrei. Die Mutter stammte von einem kleinen Bauernhof, der Vater war Postangestellter, und ihr – evangelisches – christliches Bekenntnis kollidierte vorerst nicht mit irgendwelchen von der von Staats- und Parteiführung ausgegebenen Leitlinien für das erwünschte persönliche und politische Wohlverhalten. Nach der Erinnerung des Pfarrers Martin Skrodt war Familie Dutschke im Gemeindeleben fest verwurzelt und aktiv beteiligt.

Früh stach besonders der jüngste Sohn hervor, den Skrodt bald in der Kirche St. Petri konfirmieren sollte: „1952 lernte ich Rudi Dutschke kennen. Mir persönlich fiel er durch seine regelmäßige Teilnahme an den Gottesdiensten in der Kirche auf. Er kam aus einem sehr kirchlichen Elternhaus. Seine Mutter war ein treues Mitglied der Evangelischen Frauenhilfe. Der Vater war fast sonntäglich in der Kirche. Die Kirche selbst war eine verhältnismäßig kleine, aber helle und schöne Kirche, ohne Seitenempore, aber mit einer Orgelempore. In dieser Kirche veranstaltete die ›Junge Gemeinde‹ zuweilen Gemeindeabende, die einen volksmissionarischen Charakter haben sollten.

Rudi nahm daran teil, nicht nur als Zuhörer, sondern mitwirkend. Er ergriff gelegentlich das Wort. Das geschah sachlich und frei von künstlichem Enthusiasmus. Dabei stellte er seine Meinung nicht in den Schatten. Er war offen im Gespräch, zuweilen auch kritisch. Er besaß eine gewisse schon damals auffallende Begabung, in gut formulierten Sätzen das zu sagen, was er dachte oder sagen wollte.“ Eine erste noch sanktionsfreie Bewährungsprobe hatte Rudi Dutschke im Jahr seiner Konfirmation 1954 zu bestehen. Parallel zu seinem Engagement bei der Jungen Gemeinde war er mittlerweile Mitglied der Freien Deutschen Jugend, der FDJ, geworden. Die einzige staatlich geförderte Massenorganisation für alle ab 14-jährigen Jugendlichen installierte als Ritual die so genannte Jugendweihe.

Christliche Prägung

Der Aufforderung aus der FDJ-Leitung, auf die Konfirmation zu verzichten und nur die Jugendweihe zu feiern, wurde in der Familie Dutschke mit einem resolutem Sowohl – Als Auch beantwortet: Rudi wurde konfirmiert, oder wie es in Brandenburg hieß: eingesegnet – und feierte Jugendweihe. „Bei uns zu Hause gab es nie einen sich ausschließenden Gegensatz von Christentum und Sozialismus“, so Dutschke: „Die soziale und die Glaubensfrage waren lutherisch verknotet: man kümmerte sich um einzelne soziale Sorgen – aber politische Allgemeinprobleme standen kaum zur Debatte.“ Hierin allerdings, in der Neigung, allgemeinen Problemen auf den Grund gehen zu wollen, zeigte sich bei Rudi, dem jüngsten in der Familie Dutschke, schon früh eine ausgeprägte Konsequenz.

Man erspürt sie daran, wie Dutschke als Jugendlicher in der nun immer antagonistischer in West und Ost gespaltenen Welt seine grundsätzliche Entscheidung für den Sozialismus traf, und welche Rolle dabei seine christliche Prägung spielte: „Der zweite Weltkrieg kam nicht aus heiterem Himmel, so wenig wie die Hölle der deutschen Konzentrationslager. Mein christliches Verständnis wehrte sich dagegen, denjenigen dafür verantwortlich zu machen, der die Liebe gelebt hatte und dafür ans Kreuz musste. So stellte sich mir die Frage nach den Verantwortlichen für den Zweiten Weltkrieg. Meine christliche Scham über das Geschehene war so groß, dass ich es ablehnte, weitere Beweisdokumente zu lesen und mich mit einer allgemeinen Erkenntnis zufriedengab: der Sieg und die Macht der NSDAP, das Entstehen des Zweiten Weltkriegs ist von dem Bündnis zwischen NSDAP und den Reichen (Monopolkapital) nicht zu trennen.

