Geheimnis der Erlösung

Veränderung ist möglich, wo Erinnerung lebt
Foto: privat

Tabuisierungen, unausgesprochene Schuldvorwürfe. Für viele Familien gehört das zum Alltag. Verdrängte Erinnerungen belasten den gegenseitigen Umgang. Familien sind wichtig für unsere Gesellschaft. Wo Menschen in verbindlicher, verlässlicher und verantwortlicher Gemeinschaft zusammenleben, werden elementare soziale Kompetenzen erlernt. Aber Familien sind keine „sündenfreien Zonen“. Jeder Mensch ist Sünder und Gerechter zugleich. Deshalb sollten wir uns vor verklärender Idealisierung der Familie schützen.

Auch in meiner Familie gibt es Unausgesprochenes und Verdrängtes. Mein Großvater war ein treuer Soldat in beiden großen Vernichtungskriegen. Mir hat er viele Geschichten erzählt aus dieser Zeit. Für den kleinen Jungen waren das Abenteuergeschichten. Später fing ich an nachzudenken, warum er so seltsam verstummte, wenn ich erwähnte, was ich wusste über die Verbrechen dieser Zeit. Ein Bild hing im Wohnzimmer meiner Großeltern, ein vergrößertes Foto meines Großvaters in Majorsuniform. Aufgenommen irgendwo in Weißrussland. Immer hatte mir der Blick meines Opas darauf Angst gemacht.

Sehr viel später habe ich entdecken müssen, warum. In einer großen Wehrmachtsausstellung fand ich das Foto aus Weißrussland wieder. Und merkte: Das Bild zu Hause war nur ein Ausschnitt. Jetzt war zu sehen, dass mein Opa zu einem Kommando gehört hatte, das Gefangene zu töten hatte. Ich spüre noch heute mein Erschrecken von damals, als ich auf das Foto schauen musste. Spüre Wut und Trauer, weil ich ihn nicht mehr fragen kann, was ihn bewegte: Überzeugungen? Befehle? Oder hatte er einfach Angst um sein Leben und das seiner Familie? Meine Erinnerung jedenfalls ist unerlöst, wird auf immer bestimmt sein von diesem Bild in der Ausstellung.

Adventszeit ist Bußzeit, um sich der eigenen Irrwege inne zu werden. Die Adventszeit will nicht zulassen, dass wir verdrängen. Sie ist ein Stück Erinnerungskultur. „Vergessen verlängert das Exil, in der Erinnerung liegt das Geheimnis der Erlösung.“ So heißt es in einem chassidischen Text. Aber Erinnerung kann qualvoll sein und Angst machen, vor dem, was im Verborgenen schlummert, vor der Schuld, die mir auf die Füße fallen wird.

Ohne Vergebung kann es Erlösung nicht geben. Vergebung ist nicht zu haben an der Buße vorbei. Bußfertigkeit wird eingeübt durch genaues Hinsehen und Hinhören auf das, was getan oder eben nicht getan worden ist. Erinnerung bedeutet aber auch: Veränderung ist möglich. Es gibt einen anderen Blickwinkel auf Geschehenes! Befreiung und Gerechtigkeit gründen darin, dass Menschen sich erinnern - so wie Gott selbst sich an uns erinnert und nichts und Niemanden verloren gibt.

Gerhard Ulrich

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Gerhard Ulrich

Gerhard Ulrich war bis vor kurzem Landesbischof der evangelischen Nordkirche und ist Herausgeber von zeitzeichen.


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