Wege zum Weltethos

Sämtliche Werke – die Lebensbilanz des Theologen Hans Küng wird veröffentlicht
Theologe seit sieben Jahrzehnten: Hans Küng (Foto von 2013). Foto: epd/ Gerhard Büerle
Theologe seit sieben Jahrzehnten: Hans Küng (Foto von 2013). Foto: epd/ Gerhard Büerle
Im Juli 2013 beendete der katholische Theologe Hans Küng, der am 19. März 90 Jahre alt wird, die Arbeiten am dritten und letzten Band seiner Memoiren. Hans Küng war damals überzeugt, dass er damit sein literarisches Werk im Wesentlichen abgeschlossen habe. Doch es kam anders, wie der Theologe Stephan Schlensog, ein langjähriger Mitarbeiter Küngs und Generalsekretär der Stiftung Weltethos, beschreibt.

Im Januar 2014 erhielt Hans Küng ein Schreiben von Manuel Herder, dem Chef des Herder-Verlags, wo in den Sechzigerjahren die meisten seiner Bücher erschienen waren. Er machte Küng das Angebot, im Herder-Verlag seine „Sämtlichen Werke“, sowohl in einer Print- wie in einer Digitalfassung, herauszugeben: eine 24-bändige „Lebensbilanz“ entlang der großen Themenkreise seines vielfältigen theologischen Schaffens – für den damals bald 86-Jährigen eine einzigartige Chance, aber auch eine große Herausforderung. Denn in den knapp sieben Jahrzehnten seines theologischen Schaffens hat Hans Küng 74 Monografien und weit über tausend Artikel in zahllosen Sprachen publiziert. Daraus galt es für die geplante Werkausgabe die Schlüsselpublikationen auszuwählen, zu denen jeweils auf Grundlage der Memoiren kontextuelle Einführungen verfasst und gewichtige Diskussionsbeiträge sowie unveröffentlichtes Material hinzugefügt werden sollten.

Eine Aufgabe, die Hans Küng, durch seine Parkinson-Erkrankung zusehends eingeschränkt, über Jahre hinweg in erheblichem Umfang binden sollte, deren Fertigstellung aber durch mich als Mitherausgeber, der ich seit über drei Jahrzehnten mit ihm zusammenarbeite, sichergestellt ist.

Für mich ist diese Werkausgabe eine ganz besondere Aufgabe. Geht es doch darum, nicht nur Hans Küngs biografischen und werkgeschichtlichen Weg darzustellen, sondern gemeinsam mit ihm nochmals in alle Schlüsselpublikationen einzutauchen, deren Genese nachzuzeichnen und biografisch zu verorten und dabei Diskussionen und Auseinandersetzungen nachzuvollziehen, die Hans Küng theologisch geprägt und sein Schaffen und Wirken vorangetrieben haben. Und nebenbei das Privileg, ungezählte Geschichten und Anekdoten zu hören, die in den Memoiren oft nur zwischen den Zeilen zu ahnen und herauszulesen sind.

Fundamentalkritik am Dogma

Küngs umfangreiches theologisches Schaffen lässt sich in vier Perioden einteilen, die auch in den Sämtlichen Werken abgebildet sind. Ausgehend von seiner Dissertation „Rechtfertigung“ (1957) beschäftigte er sich zunächst mit Fragen innerchristlicher Ökumene, römisch-katholischer Ekklesiologie und innerkirchlicher Reform, was schließlich 1970 in die aufsehenerregende Arbeit „Unfehlbar? Eine Anfrage“ mündete: eine Fundamentalkritik am kirchlichen Unfehlbarkeitsdogma und Ausgangspunkt seines fortwährenden Konflikts mit dem Lehramt, der neun Jahre später mit dem Entzug der Missio canonica seinen Höhepunkt erreichte. Diese Phase ist in den Bänden 1–6 der Sämtlichen Werke dokumentiert.