Damit war der Raum frei geworden für die erste Entscheidung: zwischen Kapitalismus und Sozialismus grundlegend differenzieren zu können und dennoch mein Christentum nicht aufzugeben.“

Zu beten spielt für Rudi Dutschke in seiner Jugend in der DDR auch dann noch eine Rolle, wenn nicht mehr die eigene Not, sondern die anderer dazu anleitet. So ist er begeistert über die Nachrichten vom Volksaufstand der Ungarn – und entsetzt über dessen blutige Niederschlagung durch russische Truppen. In der irritierenden Situation, dass darüber im eigenen Land kaum irgendwo ein offenes Gespräch möglich ist, weder in der Oberschule noch zu Hause, bleibt das Gebet als Fürbitte, als Geste der Selbstversicherung des eigenen Standpunktes und der Solidarität mit den Bedrängten: „Was machte ein junger Sozialist in solch einer Zeit?“ fragt Dutschke und gibt die Antwort: „Wieder wurde gebetet und ein militärischer uno-Eingriff gewünscht.“

Zwei Jahre später steht die Abiturprüfung an, und es ist erneut die Frage des Krieges, die Rudi Dutschkes bislang konfliktfreien Gleichklang eines Lebens als engagiertes Mitglied der Jungen Gemeinde und der Staatsjugend FDJ, als Christ und Sozialist, endgültig beendet.

Damit war der Raum frei geworden für die erste Entscheidung: zwischen Kapitalismus und Sozialismus grundlegend differenzieren zu können und dennoch mein Christentum nicht aufzugeben.“

Zu beten spielt für Rudi Dutschke in seiner Jugend in der DDR auch dann noch eine Rolle, wenn nicht mehr die eigene Not, sondern die anderer dazu anleitet. So ist er begeistert über die Nachrichten vom Volksaufstand der Ungarn – und entsetzt über dessen blutige Niederschlagung durch russische Truppen. In der irritierenden Situation, dass darüber im eigenen Land kaum irgendwo ein offenes Gespräch möglich ist, weder in der Oberschule noch zu Hause, bleibt das Gebet als Fürbitte, als Geste der Selbstversicherung des eigenen Standpunktes und der Solidarität mit den Bedrängten: „Was machte ein junger Sozialist in solch einer Zeit?“ fragt Dutschke und gibt die Antwort: „Wieder wurde gebetet und ein militärischer uno-Eingriff gewünscht.“

Zwei Jahre später steht die Abiturprüfung an, und es ist erneut die Frage des Krieges, die Rudi Dutschkes bislang konfliktfreien Gleichklang eines Lebens als engagiertes Mitglied der Jungen Gemeinde und der Staatsjugend FDJ, als Christ und Sozialist, endgültig beendet.

Nicht unerheblich für diesen Gleichklang war die in den ersten Jahren der DDR ausgeprägte pazifistische Grundhaltung von Partei- und Staatsführung, die bis in die schulische Erziehung mit allerlei Symbolhandlungen vermittelt wurde, wie etwa der Ächtung und Verschrottung von Kriegsspielzeug. 1958 aber ist alles anders, die DDR-Regierung hat sich – wie die westliche Bundesrepublik – zur Wiederbewaffnung und der Aufstellung einer Armee entschlossen.

Die eben noch pazifistischen Lehrer bedrängen nun ihre Schüler, sich, wie es heißt, freiwillig für die Kasernierte Volkspolizei zu verpflichten, eine Vorform der Nationalen Volksarmee. Der nicht so biegsame Rudi Dutschke macht diesen abrupten 180-Grad-Schwenk nicht mit und verhehlt das weder in der FDJ noch in der Schule: „So sah ich schon sehr früh die Schrecken des Krieges“, schreibt er, aufgefordert, sich zu rechtfertigen, an seinen Schuldirektor, und fährt fort: „Ich hörte, dass mein Onkel bei Maikop durch einen Volltreffer in seinem Panzer ums Leben gekommen war. Die Benachrichtigung darüber sagte aus: ›Gefallen für Führer und Reich‹. Was uns dieser Führer und dieses Reich gebracht haben, sehen wir erst heute, da an eine Einheit Deutschlands noch nicht wieder zu denken ist. Es soll nicht noch einmal heißen ›gefallen‹. Meine Mutter hat uns vier Söhne nicht für den Krieg geboren. Wir hassen den Krieg und wollen den Frieden. Wenn ich auch an Gott glaube und nicht zur Volksarmee gehe, so glaube ich dennoch, ein guter Sozialist zu sein.“

Dutschke bleibt kurz darauf auch bei einer öffentlichen Rede in der Schulversammlung standhaft bei seiner Weigerung, und das hat Folgen: In der DDR ist ihm – trotz guter schulischer Leistungen – der Weg zum ersehnten Studium der Sportjournalistik versperrt. Mit der Unterstützung seiner Familie belegt er im noch frei zugänglichen Westberlin 1960/61 einen Kurs zur Anerkennung seines Ostabiturs, um danach an der Freien Universität in Westberlin studieren zu können.

