Wie eine Schlange, die Gift spuckt

Wie man mit Kindern und Jugendlichen über Demenz sprechen kann
Studiobühne des Hamburger Ohnsorg-Theater: Die Produktion „Tüdelig in’n Kopp“ soll Kinder mit dem Thema Demenz vertraut machen.  Foto: dpa/ Christian Charisius
Studiobühne des Hamburger Ohnsorg-Theater: Die Produktion „Tüdelig in’n Kopp“ soll Kinder mit dem Thema Demenz vertraut machen. Foto: dpa/ Christian Charisius
Bis 2050 werden in Deutschland über drei Millionen Menschen an Demenz erkrankt sein. Damit steigt auch die Zahl der Kinder, die Demenz und ihre Folgen in ihren Familien erleben. Darüber, wie man mit Kindern über diese Krankheit spricht, klärt die Nürnberger Praktische Theologin Martina Plieth auf.

Demenz ist eine Krankheit. Da wirst du innen immer jünger, aber von außen kann es niemand sehen.“ So antwortet der zehnjährige Benjamin, wenn man ihn fragt, was Demenz sei. Kinder und Demenz? Für viele Menschen passen diese beiden Begriffe überhaupt nicht zusammen. Sie denken, dass ausschließlich alte Menschen an der „Krankheit des Vergessens“ leiden, oder gehen davon aus, dass Heranwachsende weder wissen wollen noch erfassen können, wie demenzielle Erkrankungen entstehen und was sie für die von ihnen direkt Betroffenen und deren Bezugspersonen bedeuten. Aber beides ist falsch.

Weltweit gibt es bereits ungefähr 70.000 Fälle so genannter Kinderdemenz, einer Folgeerscheinung der Erbkrankheit Neuronale Ceroid Lipofuszinose (NCL), 700 davon in Deutschland. Sie führt bei Betroffenen zu Erblindung, geistigem Abbau, motorischen Störungen, Epilepsie und vorzeitigem Tod - meistens vor Erreichen des 30. Lebensjahres. Heranwachsende kennen diese Fakten in der Regel zwar nicht, beschäftigen sich aber durchaus mit dem Phänomen Demenzerkrankung und stellen Fragen wie: Ab wann kriegt man Demenz? Kann man damit geboren werden? Kann man es als Kind bekommen? Diese Erfahrung konnte ich in meinem mit der Montessori-Pädagogin Daniela Hoffman gemeinsam durchgeführten Demenzprojekt mit Viertklässlerinnen sammeln.

Und da immer mehr Menschen demenziell erkranken, steigt auch die Zahl der Kinder, die Demenz und ihre Folgen in ihren Familien und Freundeskreisen konkret miterleben, ständig an. Bis 2050 dürften es 3,1 Millionen Demenziellerkrankte sein, und damit fast doppelt so viele wie heutzutage. Das führt dazu, dass sich auch Jüngere zunehmend Gedanken über demenzielle Erkrankungen und das Leben mit Demenz machen. Auch dies lässt sich durch Kinderfragen zum Thema Demenz belegen: Was verursacht Demenz? Wie vielen passiert es? Gibt es ein Heilmittel? Ist man traurig, wenn man es bekommt? Kann man auch vergessen, dass man es hat? Kann man noch lieben? Was ist mit den Angehörigen? Werden viele dadurch beleidigt? Brauchen die viel Geduld?

Wer die beschriebenen zwei Tatbestände ernst nimmt, wird versuchen, Kinder und Demenz zusammenzudenken und sich darum bemühen, mit Heranwachsenden über diese Krankheit des Vergessens zu sprechen, statt sie zu verschweigen. Und das so verständlich-informativ, dass wenigstens die zentralen Fragen, die Kinder im Umfeld von Demenz bewegen, zufriedenstellend beantwortet werden. Aber Letzteres ist - zumal wenn man selbst nicht ganz so viel Hintergrundwissen von demenziellen Erkrankungen und ihren medizinisch-biologischen Hintergründen besitzt, wie zum Beispiel Schrumpfungsprozessen oder Eiweißablagerungen im Gehirn - gar nicht so leicht. Deshalb ist es sehr gut, dass es inzwischen ein paar Hilfsmittel gibt, die für die Vorbereitung und Durchführung kindgemäßer Demenzgespräche verwendet werden können.

