Leben in Übereinstimmung

Warum Intersexualität die höchstrichterliche Aufmerksamkeit (nicht) braucht
Transsexuell, nicht intersexuell: Kaey, geboren als Dennis Klein, sieht sich selbst als Frau. Sie liebt Männer. Foto: dpa/ Kay Nietfeld
Transsexuell, nicht intersexuell: Kaey, geboren als Dennis Klein, sieht sich selbst als Frau. Sie liebt Männer. Foto: dpa/ Kay Nietfeld
Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber verpflichtet, noch in diesem Jahr neben männlich und weiblich einen dritten Eintrag im Geburtsregister zu schaffen. Es stützt sich damit auf das garantierte Grundrecht selbstbestimmter Persönlichkeitsentfaltung. Henning Theißen, Systematischer Theologe aus Greifswald, erläutert theologische Problemfaktoren.

Die Frage klang naiv: ob die Diskussion über „Gender“ nicht die Tatsache in den Hintergrund dränge: „Frauen haben eine Vagina, Männer einen Penis“ (zz 11/2017)? Die Interviewte, die Theologin Isolde Karle, ließ sich nicht provozieren und verwies auf die komplexen kulturellen Grundlagen der scheinbar natürlichen Alternative männlich/weiblich. Seinerzeit war der Beschluss noch nicht gefasst, mit dem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 10. Oktober 2017 den Gesetzgeber verpflichtete, bis Ende 2018 zu ermöglichen, dass Personen, die sich dauerhaft weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuordnen lassen, einen dritten Eintrag im Geburtsregister wählen können, der ihr geschlechtliches Selbstempfinden wiedergibt (Az. 1 BvR 2019/16).

Das Karlsruher Urteil sorgt erwartungsgemäß für Diskussions-, ja Zündstoff, weil es an einer Säule der europäischen (Rechts-)Kultur kratzt, dem Geschlechtergegensatz der menschlichen Spezies. Als Säule des kulturellen Systems ist dieser aber keine unverrückbare Vorgabe der Natur, sondern selbst eine kulturelle Errungenschaft und damit formbar. Wie war das noch: Frauen haben eine Vagina, Männer einen Penis? Ja, aber was tun, wenn Genitalien, die bei der flüchtigen Betrachtung im Kreißsaal männlich aussahen, in Wahrheit weiblich sind, weil die betreffende Person eine hormonelle Überfunktion im androgenen (vermännlichenden) Bereich aufweist? So möglich bei der häufigsten Form der Intersexualität, dem Adrenogenitalen Syndrom (ags), das (wenn auch nur in seiner schwersten Ausprägung) Klitoris und Schamlippen Ausmaße annehmen lässt, die an Penis und Hodensack erinnern.

Das Beispiel zeigt, dass die natürlichen Kategorien von Mann und Frau auf einer kulturellen Praxis, konkret dem Blick auf die Genitalien neugeborener Kinder, beruhen und potenziell uneindeutig sind. Diese Erkenntnis ist nicht spektakulär, schließlich sind seit Einstein schon ganz andere vermeintliche Naturkonstanten wie der dreidimensionale Raum als relativ entdeckt worden. Problematisch wäre es, wegen der potenziellen Uneindeutigkeit jener kulturellen Praxis im Kreißsaal die grundsätzliche Abschaffung der personenstandsrechtlichen Geschlechtsfestlegung zu fordern.

Hilfreicher scheint eine andere Überlegung: Weil die geschlechtliche Identität von Menschen für unsere Kultur derart basal ist, kann ihre normative Qualität nicht von einem gesellschaftlich höchst voraussetzungsreichen juristischen System wie dem Personenstandsrecht ausgeschöpft werden. Sie muss sich vielmehr in einem vorrechtlichen Bereich menschlichen Zusammenlebens zeigen. Viel basaler und lebensnäher als die verfassungsrechtliche Frage, ob der Staat einen Geschlechtseintrag in binärer Ausschließlichkeit verlangen darf (was man für Deutschland seit der Aussetzung der Wehrpflicht und der Einführung der so genannten Ehe für alle anzweifeln kann), ist die Frage, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Menschen eine geschlechtliche Identität ausbilden können, insbesondere wenn ihre diesbezügliche körperliche Ausgangslage uneindeutig ist.

