Kühlen Kopf behalten

Neues aus dem Reich der Neurowissenschaften
Immer wieder regt die Hirnforschung auch Fotografen zu fantasievollen  Konstruktionen an: Bild eines unbekannten Künstlers.  Foto: pexels
Immer wieder regt die Hirnforschung auch Fotografen zu fantasievollen Konstruktionen an: Bild eines unbekannten Künstlers. Foto: pexels
Ist Gott nur im Gehirn? Der freie Wille – nur eine Illusion? Die Neurowissenschaften treten an, unser Bild vom Menschen zu revolutionieren. Was sie tatsächlich über Gott und Mensch zu sagen haben, untersucht der Münsteraner Theologe Matthias Schleiff im letzten Teil unserer Serie.

Aus der Verbindung von Theologie und Naturwissenschaft bringt jede Zeit die ihr eigentümlichen Mischdisziplinen hervor: Aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen eine breit gefächerte Physikotheologie, einschließlich einer Astro-, Hydro- und Pyrotheologie. Spätere Bindestrichtheologien verschrieben sich der Insekto-, Petino- und Lithotheologie, die sich der theologischen Betrachtung der Insekten, Vögel und Gesteine widmeten. Zur Wissenschaft des 21. Jahrhunderts hat der Medizinnobelpreisträger Eric Kandel die Neurowissenschaften ausgerufen. Als das szientotheologische Kompositum unserer Gegenwart darf daher die Neurotheologie auftreten.

„Gott im Gehirn“ – lautet eine der Schlagzeilen, mit denen die Neurotheologie in der Öffentlichkeit immer wieder Aufmerksamkeit findet. Dahinter stehen Erkenntnisse wie die des kanadischen Neurowissenschaftlers Michael Persinger. Anfang der Achtzigerjahre machte er mit seinem „Gotteshelm“ von sich reden. Er befestigte Elektroden am Kopf seiner Probanden und stimulierte ihr Gehirn durch schwache Magnetwellen. Bis zu 80 Prozent der Versuchsteilnehmer gaben danach zu Protokoll, dabei mystische Erfahrungen verspürt zu haben. Persinger sah dies als Beweis: Religiosität sei nichts anderes als eine Gehirnaktivität, die in bestimmten Regionen des Gehirns kleinen epileptischen Anfällen ähnele. Der amerikanische Neurowissenschaftler Vilayanur Ramachandran lokalisierte das für den Glauben verantwortliche „Gottesmodul“ in der Hirnregion des Schläfenlappens. Man könne, schlug er vor, diesen Bereich auch operativ entfernen. Religiosität wäre damit „heilbar“.

Wenn Gott im Gehirn ist, so die Vorstellung, könne man ihn auch herausoperieren. Jüngere Forschungen rücken von dieser einfachen Vorstellung allerdings zunehmend ab. Die Versuche Persingers ließen sich nicht wiederholen. Vor allem aber stellt sich immer deutlicher heraus: Je nachdem, welchen Vollzug religiösen Lebens die Forscher unter die Lupe nehmen, zeigen sich viele weitere Hirnregionen daran beteiligt. Was passiert im Gehirn beim Meditieren, bei Erfahrungen der Selbsttranszendenz, bei gemeinschaftlichen Ritualen, beim Beten des Psalms 23? Mit bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomographie haben Forscher all dies untersucht. Das Ergebnis: In seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen aktiviert der Glaube ganz verschiedene Areale. Die Vorstellung eines eingrenzbaren Gottesmoduls im Gehirn muss damit aufgegeben werden. „Menschen verfügen ebenso wenig über ein isoliertes Gottesmodul, wie Fernseher über einen eigenen Schaltkreis für Harald Schmidt“, hat dies der Theologe Michael Blume treffend zusammengefasst.

Grundlage im Gehirn

Dennoch bleibt es natürlich dabei: Gott hat seinen Platz – auch – im Gehirn. Überraschen dürfte dieser Befund bei genauer Betrachtung allerdings kaum. Alles, was Menschen bewegt, hat seine Grundlage im Gehirn, dem Zentralorgan unserer Weltwahrnehmung und -interpretation. Wenn wir Schokolade schmecken, ein Sudoku lösen oder beten – im Gehirn hinterlässt alles seine neuronale Signatur. Und natürlich hat auch der Gottesgedanke sein neuronales Korrelat. Doch dass Gott im Gehirn ist, macht ihn nicht zu einem bloßen Hirngespinst.

Substanzieller als die neurobiologische Attacke auf Gott ist diejenige auf das Selbstverständnis des Menschen. Vor allem die menschliche Freiheit ist von den Forschungen der vergangenen Jahrzehnte infrage gestellt worden. Die Versuche, die der amerikanische Neurowissenschaftler Benjamin Libet seit Ende der Siebzigerjahre an der University of California durchführte, gehörten zu den einflussreichsten Experimenten des 20. Jahrhunderts: Libet forderte seine Versuchsteilnehmer auf, ihre Hand zu bewegen, wann immer sie es wollten.

Mittels eines schnell laufenden Uhrzeigers sollten sie sich merken, wann sie den Willensimpuls dazu verspürten. Zugleich registrierte ein Elektroenzephalogramm (EEG) die Hirnströme der Probanden. Dann verglich Libet den Beginn der Aktivität im Gehirn, die die Bewegung der Hand einleitet – das so genannte Bereitschaftspotenzial – und den Moment, in dem der Proband den willentlichen Impuls zur Bewegung der Hand verspürt. Was sich zeigte, verblüfft auch Libet: Schon 0,35 Sekunden vor dem bewussten Willensentschluss zeigte sich im EEG das neuronale Bereitschaftspotenzial, das die Bewegung der Hand vorbereitet.