Herbst im Kopf

Bilder- und Textbücher für Kinder und Erwachsene zum Thema Demenz, speziell zur besonders häufig auftretenden Alzheimer-Demenz, bieten Hilfe. Denn 60 bis 70 Prozent aller Demenzkrankheiten gehören zum so genannten Alzheimer-Typ. In den meisten von ihnen wird erfreulich einfach, aber zutreffend erklärt, wie diese Krankheit zustande kommt und wie sie sich auf den Organismus Erkrankter auswirkt. So schreibt Dagmar H. Mueller in ihrem Buch Herbst im Kopf: „… Aber als Mama und ich fertig waren, verstand ich noch immer nicht, warum Oma Anni so viele Dinge noch weiß, die schrecklich lange her sind, aber die Dinge, die gerade eben passiert sind, sofort wieder vergisst.

,Genau das macht eben die Krankheit Alzheimer‘, sagte meine Mama. ,Sie macht, dass bei Oma Anni im Kopf langsam die Erinnerungen an ihr Leben verloren gehen.‘

,Stell dir das so vor‘, sagte meine Mama, ,bei Oma Anni ist jetzt Herbst im Kopf. Von ihrem Lebensbaum fallen die Blätter ab. Von Monat zu Monat mehr. Aber sie fallen nicht überall gleichzeitig ab, sondern als Erstes fallen die obersten ab. Und dann erst die, die darunter hängen. Und immer weiter so‘, sagte meine Mama. ,Am festesten sitzen die Blätter, die schon am längsten am Baum hängen. Also die von ganz unten.‘

Ich schaute auf den Baum, den wir gemalt hatten. ,Deshalb weiß sie noch so viele Dinge, die passiert sind, als sie jünger war?‘, fragte ich. ,So ist es‘, nickte meine Mama. ,Der Herbst in Oma Annis Kopf fegt erst die Erinnerungen weg, die am wenigsten lange her sind.‘ ,Und deshalb weiß sie manchmal nicht mehr, was wir ihr fünf Minuten vorher erzählt haben?‘, fragte ich. Meine Mama nickte …“

Und Bianca Mattern in Demenz, ist das ein Tier wie Krebs?: „… Eine Möglichkeit (Demenz zu bekommen; die Red.) ist das Älterwerden - und zwar ganz alt. So etwa wie bei der Waschmaschine. Wenn die Rohre sehr alt werden, lagert sich dort Kalk ab. Kalk ist der weiße Rand, der manchmal bleibt, wenn ihr über Nacht ein Glas Wasser stehenlasst, oder auch der weiße Rand im Bad am Wasserhahn oder bei der Dusche. Der wird meist mit Essig wieder ,saubergeschrubbt‘ - da Essig Kalk beseitigt. Ganz so einfach ist es mit den Kalkablagerungen im Hirn leider nicht. Das bleibt so und man kann nix mehr austauschen, wie bei der Waschmaschine - auch nicht, wenn man Essig trinkt. …“

Verändertes Gehirn

Selbstverständlich reicht es nicht aus, Heranwachsenden zu vermitteln, welche körperlichen Veränderungen durch demenzielle Prozesse hervorgerufen werden. Es ist auch wichtig, sie darüber aufzuklären, wie sich Menschen mit Demenz typischerweise verhalten und wie auf ihre besondere Art, in der Welt zu sein, angemessen eingegangen werden kann. Kinderbücher, die darauf ausgerichtet sind, gibt es nicht besonders viele, aber es gibt sie: „… Als ich mit Oma Anna nach unserem Besuch im Altenheim nach Hause gegangen bin, da musste ich sie doch noch etwas fragen: ‚Oma, warum sind deine Freundinnen so, wie sie sind?‘ Oma Anna hat mir alles ganz genau erklärt. Jetzt weiß ich, dass Berta, Irmtraud und Hilde eine Krankheit haben, bei der sich das Gehirn so verändert, dass man sich nichts mehr merken kann und nach und nach seine Erinnerungen verliert. Diese Krankheit heißt Demenz. Wer sie bekommt, ist nicht dumm und ohne Verstand, sondern vergisst einfach sehr viel und wird dadurch ganz unruhig, ängstlich oder unsicher. Manche Menschen mit Demenz laufen wohl deshalb ständig hin und her, so wie Frau Turboschnecke, andere bewegen sich gar nicht mehr und versinken in sich selbst, so wie Frau Anderland, und wieder andere wiederholen andauernd Bewegungen oder Wörter, so wie die beste Hochstaplerin der Welt. Wer dement wird, also Demenz hat, braucht auf jeden Fall Hilfe, vor allen Dingen auch Freundinnen und Freunde, liebe Menschen, die dabei helfen, verlorengegangene Erinnerungen wiederzufinden. Ich habe das sofort verstanden ...“ Das Zitat stammt aus dem Buch Mia besucht Frau Turboschnecke.