Die Bedingungen geschlechtlicher Identität stellen eine ethische Frage dar, die vom Deutschen Ethikrat im Jahre 2012 in einer Stellungnahme zur Intersexualität beantwortet wurde. Entscheidend ist demnach die Selbstbestimmung: Intersexuelle Menschen müssen die Möglichkeit haben, diejenige geschlechtliche Identität auszubilden, die ihrem Empfinden entspricht. In diesem Sinn unterscheidet der Ethikrat zwischen Intersexualität als geschlechtlicher Identität und ihrer körperlichen Ausgangslage, die mit einem medizinischen Terminus als dsd (disorder/difference of sexual development) bezeichnet wird. Selbstbestimmung meint hier die Fähigkeit, sich zu den körperlichen Gegebenheiten von dsd frei zu verhalten. Das ist aber nur möglich, wenn bei körperlicher Uneindeutigkeit eine entsprechend wählbare Identität zur Verfügung steht. Die ethische Pointe dieser Selbstbestimmung besteht also in der Anerkenntnis geschlechtlicher Identität jenseits der Alternative männlich/weiblich.

Im Kreißsaal erkennbar

Genauso argumentiert auf den ersten Blick das Bundesverfassungsgericht, das sich auf das garantierte Grundrecht selbstbestimmter Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 GG) stützt, um die Notwendigkeit eines dritten personenstandsrechtlichen Geschlechtseintrags für intersexuelle Personen neben männlich und weiblich herzuleiten. Bei näherem Hinsehen fällt allerdings auf, dass die Karlsruher Richter die geschlechtliche Identität ganz auf das Empfinden der Betroffenen fokussieren und ihren anderen, körperlichen Aspekt eigentlich nur erwähnen, um mit vielen Betroffenenverbänden, aber auch der Bundesärztekammer festzustellen, dass dsd nicht mit „Fehlbildung oder Krankheit“ gleichzusetzen sei (1 BvR 2019/16, Rn. 9).

Diese Demedikalisierung ist überraschend, da im rechtlichen wie im medizinischen System Einigkeit darüber herrscht, dass Intersexualität präzise von Transsexualität zu unterscheiden ist. Während letztere tatsächlich durch das Geschlechtsempfinden definiert ist, das von dem eindeutig männlichen oder weiblichen Geburtsgeschlecht abweicht (Leben im falschen Körper), liegt die Uneindeutigkeit bei Intersexualität definitionsgemäß im Bereich des körperlichen Geschlechts. Folglich ist Transsexualität nie, Intersexualität jedoch (außer bei paradoxen Syndromen mit dem äußeren Genital des einen, aber inneren Merkmalen des anderen Geschlechts) oft schon im Kreißsaal erkennbar.

Angesichts dessen fällt die eigentliche ethische Herausforderung bei Intersexualität in die Zeit der allerfrühesten kindlichen Entwicklung, wo von Selbstbestimmung, die das BVerfG in seinem Urteil zur Intersexualität auf den Schild hebt, noch keine Rede sein kann. Es sind die betroffenen Eltern, die – beraten durch die Ärzte – stellvertretend für ihre unmündigen Kinder die Weichen für deren geschlechtliche Identität stellen müssen. Das geschieht nicht nur durch Erziehung in dieser oder jener Geschlechterrolle, sondern oft genug auch mit therapeutischen Eingriffen von der Hormonbehandlung bis im Extremfall zur operativen Entfernung von Keimdrüsen zwecks Beherrschung des Tumorrisikos, das die im Kreißsaal nicht sichtbare Unreife der Keimdrüsen bei Intersexualität oft birgt. Von diesen krankheitswerten Problemen, die in der Stellungnahme des Ethikrates viel Raum einnehmen, liest man in der Begründung des Karlsruher Urteils nichts. Und selbst die ethische Schlüsselkategorie der Selbstbestimmung stößt hier an Grenzen. Ihr ist darum eine weitere normative Reflexion an die Seite zu stellen, die man mit dem Theologen Paul Tillich als kulturtheologisch klassifizieren kann. Sie fragt, welcher kulturelle Wert im ethischen Kriterium der Selbstbestimmung eigentlich verwirklicht wird.