Für die Freiheitsskeptiker schien dies zu beweisen: Wir können über Handlungen nicht bewusst entscheiden. Unser bewusster Wille komme dafür schlicht eine Drittelsekunde zu spät. Das dem bewussten Willen vorausgehende Bereitschaftspotenzial zeige: Das Gehirn entscheidet, bevor wir denken, dass wir entscheiden. Erst im Nachhinein konstruiere das Gehirn daraus die offenbar nützliche Illusion einer freien Entscheidung. „Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur du denkst“, lässt sich das mit Juliane Werdings Schlagertext zusammenfassen. Neurobiologen proben damit nicht weniger als eine Revolution unseres Menschenbildes.

Und in der Tat: Wäre unser Wille nicht frei, hätte dies grundstürzende Konsequenzen für unser Selbstverständnis als verantwortlich Handelnde – mit weitreichenden Folgen für Ethik, Recht und Gesellschaft. Bevor wir solche Konsequenzen ziehen, sollten wir allerdings gelassen fragen, was die Laborbefunde tatsächlich hergeben: Ist es überhaupt sinnvoll, das, was die Probanden datieren, als Bewusstwerden einer Entscheidung zu verstehen? Wird nicht vielmehr die eigentliche Entscheidung schon damit getroffen, dass sie einwilligen, am Versuch teilzunehmen?

Ist zudem eine einfache Handbewegung überhaupt ein geeigneter Testfall für die komplexen Entscheidungen, die wir im Leben treffen, mit den Fragen, welches Buch wir lesen, welchen Beruf wir wählen, und ob wir mit einem anderen Menschen unser Leben verbringen wollen? Ist nicht ohnehin schon Libets Anweisung paradox, die die Teilnehmer aufforderte, eine freie Handlung auszuführen? Tatsächlich scheint seine Versuchsinstruktion eine raffinierte Spielart des Imperativs: „Sei spontan!“ zu sein – eine buchstäblich unmögliche Aufforderung.

Eine Tiefenschicht darunter offenbart die zentrale Prämisse, auf die sich die Freiheitsskeptiker stützen, ihre gravierenden Probleme. „Das Gehirn entscheidet, bevor ich entscheiden kann“, so die Freiheitsskeptiker. Tatsächlich begehen sie hier einen Kategorienfehler, der für ihre Theorie nicht folgenlos bleiben kann. Schon Aristoteles erinnerte daran: „Nicht die Seele ist zornig oder bedrückt oder denkt …, sondern besser ist es zu sagen, der Mensch tue dies kraft seiner Seele.“ In unsere Verhältnisse übersetzt heißt dies: Nicht das Gehirn will, denkt, entscheidet, sondern: der Mensch tut dies kraft seines Gehirns. So wie nicht meine Hand eine Ohrfeige austeilt, sondern ich mit meiner Hand, so denkt nicht mein Gehirn, sondern ich denke. Man kann hier mich und mein Gehirn nicht gegeneinander ausspielen. Natürlich entscheide ich mit meinem Gehirn – aber das heißt ja nicht, dass mein Gehirn statt meiner entscheidet.

Auch von Seiten der Empirie liefert ein neues Experiment aus dem Januar 2016 nun starke Indizien, die die radikalen Schlussfolgerungen der Libet-Experimente infrage stellen. Sie belegen: Mit dem Bereitschaftspotenzial ist eine Handlung mitnichten festgelegt. Es kann überstimmt werden. Um dies zu zeigen, ließen Neurowissenschaftler der Berliner Charité ihre Probanden in einem Duell gegen einen Computer antreten. Ähnlich wie bei den Libet-Experimenten wurden sie aufgefordert, einen Knopf zu drücken, wann immer sie wollten – allerdings nur während ihnen der Rechner eine Grünphase signalisierte. Nun setzte das Duell gegen den Computer ein: Sobald dieser das neuronale Bereitschaftspotenzial registrierte, ließ er ein rotes Stoppsignal aufleuchten. Wäre das Bereitschaftspotenzial tatsächlich mit der Entscheidung gleichzusetzen, wäre die Handlung dann nicht mehr zu stoppen.

Das Ergebnis aber war anders: Auch nach Einsetzen des Bereitschaftspotenzials konnten die Probanden ihre Bewegung meist rechtzeitig unterbinden. Damit steht fest: Das Bereitschaftspotenzial diktiert nicht die Entscheidungen des Menschen. Die berühmten Libet-Experimente sind obsolet.

Nach Jahrzehnten der Diskussion über die Libet-Experimente scheint der freie Wille damit wieder deutlich gestärkt. Viele Diskussionen der Wissenschaft klären sich so im Laufe der Zeit von selbst – durch weitere Experimente und genauere Forschung, die Selbstheilungskräfte der Naturwissenschaft. Die Neurowissenschaften bleiben damit eine wichtige Disziplin, mit der sich der Mensch Klarheit über sich selbst verschafft. Aber bei der Interpretation ihrer Ergebnisse sollte man immer einen kühlen Kopf bewahren.

Matthias Schleiff

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