Der dramatische gesellschaftliche Wandel im Gefolge der Achtundsechziger-Revolution konfrontierte auch die Theologie mit grundlegenden Anfragen an Gottesglaube im Allgemeinen und Christsein im Besonderen. Wie wenige andere stellte sich Hans Küng dieser Herausforderung konsequent und trug ihr Rechnung mit seinen theologisch-philosophischen Grundlagenwerken „Menschwerdung Gottes“ zu Hegels theologischem Denken (1970), „Christ sein“ (1974) und „Existiert Gott?“ (1978) sowie dem 1982 erscheinenden Buch „Ewiges Leben?“. Diese Schaffensperiode, samt der späteren Diskussion über ein menschenwürdiges Sterben, dokumentieren die Bände 7–10 der Sämtlichen Werke, ergänzt durch Band 11 mit Publikationen der Folgejahre zu Hans Küngs Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft.

Mitte der Achtzigerjahre dann ein weiterer Perspektivwechsel: der Blick auf die Welt der Religionen. Schon früh durch Reisen weltweit dafür sensibilisiert und interessiert, wandte sich Küng jetzt den großen Weltreligionen zu. Ebenso wichtig wie das Verstehen der dort vermittelten Sichten von Welt, Mensch und Glaube war ihm das Aufzeigen ihrer politischen Relevanz in einer zunehmend globalisierten Welt.

Schon im Nachwort des Dialogbandes „Christentum und Weltreligionen“ (1984) schreibt er: „Interreligiöser ökumenischer Dialog ist heute alles andere als die Spezialität einiger weltfremder religiöser Ireniker, sondern hat zum ersten Mal in der Geschichte den Charakter eines auch weltpolitisch vordringlichen Desiderats; er kann helfen, unsere Erde bewohnbarer, weil friedlicher und versöhnter, zu machen.“ Diese erste und weitere interreligiösen Dialogpublikationen, seine hermeneutischen Grundlagen, das Multimediaprojekt „Spurensuche. Die Weltreligionen auf dem Weg“ der Neunzigerjahre sowie seine großen Monografien zu den drei abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam sind in den Bänden 12–17 der Sämtlichen Werke dokumentiert.

Im oben zitierten Nachwort findet sich auch erstmals jenes Programmwort, das für das Grundanliegen von Hans Küngs vierter großen Schaffensperiode stehen sollte: „Kein Frieden unter den Völkern dieser Welt ohne einen Frieden unter den Weltreligionen!“ Es ist die Rede vom „Projekt Weltethos“, das 1990 mit dem gleichnamigen Buch grundgelegt wird und sich in den Folgejahren – befördert durch die Gründung der Stiftung Welt-ethos im Jahr 1995 – zum globalen gesellschaftlichen Dialogprojekt über Werte und deren Bedeutung in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft und im interkulturellen Dialog entwickelte. Dokumentiert ist diese Schaffensphase in den Bänden 19 und 20 der Sämtlichen Werke, während Band 18 Küngs Auseinandersetzung mit Fragen der Kunst, Literatur und Musik dokumentiert, die Bände 21–23 Küngs drei Memoirenbände bieten und Band 24 mit „Begegnungen“ schließlich den Abschluss dieser beeindruckenden Lebensbilanz bildet.

Große Medienpräsenz

Dass Hans Küng bei einer solchen Bandbreite an Themen und Werken ungern auf den „Papstkritiker“ oder „Kirchenrebell“ reduziert werden möchte, wie immer wieder geschehen, liegt auf der Hand. Denn sein Leben ist nicht nur geprägt von sehr unterschiedlichen Themen, sondern hat auch viele unterschiedliche Facetten. So ist er einer der wenigen weltweit beachteten lebenden Theologen, bekannt und respektiert in allen großen Religionen dieser Welt; ein Publizist mit einer medialen Präsenz, wie man sie eigentlich nur von Politikern und Medienprofis kennt.

Zudem ist der engagierte Katholik seit Jahrzehnten ein Hoffnungsträger für jene, die eine Erneuerung der römisch-katholischen Kirche im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils wünschen. Dabei ist der Vordenker und Visionär, dessen Rat in der Wirtschaft ebenso gehört wird wie in der nationalen und internationalen Politik auch immer Priester und Seelsorger gewesen, stets mit einem offenen Ohr für die Belange jener, die sich Hilfe suchend an ihn wenden.