Im Mai 1961 hat er das Westabitur in der Tasche – und übersiedelt drei Monate später, als sich die Gerüchte über eine endgültige Grenzschließung verdichten, nach Westberlin – wenige Tage vor dem Mauerbau. Für Rudi Dutschke stand nach dem erzwungenen Weggang aus der DDR eine Überprüfung seiner bisherigen Bezugspunkte und Gewissheiten an. Wann und warum war der von Kindheit an mit Hoffnung besetzte reale Sozialismus zu einem Kommandostaat mit einer Kommandowirtschaft verkommen, in dem die Freiheit des Einzelnen nichts galt? Dutschke studierte die Klassiker, um zu einem unverfälschten Marx-Bild zu gelangen. Und während er sich auf dieser Suche befindet, schmilzt er sein bisheriges Bild des leidenden Christus um in das Urbild eines Revolutionärs.

Nirgendwo hat er das eindringlicher festgehalten als in einem Tagebucheintrag am 20. März 1963, einem Karfreitag: „In diesen Stunden verschied keuchend im Morgenlande der Welt größter Revolutionär – Jesus Christus. Die nichtwissende Konterrevolution schlug ihn ans Kreuz. Christus zeigt allen Menschen einen Weg zum Selbst. Diese Gewinnung der inneren Freiheit ist für mich allerdings nicht zu trennen von der Gewinnung eines Höchstmaßes an äußerer Freiheit, die gleichermaßen und vielleicht noch mehr erkämpft sein will. Den Ausspruch Jesu: ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt‹ kann ich nur immanent verstehen. Natürlich, die Welt, in der Jesus wirklich lebte und arbeitete, war noch nicht die neue Wirklichkeit. Diese galt und gilt es noch zu schaffen, eine Hic-et-nunc-Aufgabe der Menschheit.“

Ein politisches Christentum

Innere Freiheit gewinnen und aus ihr heraus beherzt handeln – Rudi Dutschke wird später von Bewusstwerdung durch Aufklärung sprechen. Die Ursachen von Ausbeutung und Unterdrückung analysieren – und sich dann auf die Seite der Unterprivilegierten, für die Mühseligen und Beladenen, zu stellen, ja, möglicherweise auch mit Waffen. Damit ist schon Jahre vor dem in den Augen der Öffentlichkeit kometenhaften und kurzen Auftauchen Dutschkes als Kopf und Herz der Revolte von 1968 sein Konzept eines politischen Christentums klar umrissen.

Wie aber konkret Stellung zu beziehen ist, zum einen dort, wo wie in Vietnam oder Südamerika unterdrückte Völker ihren Befreiungskampf schon begonnen haben, zum anderen in den Metropolen der reichen Länder, das klingt im Dezember 1967 im Ersten Deutschen Fernsehen im Gespräch mit Günter Gaus doch dezidiert anders als in den Luckenwalder Kinder- und Jugendjahren: „Klare Antwort: Wäre ich in Lateinamerika, würde ich mit der Waffe in der Hand kämpfen. Ich bin nicht in Lateinamerika, ich bin in der Bundesrepublik. Wir kämpfen dafür, dass es nie dazu kommt, dass Waffen in die Hand genommen werden müssen. Aber das liegt nicht bei uns.“

Dutschkes eigener moralischer Kompass hat weitgehend gehalten in den immer turbulenteren 314 Tagen zwischen dem 2. Juni 1967, der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg, und dem 11. April 1968, als Dutschke bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt wurde. Auch er neigte der Strategie zu, Gewalt gegen Sachen als aufklärerische Aktionsform für legitim zu erachten. Aber er blies eine schon in Vorbereitung befindliche Sprengung eines Schiffes wieder ab, das von einem deutschen Hafen Kriegsmaterial direkt nach Vietnam transportieren sollte, weil nicht sichergestellt war, dass dabei nicht auch Personen verletzt oder getötet werden könnten. Wenige Tage später schoss der junge Rechtsextremist Josef Bachmann auf dem Kurfürstendamm in Berlin Rudi Dutschke nieder.

Dutschke überlebte knapp, musste aber als Folge des Kopfschusses Sprechen und Schreiben neu erlernen. Zu den ersten Texten, die Rudi Dutschke schrieb, gehören zwei verzeihende Briefe an seinen Attentäter Josef Bachmann, als er von dessen Selbstmordversuchen im Gefängnis erfuhr. „Lieber Josef Bachmann, beide können und sollen wir auf ein neues und etwas besseres 1969 hoffen. (...) Ich bin Ihnen wirklich nicht böse.. (...) Selbstmord ist feige, besonders wenn man ein langes Leben vor sich hat. Mit Sicherheit werden Sie in nicht allzu langer Zeit ein freies und neues Leben beginnen können. Rudi Dutschke.“

Josef Bachmann kam trotz – oder auch wegen – dieser Geste des Verzeihens nicht mit seiner Tat zu Recht und nahm sich am 23. Februar 1970 in der Haft das Leben. Rudi Dutschke starb an den Spätfolgen des Attentats am 24. Dezember 1979, an Heiligabend.

Ulrich Chaussy

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