Mehr als ein Wirtschaftsmodell

Über den "protestantischen Vater"der Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack
Alfred Müller-Armack (1901-1978). Foto: akg-images
Alfred Müller-Armack (1901-1978). Foto: akg-images
Neben Ludwig Erhard gilt der Wirtschaftswissenschaftler Alfred Müller-Armack als einer der wichtigsten Figuren bei der Konzeption und Einführung der schnell erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland nach 1945. Dabei war er kein Neoliberaler im heutigen Sinne, erklärt Daniel Dietzfelbinger, Referent der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Bayern.

Lange hielt sich das Gerücht, Alfred Müller-Armack, einer der prägenden Gestalten der Nachkriegswirtschaft in der Bundesrepublik, sei an seinem Lebensende zum Katholizismus übergetreten. Dann wäre es vorbei gewesen mit einer evangelischen Elternschaft - wird doch Müller-Armack stets als „protestantischer Vater“ der Sozialen Marktwirtschaft bezeichnet. Doch das Gerücht ist nicht wahr: Müller-Armack blieb sein Leben lang Protestant.

Wer war Alfred Müller-Armack, dessen Todestag sich 2018 zum 40. Mal jährt, was sind die Grundgedanken der Sozialen Marktwirtschaft, die heuer ihren 70. Geburtstag feiert?

Alfred Müller-Armack kommt am 28. Juni 1901 als Alfred Müller zur Welt. Den Namen Armack übernimmt er Ende der Zwanzigerjahre von seiner Mutter Elise - vermutlich wollte er bei Veröffentlichungen nicht mit dem zeitgleich reichlich publizierenden Staats- und Gesellschaftstheoretiker Adam Müller verwechselt werden.

Wissenschaftlich macht Müller-Armack zunächst steile Karriere: Er studiert in Gießen, Freiburg, München und Köln Nationalökonomie - heute würde man sagen Wirtschaftswissenschaften - und wird mit 22 Jahren an der Universität Köln, an der zeitgleich die Philosophen Max Scheler und Helmuth Plessner lehren, bei dem Soziologen Leopold von Wiese promoviert. Er habilitiert sich als einer der jüngsten Privatdozenten in Deutschland 1926 in Köln für Wirtschaftliche Staatswissenschaften.

Der junge Privatdozent gerät hinein in eine Diskussion, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Wirtschaftswissenschaften beherrscht: Sozialismus versus Liberalismus. Gerade waren die Gewehrschüsse der bolschewistischen Revolution verhallt, da zogen am Horizont die Wolken der Weltwirtschaftskrise auf. Beide theoretischen Konzepte, Sozialismus wie Liberalismus, hatten durch die politisch und ökonomisch turbulenten Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg Kratzer bekommen. Hinein in diese heftig geführte Diskussion um den richtigen wirtschaftspolitischen Weg schafften sich zunächst in Italien, rasch auch in Deutschland, Faschismus und nationalsozialistische Ideologie Raum, was bei vielen Wirtschaftswissenschaftlern Begeisterung auslöste, auch bei Müller-Armack.

Rechter Flügel

Der junge Privatdozent, der mit seinen konjunkturpolitischen Studien - ähnlich wie seine Kollegen Friedrich August von Hayek, Walter Eucken sowie Wilhelm Röpke - zum rechten Flügel der jüngeren Ökonomen gehört, begrüßt die politischen Veränderungen, von denen er sich wirtschaftspolitisch viel versprach. In dieser Begeisterung publiziert er 1933 das Buch „Staatsidee und Wirtschaftsordnung im neuen Reich“, in dem er den Faschismus als eine neue Epoche feiert, dem Staat das Recht einräumt, in die individuellen Lebensverhältnisse einzugreifen und das Führerprinzip bejaht. Allerdings enthält das Buch auch Passagen über eine Weiterentwicklung des Landes hin zu einer eher liberal orientierten Wirtschaftspolitik, die den Nationalsozialisten anscheinend nicht geheuer waren, denn 1934 verbieten die Behörden einen Neudruck.

