Glut unter der Asche

Das Paradies ist passé. Sollte man glauben...
"Der Sündenfall (Anonym, Holland um 1540). Foto: akg
"Der Sündenfall (Anonym, Holland um 1540). Foto: akg
Die alte christliche Vorstellung eines künftigen jenseitigen Paradieses ist aus den Köpfen säkularer Christen fast vollständig verschwunden. Sie wird heute durch sehr diesseitige Glückshoffnungen und -verheißungen ersetzt, meint Helmut Kremers, der ehemalige Chefredakteur von Zeitzeichen.

„Es wächst hienieden Brot genug für alle Menschenkinder, auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust und Zuckererbsen nicht minder. Ja, Zuckererbsen für jedermann, sobald die Schoten platzen! Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen.“

So charmant drückt Heinrich Heine in Deutschland, ein Wintermärchen (1844) einen Verdacht aus: Dass nämlich die Vorstellung von einem künftigen Paradies immer nur dazu gedient habe, die Menschen sich mit ihrem Schicksal auf Erden abfinden zu lassen, mochte dieses so übel sein, wie es wolle. Der Verdacht war gerechtfertigt: Im selben Jahr prangerte Bettina von Arnim in „Dies Buch gehört dem König“ das Elend der Ärmsten, mindestens zehn Prozent der Bevölkerung, an. Vier Jahre später wurde die Revolution zusammengeschossen. Bei Heine sang ein treudeutsches Harfenmädchen: „…vom irdischen Jammertal, von Freuden, die bald zerronnen, vom Jenseits, wo die Seele schwelgt, verklärt in ew’gen Wonnen. Sie sang das alte Entsagungslied, das Eiapopeia vom Himmel, womit man einlullt, wenn es greint, das Volk, den großen Lümmel.“

Nach Karl Marx ist die Religion „Opium des Volkes“. Vor und nach ihm war dies das Dogma aller sozialistischen Utopien: Die Vorstellung eines künftigen Paradieses verhindere ein revolutionäres Bewusstsein. Historisch war diese Auffassung nicht ganz richtig – in früheren Zeiten, etwa im Bauernkrieg, hatten sich Revolutionäre auf Gottes Gerechtigkeit berufen. Wo die sozialistischen Weltverbesserer an die Macht gelangten, bemerkten sie bald den Schwachpunkt ihrer Bemühungen: Es war der Mensch. Während Marx noch darauf vertraute, das menschliche Bewusstsein werde durch die Entwicklung des Kapitalismus zwangsläufig zur Sozialismusreife getrieben, erkannte man nun, dass es hinterherhinkte, und wollte es auf den ideologischen Vordermann bringen. Es galt, die Menschen zu verändern. Das führte nicht zum irdischen Paradies, sondern zu Schauprozessen und Umerziehungslagern. Es blieb dabei: U-topie heißt Nirgend-Ort.

Heutzutage ist das künftige Paradies passé. Im kapitalistischen Westen zweifelt kaum einer daran: Das Paradies ist nur hier auf Erden zu haben. Doch nicht für alle, nur für den glücksbegabten Einzelnen. Welche Zustände aber sollen als paradiesisch gelten? In dieser Frage ist es mit der Einigkeit bald vorbei. Der moderne Mensch ist Individualist. Jedem sein eigenes Paradies, den einen den vegan-ökologischen Frieden, den andern den ungehemmten urbanen Rummel. Daneben alle denkbaren Varianten. Aber wo moderne Menschen sich für höchst individuell halten, sind sie es nur bedingt. Jede Spielart individueller Vorlieben wird von anderen geteilt, von Unzähligen, die sich im World Wide Web finden. Der Umstand zehrt zwar am grandiosen Gefühl je eigener Einzigartigkeit, doch wird er überreichlich aufgewogen durch das Vorhandensein von Gleichgesinnten. Wer will schon so einzigartig sein, dass er hoffnungslos vereinzelt dasteht. Einst beteten die frommen (oder zumindest zur Frömmigkeit angehaltenen) Kinder: „Abends, wenn ich schlafen geh, vierzehn Englein um mich stehn, zwei zu meinen Häupten, zwei zu meinen Füßen, zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken, zwei die mich decken, zwei, die mich wecken, zwei die mich führen ins ewige Paradies.“

Ja, das künftige Paradies (der Himmel) war das große Versprechen der christlichen Religion, naturgemäß – oder eben gerade nicht naturgemäß – verbunden mit dem des ewigen Lebens, nach der Auferstehung im Fleische. Die Frommen durften sich ausmalen, sich dereinst in körperlicher Bestform im Jenseits wiederzufinden, und ihre Lieben dazu. Aber eben nur die Frommen. Das ewige Leben war nämlich ein zweischneidiges Schwert. Niemand entging ihm. Das konnte böse enden: Wer sich sein Lebtag auf der breiten Straße weltlichen Treibens und Vergnügens tummelte, wer den schmalen, steinigen Weg verschmähte, der allein zur Himmelspforte führte, der hatte, weltlich gesprochen, schlechte Karten: Ihm drohte die Hölle.