Bis heute sind dreizehn Bände der Werkausgabe publiziert. Bei ihrem Anblick kommt mir jene Szene in den Sinn, die ich oft erlebt habe: Besucher mustern die Bücherregale, die die Wände in Hans Küngs Wohn- und Arbeitszimmer zieren. Auf der einen Seite Küngs eigene Bücher, meist in vielen Sprachen, gut erkennbar an den oft plakativen Buchrücken und Umschlägen, und dann die unvermeidliche Frage: „Wie viele Bücher haben Sie eigentlich geschrieben?“ Der Autor weiß es nicht, jedenfalls nicht genau, weil es ihn nicht interessiert. Nicht die Menge ist für ihn entscheidend, sondern jedes Buch hat für ihn eine je eigene Gewichtung: nach geistigem Aufwand, nach Reichweite und Tiefgang der Problematik, nach Wirkung und Auswirkung. Und dann, fast zwangsläufig, die nächste Frage: „Wie machen Sie das eigentlich?“ – worauf Küng meist etwas verlegen mit den Schultern zuckt.

Was sollte er auch sagen? Sollte er sagen, dass er buchstäblich Tag und Nacht gearbeitet hat? Manche hätten ihm dies als Koketterie ausgelegt.

Ich habe bisher keinen anderen Menschen erlebt, der – in den Jahrzehnten seines vollen aktiven Schaffens – die Zeit so effizient genutzt hat wie Hans Küng. Dabei war er nie ein verbissener Arbeiter: Seine Arbeit sei sein Hobby, pflegte er oft zu sagen …

Bis zum Ausbruch seiner Parkinson-Erkrankung war Hans Küng mit einer außerordentlich guten Konstitution gesegnet. Lebhaft präsent ist mir noch die Erinnerung an die Dreharbeiten zur Fernsehreihe „Spurensuche“. Mehrere Jahre bin ich mit ihm in den Neunzigerjahren dafür durch die Welt gereist, oft viele Wochen am Stück. Hans Küng saß morgens immer als erster beim Frühstück, oft hatte er da schon eine halbe Stunde geschwommen, und die Texte seiner vor Ort zu haltenden Statements – tags zuvor bis spät in die Nacht erst korrigiert – waren schon wieder völlig überarbeitet. Ob Hitze oder Kälte, mühselige Reisen oder schlechte Quartiere, unfähiges Personal vor Ort oder chaotische Situationen am Set: Küng war immer hoch konzentriert bei der Sache, diskutierte unablässig mit dem Filmteam die Kameraeinstellungen, wiederholte seine Statements, wenn es nötig war, auch zum fünften Mal – ohne dass ihm Verdruss oder Müdigkeit anzumerken waren. Arbeit aus Leidenschaft um der Sache Willen: Bis heute hat sich Hans Küng dieses Arbeitsethos bewahrt – jetzt freilich mit stark reduziertem Tagespensum.

Positive Grundhaltung

Heute ist sein Aktionsradius kleiner, sein Alltag ruhig geworden. Aber nach wie vor sitzt er jeden Tag am Schreibtisch, beantwortet, so gut er kann, Zuschriften und begleitet mit Freude und in Dankbarkeit die Herausgabe seiner 24-bändigen „Lebensbilanz“.

Am Ende seiner Memoiren von 2013, deren Schlusskapitel die Überschrift „Am Abend des Lebens“ trägt, schreibt Hans Küng: „Es war mir ein in jeder Hinsicht reiches Leben geschenkt. Ich bin nicht ‚lebensmüde‘, doch ‚lebenssatt‘ … so ist nach der Bibel Abraham gestorben (1. Mose 25,8) und König David (1. Chronik 23,1; 29,28), aber auch Hiob.“ Bis heute hat sich Hans Küng, ungeachtet aller Einschränkungen, diese positive Grundhaltung bewahrt, die er schon zu seinem siebzigsten Geburtstag 1997 mit einem Zitat aus einem Brief Mozarts an seinen todkranken Vater zum Ausdruck brachte: „Ich lege mich nie zu Bette ohne zu bedenken, dass ich vielleicht den anderen Tag nicht mehr sein werde – und es wird doch kein Mensch von allen, die mich kennen, sagen können, dass ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre. Und für diese Glückseligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie von Herzen jedem meiner Mitmenschen.“

Stephan Schlensog

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