Konsequenterweise tritt Müller-Armack am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein. Seine wissenschaftliche Laufbahn scheint abgesichert, er wird 1934 Professor in Köln. Einen ersten Knick macht seine Karriere, als er 1936 einen Ruf nach Frankfurt erhält, der Berufungsprozess aber staatlicherseits unterbunden wird. Er geht vorsichtig in Distanz zu den Nationalsozialisten und spinnt dünne Fäden zu Kontaktleuten der Freiburger Kreise, gleichwohl ist Müller-Armack nicht ernsthaft eingebunden in die Aktivitäten der interdisziplinären Professorenschaft.

1938 geht Müller-Armack - zunächst als außerordentlicher Professor - ab 1940 als Professor für Nationalökonomie und Kultursoziologie, insbesondere Religionssoziologie nach Münster. Müller-Armack sollte aufs Abstellgleis gestellt werden, denn etwas suspekt war ihnen der vielbelesene Professor aus Köln. Doch Müller-Armack verstand es, unter den Radaren der staatlichen Kontrolle zu fliegen: 1941 gründet er in Münster die Forschungsstelle für Allgemeine und Textile Marktwirtschaft. Dort liegt die Geburtsstätte des Begriffs Soziale Marktwirtschaft.

Klar ist dennoch: Müller-Armack blieb mehr oder weniger linientreu, wo es ihm und seiner Karriere zuträglich war, ohne sich dabei mit der NS-Ideologie zu identifizieren. Trotz dieser Loyalität gegenüber dem Staat ist Müller-Armack ab 1936 zeitweise Unterstützer der Bekennenden Kirche. In späteren Jahren hat sich Müller-Armack kaum zu dieser Zeit geäußert. Seine Schüler erzählen, dass es eine Black Box blieb, in die Müller-Armack niemand Einblick gewährte. Dieses Schweigen hat Müller-Armack mit ins Grab genommen, was immer wieder Raum für Spekulationen öffnet. Nur er selbst hätte das durch eine geradlinige Öffentlichkeitsarbeit verhindern können.

Nach 1945 nimmt Müller-Armack zahlreiche Beratertätigkeiten zum Umbau Nachkriegsdeutschlands wahr. Er entwickelt den Plan einer Währungsreform, wie sie dann die Besatzungsmächte und Ludwig Erhard 1948 durchführen. Das entscheidende Verdienst Ludwig Erhards liegt in der Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung zwei Tage vor der Währungsreform in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 1948 - die Geburtsstunde der Sozialen Marktwirtschaft.

1950 kehrt Müller-Armack nach Köln zurück und gründet dort das Institut für Wirtschaftspolitik. Im gleichen Jahr wird er Vorsitzender des Villigster Studienkreises „Die Verantwortliche Gesellschaft“, der aufgrund der Anregung des Sozialamtes der Evangelische Kirche in Westfalen berufen wird. 1952 beruft Ludwig Erhard Müller-Armack ins Wirtschaftsministerium - er bleibt dort bis 1963.

Erhard und Müller-Armack sind für das verantwortlich, was als deutsches Wirtschaftswunder in die Geschichte eingeht: Das reale Bruttosozialprodukt wächst von -2,2 Prozent in den Jahren 1939 bis 1949 auf +8,4 Prozent 1949 bis 1954 an - für den Professor gleichwohl nur logische Folge konsequenter Wirtschaftspolitik, erleichtert durch die amerikanische Hilfe des Marshall-Planes.

Müller-Armack ist auch auf europäischer Ebene tätig: Er arbeitet 1957 die Römischen Verträge als Basis der heutigen EU mit aus. Als um die Jahreswende 1962/63 die Verhandlungen über einen Beitritt Englands zur ewg scheitern, will Alfred Müller-Armack - Anhänger einer umfassenden und gesamteuropäischen Union - aus Protest gegen die Haltung Frankreichs zurücktreten, lässt sich aber zunächst zu einer Fortsetzung seiner Arbeit überreden. Nach dem Regierungswechsel 1963 scheidet Müller-Armack aus der Politik aus und widmet sich wieder der wissenschaftlichen Arbeit. Am 16. März 1978 stirbt Müller-Armack.