Was das zumindest nach mittelalterlicher Vorstellung bedeutete, schilderte der italienische Nationaldichter Dante Alighieri (1265–1321) in seiner Göttlichen Komödie, diesem Meilenstein italienischer und europäischer Dichtung. Nicht jedem oder jeder werden allerdings die in diesem Werk poetisierten Folterphantasien behagen. Doch sind sie wohl nicht allein dem Hirn des Poeten entsprungen, waren eher kollektives Gemeingut. Denn leider gab und gibt es auch die Hölle auf Erden. Sie wurde und wird von Menschen allzeit zuverlässiger bereitet als das Gegenteil. Wer ihr ausgeliefert war, konnte dereinst wenigstens auf Gerechtigkeit im Jenseits und also auf das ewige Paradies hoffen – jedenfalls wenn er nicht etwa von der Inquisition in einer „Glaubenshandlung“ (Autodafé) verbrannt und also zur Hölle geschickt wurde.

Zwischen Himmel und Hölle wartete da noch ein Drittes: das Fegefeuer (Purgatorium), eine Reinigungsstation für Sünder, die sich wenigstens keiner Todsünde schuldig gemacht hatten. Also für fast alle. Im Fegefeuer ging es schrecklich genug zu, aber wenigstens blieb die Hoffnung, nach Ablauf einer sich an den begangenen Sünden bemessenen Frist erlöst zu werden. Heute heißt es im Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche milde: „Das Purgatorium ist der Zustand jener, die in der Freundschaft Gottes sterben, ihres ewigen Heils sicher sind, aber noch der Läuterung bedürfen, um in die himmlische Seligkeit eintreten zu können.“ Luther übrigens lehnte das Fegefeuer ab. Nicht so die Hölle – er hielt dafür, dass „die boesen ewiglich sterben mit dem teuffel und seinen engeln. Denn ichs nicht halte mit denen, so da leren, das die teuffel auch werden endlich zu seligkeit komen.“

„Over in the Glory Land, Jesus took you by the hand…“ hier, im aufgeklärten Westen, findet man solche Zuversicht fast nur noch bei „Fundamentalisten“ (bekanntlich keine schmeichelhafte Etikettierung). Die anderen, die „aufgeklärten“ Christen, bemühen sich, irgendwie irgendwas von der christlichen Jenseitshoffnung zu bewahren, wenn sie es nicht vorziehen, die ganze Überlieferung vom Jüngsten Gericht, Ewigen Leben, vom Himmel und Paradies rundweg abzulehnen. Doch mag das künftige Paradies auch passé sein: Das erste Paradies gehört zum Anfang, zur Schöpfung. Die Geschichte von Adam ist bekannt: Wie Eva, von Gott aus der Rippe des ersten Menschen, Adam (welcher Name nichts anderes als „Mensch“ bedeutet), geschaffen, wie sie ihn zum Genuss des Apfels vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen verführte (übrigens: „malus“ ist sowohl er Apfel als auch das Böse im Lateinischen), wie dieses erste Paar des Paradieses verwiesen wurde, wobei das Leben fortan Müh und Arbeit für den Mann und für die Frau schmerzhafte Entbindung bedeutete. Schon im Judentum wurde hinter dem Geschehen als Movens sündhafte Sexualität vermutet, bedeckte sich das Paar doch nach der Tat spontan mit Feigenblättern, verspürte also Scham.

Aufgrund dieses Sündenfalls seien alle Menschen der Erbsünde unterworfen, folgerte der Kirchenvater Augustinus. Er machte mit seiner Körper- und Sexualitätsfeindlichkeit Schule unter christlichen Theologen (beileibe nicht bei allen). Nebenbei war er der erste Verfasser einer intimen Autobiographie. Der Eindruck, auf einen flapsigen Spruch gebracht: Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche. An Eva blieb der Ruf der sündhaften Verführerin hängen, und irgendwie blieb das weibliche Geschlecht in der Geschichte des Christentums unter Verdacht: Der Mann verkörperte die Vernunft, das Weib die Sinnlichkeit, woraus zu lernen ist, wie wenig Einfluss das, was wir heute Empirie nennen, lange Zeit auf die Menschen hatte. Luther, der Ex-Augustinermönch und Augustinusverehrer übernahm in dieser Hinsicht glücklicherweise wenig von Augustinus, für ihn war Sexualität schlicht Bestandteil der gottgeschaffenen Natur.