Theologisch kann kein Zweifel sein, dass ein hinsichtlich der geschlechtlichen Identität selbstbestimmtes Leben eine Realisierung der Menschenwürde darstellt. Allerdings könnte von so einer Identität keine Rede sein, wenn sie uneindeutig wäre. Insbesondere das BVerfG fordert deshalb für intersexuelle Personen, deren körperliches Geschlecht per Definition uneindeutig ist, eine eindeutige, „positive“ Identität, die sich nicht negativ darin erschöpfen dürfe, „weder männlich noch weiblich“ (Galater 3,28) zu sein. Betrachtet man diese „positive“ Identität (nach Galater 3,28: das Einssein „in Christus“) jedoch logisch, so negiert sie nicht die Geschlechterkategorien, sondern nur deren Ausschließlichkeit. Das heißt, Intersexualität lässt sich bei Überwindung dualistischer Paradigmen positiv als Zugleich von männlich und weiblich bestimmen.

Die Selbstbestimmung intersexueller Personen erfordert dann rechtlich kein drittes Geschlecht, sondern das Ankreuzen beider Geschlechtseinträge, weil sie vorrechtlich auf die Übereinstimmung des empfundenen mit dem körperlichen Geschlecht zielt, das bei Intersexualität jeweils männliche und weibliche Anteile aufweist. Als Übereinstimmung aber von körperlichem und empfundenem Geschlecht kann die intersexuelle Identität nicht einseitig im Empfinden der Betroffenen aufgehen, wie es das BVerfG suggeriert – hierin abweichend vom Ethikrat.

Große Aufmerksamkeit

Dem Karlsruher Urteil fehlt der Bezug auf den in der Selbstbestimmung verwirklichten kulturellen Wert eines Lebens in Übereinstimmung. Diese Übereinstimmung ist nicht mit Cissexualität zu verwechseln, die von der Gendertheorie als logisches Gegenteil der Transsexualität definiert wird, sondern liegt gegenüber körperlichem und empfundenem Geschlecht auf einer anderen Ebene. Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand bedürfen auch transsexuelle Personen, bei denen definitionsgemäß Geburts- und empfundenes Geschlecht nicht übereinstimmen, der Übereinstimmung im Sinne der Gewissheit, mit ihrem empfundenen Geschlecht anerkannt zu werden, ohne es ständig vom abweichenden Geburtsgeschlecht abgrenzen zu müssen. Fortgesetzte Abgrenzung gegen das Geburtsgeschlecht begründet auch als selbstbestimmte keine geschlechtliche Identität (queer), sondern ist potenziell mit Leiden behaftet.

Auf der Ebene des zutiefst menschlichen Bedürfnisses nach Übereinstimmung und Anerkennung besteht zwischen trans- und inter- oder auch cissexuellen Personen zunächst kein Unterschied. Anerkennung lässt vielmehr die Unterschiede ihrer jeweiligen geschlechtlichen Identität zurücktreten, weil sie diese selbst im Hintergrund belässt. Die geschlechtliche Identität gehört zwar fraglos zum Kernbereich des menschlichen Personseins, kommt mit diesem aber – wie die ganze leibliche Natur des Menschen – am besten implizit zur Übereinstimmung, ohne explizit Aufmerksamkeit zu heischen. Solche ist jedoch paradoxerweise für die trans- und die intersexuelle Identität erforderlich, bis sie gesellschaftlich als so normal gelten, wie es die cissexuelle immer schon tat.

Insofern ist das Karlsruher Urteil schillernd. Es verschafft intersexuellen Menschen die Aufmerksamkeit, die ihnen für die gesellschaftliche Anerkennung hilfreich, für das Bedürfnis impliziter Übereinstimmung aber eher hinderlich sein dürfte. Hier kann der christliche Rechtfertigungsglaube helfen, der an diesem Punkt mit dem nicht spezifisch christlichen Bedürfnis nach Übereinstimmung konvergiert. Er ist überzeugt, dass ein Leben in Übereinstimmung Gottes gnädiger Wille mit dem Menschen ist und nicht das Produkt menschlicher Selbstbestimmung. Er kann so auch Menschen – gleich welcher geschlechtlichen Identität – davor bewahren, ihre Sexualität vor sich herzutragen, auf sie reduziert zu werden oder Mehrheits- gegen Minderheitsidentitäten auszuspielen.

Henning Theißen

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