Was macht das Konzept aus, dessen geistiger Vater und Namensgeber Müller-Armack ist? Sie ist in den Augen ihres Konzeptors eine „irenische Formel“. Wie beschrieben, hatte die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Sozialismus lange Zeit die Debatte in der Volkswirtschaftslehre in den Zwanzigerjahren geprägt. Müller-Armacks Grundfrage für ein Zukunftskonzept war demnach: Wie lässt sich beides verbinden? Das führt ihn zu einer sozial ausgestalteten Marktwirtschaft: Der Markt, das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage, soll Herzstück der neuen Wirtschaftsordnung sein, der Funktionsapparat, allerdings nur instrumental verstanden werden: „Sie ist nur ein überaus zweckmäßiges Organisationsmittel, aber auch nicht mehr, und es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, der Automatik des Marktes die Aufgabe zu zumuten, eine letztgültige soziale Ordnung zu schaffen und die Notwendigkeiten des staatlichen und kulturellen Lebens von sich aus zu berücksichtigen.“

Müller-Armack wusste, dass eine adjektivlose Marktordnung Ungerechtigkeit schafft, dass die vielzitierte - freilich bei Adam Smith nur zweimal erwähnte - „unsichtbare Hand“ nicht alles zum Besten regelt. Also müsse der Staat die Rahmenbedingungen für eine faire Wettbewerbspolitik schaffen, mithin die Spielregeln, innerhalb derer die Akteure ihre Spielzüge vollziehen. Der Staat solle mit marktkonformen Maßnahmen sozialgestalterisch in das ökonomische Handeln eingreifen - marktkonform seien die Maßnahmen, die das innere Funktionssystem der Marktwirtschaft nicht gefährden, bestenfalls sich dieses sogar zunutze machen.

Zugleich solle der Staat bestimmte Bereiche wie Bildungswesen, Verkehr, Infrastruktur, nicht zuletzt Luft, Wasser und Rohstoffe, in seiner Obhut belassen - angesichts aktueller Privatisierungswellen öffentlicher Güter ein bemerkenswerter Ansatz.

Für einen Sozialkommunismus

Freiheit und soziale Gerechtigkeit stehen also in der Sozialen Marktwirtschaft in einem unlösbaren Wechselverhältnis, sind komplementär aufeinander ausgerichtet. Heißt: Geht die Waage auf die eine Seite, muss die andere Seite gestärkt werden. So verteidigt Müller-Armack zeit seines Lebens die Soziale Marktwirtschaft gegen links (die Soziale Marktwirtschaft sei zu liberal!) wie gegen rechts (die Soziale Marktwirtschaft habe bereits vorsozialistische Elemente!), denn Müller-Armack will einen - wie er es nennt - Sozialhumanismus unter der Bedingung der Freiheit, der nicht allein ökonomischen Kriterien folgt.

Nach der ökonomischen Stabilisierung der Gesellschaft wird das Konzept bei Müller-Armack in der zweiten Phase zum „Gesellschaftspolitischen Leitbild“. Er geht über die ökonomisch orientierten Fragen hinaus und analysiert weiter: Was macht eine Wirtschaftsordnung aus? Nur ökonomische Zahlen, oder gibt es noch andere Faktoren, die das Wie des Wirtschaftens bestimmen? Es ist mehr, weiß Müller-Armack: Allen voran die religiöse wie geistige Lage einer Zeit, die stets im Wechselspiel mit der ökonomischen Ordnung steht. Erst das Ganze mache den Wirtschaftsstil einer Zeit aus. Also darf die Soziale Marktwirtschaft nach Müller-Armack nicht nur eine ökonomische Ordnung widerspiegeln, sondern muss auch geistige Aspekte, religiöse Gedanken der Zeit einbeziehen.