„Eden“ – Lust, Wonne – hieß das Paradies auf Hebräisch, „paradeisos“ (garten) ist die griechische Übersetzung. Aber der Garten (in) Eden ist nicht originär jüdisch, der Begriff stammt aus dem Sumerischen (Guan Eden, Rand der göttlichen Steppe). Für die Israeliten des Alten Testaments lag dieses Paradies auf Erden, im Nordosten, von Israel aus gesehen, irgendwo in der Landschaft zwischen Euphrat und Tigris. Fast allen frühen orientalischen Völkern war gemeinsam, dass sie irgendeine Paradiesvorstellung hatten. Es hätte also möglicherweise gar nicht der Einflüsse aus dem Juden- und Christentum bedurft, sie auch dem Islam zu implantieren. Die für Christen befremdlichen Elemente des islamischen Paradieses (Jannah), etwa die – zweiundsiebzig? – Jungfrauen als Belohnung für männliche Paradiesbewohner (also auch für die Märtyrer genannten Selbstmordattentäter), sind bekannter, als die Frage, wie es den Frauen dort geht: Sie haben nur einen Ehemann, ganz wie auf Erden.

Im Christentum blieb die Ausstattung des künftigen Paradieses immer ein wenig unbestimmt. Inwieweit spiegelten sich in ihm die irdischen Herrschaftsverhältnisse? Werden die Mächtigen dieser Erde auch dort privilegiert sein? Schließlich gilt ja die Gleichheit des Menschen vor Gott. Die Kirche, die so unverdrossen das Gottgewollte irdischer Machtverhältnisse predigte, geriet bei dieser Frage in Erklärungsnot. Andererseits konnte ihr nur recht sein, wenn auch die Mächtigen des christlichen Erdkreises vor der Hölle zitterten. Ganz allmählich verschwanden seit der Aufklärung Teufel und Hölle aus der protestantischen Theologie – und mit ihnen auch das Paradies, das kommende, das versprochene. Geblieben ist die Hoffnung auf das irdische Paradies. Sie stirbt nicht gerade zuletzt, aber spät. Für die einen gleicht das Streben nach jenem einem Wettlauf: Nur die Fittesten werden es erreichen. Das ist die Ideologie vornehmlich derjenigen, die sich zu den Fittesten zählen. Die weniger Selbstbewussten hoffen auf das Glück, auf das zwischenmenschliche oder jenes ordinäre, das sich im Lottogewinn am sinnfälligsten ausdrückt. Das „Streben nach Glück“ (Pursuit of Happiness) ist nach der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ein Menschenrecht. Ob das ausgeübte nun aber zum zeitweisen Erfolg führt oder nicht – über allen Menschen schwebt eine dunkle Wolke: „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen“, – eine besonders bedrohliche Vorstellung für diejenigen, die ihr Dasein ganz auf das Diesseits beschränkt wissen.

Doch wem der Trost des Glaubens abhandengekommen ist, hat noch ein urtümliches Instrument, das Bedrohliche abzudimmen: das magische Denken. Der genussvolle Konsum von Horrorfilmen, von medial vermittelten realen Gräueltaten, das Filmen von Unfällen mit dem Smartphone etwa, sind Strategien, den Schrecken der eigenen Verletzlichkeit und Endlichkeit auf Distanz zu halten – nicht weniger als ein allzu forscher Wirklichkeitssinn, der sich mit der eigenen Sterblichkeit wurstig abzufinden vorgibt. So ganz ungefiltert also schauen die Menschen für gewöhnlich ihrem zumeist als unselig empfundenen Ende nicht ins Auge. Das magische Denken ist möglicherweise das Grundelement aller Religion, nicht weniger als das jeden Aberglaubens, jeden Mythos, jeder Ersatzreligion, jeder Ideologie – kurz, all der Vorstellungen, die die Matrix menschlicher Weltsicht liefern, ungeachtet des scheinbar alles beherrschenden naturwissenschaftlichen Weltbildes.

Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski (1927–2009) definierte das menschliche Dasein als „mythogen“. Er meint, die Menschen könnten gar nicht anders als in mythischen Formen zu fühlen, und das heißt: auch zu denken. Davor rettet auch nicht die Flucht in die Vernunft. Jeder Glaube ist der Garant dafür, die Welt richtig zu sehen. Wo er allerdings vom Zweifel angenagt wird, verliert er seine Kraft, macht er Ketzer. Der Individualist von heute redet ohnehin lieber von seiner, wie anders: ureigensten, „Überzeugung“. Überzeugung oder Glaube, beides gibt Halt, beides stärkt. Über Wahrheitswerte ist damit noch nichts ausgesagt. Aber die Wahrheit, das ist ohnehin ein anderes Kapitel…

Wer also den Verlust der Aussicht aufs Paradies beklagt, ist deshalb noch nicht hoffnungslos antiquiert. Das Eiapopeia vom Himmel war nicht nur ein altes Entsagungslied, sondern auch ein Hoffnungslied. Mit ihm entschwindet auch die himmlische Gerechtigkeit, mag sie nun mit oder ohne Bestrafung der Übeltäter gedacht werden. Wäre es nicht schön, wieder an ein Paradies zu glauben, das auf uns wartet? So ganz fest, so, dass sein Vorschein heilsame Wirkung hier auf Erden ausübt? Aber kein Glaube lässt sich mit Wünschbarkeiten schaffen oder zurückbringen. Nein, das Paradies ist passé. Oder? Glüht da doch noch ein Funke unter der Asche? Man weiß nie.

Helmut Kremers

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