Obwohl Kinder aufs Ganze gesehen meistens toleranter als Erwachsene mit demenziell Erkrankten und ihrem manchmal recht merkwürdigen Verhalten umgehen können, fällt es ihnen nicht immer leicht, Normabweichungen und Tabubrüche von Menschen mit Demenz zutreffend einzuordnen und angemessen zu deuten. Sie erschrecken zum Beispiel in vielen Fällen und sind verunsichert, wenn jemand, der/die bislang immer in der Lage war, Alltagsdinge selbstständig zu bewältigen oder auf ein Gegenüber intensiv einzugehen, sich plötzlich handlungsunfähig oder als kontaktgestört zeigt und völlig anders als bisher (re)agiert. Wenn Letzteres der Fall ist, wird Aussprache dringend benötigt.

Heranwachsende müssen ehrlich sagen dürfen, was sie im Gegenüber zu demenziell Erkrankten empfinden, und Erwachsene sollten darauf verständnisvoll-empathisch eingehen, aber dabei natürlich auch demenzbedingte Situationen und Ausgangslagen darlegen und begreiflich machen. Ist dies alles gewährleistet, kann sich die kindliche Einschätzung von zunächst negativ Erlebtem im Umfeld von Demenz und Menschen mit Demenz durch Verstehen und Verständnis positiv wandeln.

Entlastende Gespräche

„Onkel Lennert nervt ganz schön, wenn er ins Badezimmer soll. Aber irgendwie verstehe ich ihn schon. Er weiß ja nicht mehr, was eine Dusche ist und wie die funktioniert. Er denkt vielleicht, dass der Schlauch, aus dem das Wasser kommt, eine Schlange sein kann. Und dass sie Gift nach ihm spuckt. Ich würde dann auch schreien. Das ist doch eigentlich völlig normal, “ sagt die zehnjährige Greta. Und Elisa (elf Jahre): „Also am Anfang, da wusste ich ja noch nicht, dass unsere Omi Demenz hat. Da war ich richtig wütend auf sie, weil sie überhaupt nicht mehr zugehört hat. Jetzt bin ich auch noch manchmal wütend, aber ich weiß, dass die Omi nichts dazu kann. Dann bin ich wütend auf die Krankheit. Die finde ich richtig doof. Aber unsere Omi findet das bestimmt auch. Sie wär’ bestimmt am allervielliebsten ganz gesund.“

Demenzgespräche werden von Kindern vor allen Dingen dann geschätzt und als entlastend empfunden, wenn sie auf Augenhöhe stattfinden und - dem Begriff Gespräch entsprechend - wirklich dialogisch ausgerichtet sind.

Heranwachsende möchten nämlich nicht einseitig (und womöglich nur oberflächlich) von Erwachsenen über Demenzphänomene belehrt werden, sondern etwas Substanzielles von Menschen mit Demenz und ihrer Erkrankung erfahren und lernen und sich in wechselseitigen Kommunikationsprozessen mit Erwachsenen darüber austauschen, was geschieht oder geschehen sollte, wenn jemand demenziell erkrankt.

Auch dazu zwei Beispiele, durch die einmal mehr deutlich wird, dass die Begriffe Kinder und Demenz mehr als gut zusammenpassen und nicht auseinanderdividiert werden sollten: „Wenn sie (die Erwachsenen; red) dir nichts sagen, dann ist das schlimm. Man muss doch darüber (über Demenz und ihre Folgen; red) reden. Also so richtig miteinander sprechen. Dann weißt du auch viel mehr und machst dir nicht so viele Sorgen.“ (Caro, zehn Jahre)

„Irgendwie habe ich schon lange gemerkt, dass mit Uroma was nicht stimmt. Aber jetzt weiß ich ja, dass sie Demenz hat. Seitdem wir darüber geredet haben, habe ich auch nicht mehr so viel Angst, wenn sie mal schreit oder immer nur weint. Jetzt kann ich auch mit ihr viel besser zusammen sein. Ich weiß ja jetzt, dass sie mein Gehirn braucht, weil ihr‘s nicht mehr so richtig funktioniert.“ (Judith, elf Jahre)

Literatur

Martina Plieth: Mia besucht Frau Turboschnecke. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2018, 40 Seiten, Euro 12,88.

dies.: Erklär mir Demenz - Mit Kindern über die Krankheit des Vergessens sprechen. Neukirchener Verlag, Neukirchen Vluyn 2018, 127 Seiten, Euro 18,-.

Bianca Mattern u.a.: Demenz, ist das ein Tier wie Krebs? Verlag modernes lernen, Basel 2015, 160 Seiten, Euro 19,95.

Dagmar H. Mueller: Herbst im Kopf. Meine Oma Anni hat Alzheimer. Verlag Annette Betz, Berlin 2006, 32 Seiten, Eur0 29,90.

Martina Plieth

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