Deshalb gestaltet Müller-Armack die Soziale Marktwirtschaft zum umfassenden Gesellschaftssystem aus. Sie wird zum Wirtschaftsstil der Moderne. Dabei erhält der Begriff Wirtschaftsstil eine neue Funktion. Hatte der Begriff im Rückblick auf eine Zeit den jeweiligen Wirtschaftsstil zu rekonstruieren - etwa wie man auch von bestimmten Kunststilen spricht -, so wird der Begriff Wirtschaftsstil im Nach-vorne-Blick zu einem ethischen Paradigma: Der Wirtschaftsstil Soziale Marktwirtschaft nimmt eine ideale Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vorweg, deren Ausgestaltung zu einer Verpflichtung für die Gegenwart wird. Die Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil avanciert zum sozioökonomischen Imperativ, fundiert auf den Werten Freiheit und Gerechtigkeit, die Müller-Armack explizit aus dem Christentum herleitet.

Freilich: Schon zu Lebzeiten Müller-Armacks gerieten Grundgedanken der Sozialen Marktwirtschaft unter die Räder, etwa durch den so genannten Generationenvertrag, den Konrad Adenauer 1957 schloss, um seine Wiederwahl zu sichern. Der Grundgedanke: Die Wirtschaft floriert, die Arbeitseinkommen steigen, folglich müsse man nur die Renten an die Arbeitseinkommen koppeln, so steigen auch die Renten. Mit Adenauers Unterschrift waren die Rentnerinnen und Rentner im Wirtschaftswunder angekommen (und Adenauer wiedergewählt). Der Haken dabei: Freiberufler, Selbständige und Beamte blieben außen vor. Die Folge heute: Rund 33 Millionen sozialversicherungspflichtige Beschäftige tragen die Soziallast von 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Weiter in den 1970er Jahren, als Willy Brandt und Helmut Schmidt die Sozialleistungen großzügig ausbauten und somit den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten noch mehr aufbürdeten. Schließlich, nach dem Tod Müller-Armacks, die Privatisierungswelle ab dem Jahr 2000.

Doch bleibt es Auftrag aus dem Müller-Armackschen Erbe in einer Zeit, in der der Turbokapitalismus in der nördlichen Halbkugel triumphiert, die soziale Ausgestaltung einer marktwirtschaftlichen Ordnung konsequent zu beachten. Natürlich gibt es angesichts der Globalisierung kritisch über verkrustete Elemente des Sozialstaates nachzudenken; man muss darüber hinaus auch erwägen, ob Sozialleistungen über Beschäftigung oder - was gerechter wäre - über Steuern zu finanzieren sind. Man muss über vieles nachdenken, vieles hinterfragen in einer Zeit, in der die gesellschaftspolitischen wie wirtschaftlichen Voraussetzungen völlig andere sind, als noch vor 70, 60, 50 Jahren.

Jedoch ist die Idee Soziale Marktwirtschaft so dynamisch konzipiert, dass sie - so der politische Wille da ist - auf die Herausforderungen der Moderne, sei es Globalisierung, Rationalisierung, Digitalisierung, reagieren kann, mindestens als gesellschaftspolitisches Leitbild, als sozioökonomischer Imperativ. Der Name Soziale Marktwirtschaft ist Programm, Müller-Armack schrieb sie immer groß: Wenige Tage vor seinem Tod antwortet Müller-Armack auf die Frage, ob der Begriff Soziale Marktwirtschaft international verwendet werden könne: „Weshalb soll es nicht möglich sein, dass man, ... die ‘Soziale Marktwirtschaft’ als terminus technicus schluckt. Das muss möglich sein. Dann aber, die ‘Soziale Marktwirtschaft’ großgeschrieben, das ist eine Bitte, mit der ich schließen möchte.“

Daniel Dietzfelbinger

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