„Zweiffel, wo das Christenthum dann sei“

Der Dreißigjährige Krieg und seine Bedeutung für die christliche Welt
Zeitgenössische Darstellung der „Schlacht am Weißen Berg“ am  8. November 1620. Foto: Picture alliance/akg-images
Zeitgenössische Darstellung der „Schlacht am Weißen Berg“ am 8. November 1620. Foto: Picture alliance/akg-images
Vor vierhundert Jahren begann der Dreißigjährige Krieg. Der Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann beschreibt die Verquickung von konfessionellen und staatlichen Interessen der jeweiligen Kriegsparteien. Für ihn ist die Rückschau kein Anlass für sauertöpfische Schuldbekundungen, sondern zur Freude darüber, dass sich das Christentum weiterzuentwickeln begann.

Fragt man nach dem „Anlass“ dieses längsten europäischen Krieges an der Schwelle zur Neuzeit und hört als Antwort, streberisch - beflissen - korrekt, vom „Prager Fenstersturz“ fabulieren, wird klar, dass auch dem Geschichtsunterricht unserer Altvorderen nachzutrauern kein Grund besteht. Denn dass die Statthalter des habsburgisch-katholischen Kaisers - Martinitz und Slawata sowie ihr Sekretär Fabricius - von Vertretern des böhmisch-protestantischen Adels aus einem Burgfenster auf dem Prager Hradschin gestoßen wurden, war gewiss ein aufrührerischer Akt, eine scharfe Provokation, eine schwere Demütigung. Doch immerhin haben die Drei überlebt, dank eines Misthaufens auf dem Grunde des 15 Meter tiefen Burggrabens. Dass die Katholiken darin ein Wunder der Gottesmutter Maria sahen, war aus protestantischer Sicht ärger- und lächerlich. Aber deshalb einen Krieg anzetteln, gar einen, der drei volle Jahrzehnte weiterbrennen sollte, der brandschatzte, mordete, marodierte und seine Kinder und Enkelkinder fraß? Das war abwegig und unvorstellbar. Zwischen dem „Anlass“ des „Prager Fenstersturzes“ vom 23. Mai 1618 und den immensen Folgen jener Ereignissequenz, die schon einige Zeitgenossen den Dreißigjährigen Krieg nannten, bestand kein logischer, kein irgendwie zwingender, kein vermeindlich unvermeidlicher Zusammenhang.

Was diesen Krieg ermöglichte, in Gang hielt und immer neu vorantrieb - und auch die Reaktionen auf den „Prager Fenstersturz“ bestimmte -, war, dass sehr viele Akteure in verantwortlichen Positionen Wege des Ausgleichs, des Kompromisses, des Friedens verachteten und den offenen Konflikt, die kriegerische Auseinandersetzung, den direkten Kampf bejahten, ja suchten. Dreißig Jahre Krieg - dieses unüberschaubare Gewirr der Ereignisse und Gräuel funktionierte nur wegen bestimmter Strukturen, Mentalitäten, erratischer Feindbilder, politischer Antagonismen und ideologisierter konfessioneller Systembildungen.

Gewiss - die Lösungen, die die Vorgängergenerationen in Bezug auf die Kernfrage des Zeitalters, nämlich die nach Rechten und Grenzen der drei christlichen Konfessionen - dem Luthertum, dem Katholizismus und dem Reformiertentum - gefunden hatten, waren in mancher Hinsicht unzureichend geblieben. Die Frage eines reichsstädtischen Reformationsrechts etwa war juristisch ungelöst, das ius reformandi (das heißt, das Recht der Obrigkeit, die Konfession der Untertanen zu bestimmen) war umstritten geblieben; der Ausschluss der Reformierten aus dem Friedenswerk von 1555 stellte eine erhebliche Bürde dar. Und doch hatte man einige Jahrzehnte mit diesen Aporien zu leben vermocht und sie, pragmatisch agierend, entschärft. Angesichts dessen, dass der Westfälische Friede von 1648 über weite Strecken kaum sehr viel mehr als eine überarbeitete und verbesserte Version des Augsburger Religionsfriedens von 1555 werden sollte, die Enkel am Ende also doch keine Alternative zum Kompromissmodell der Großväter fanden, wird deutlich, dass das rechtlich-pragmatische Ausgleichssystem des „Altes Reich“ - entgegen seiner späteren Perhorreszierung durch ein borussisches Geschichtsbild - das schlechteste nicht gewesen war.

Zu einem linearen Triumphnarrativ westlicher Modernisierung - Toleranz und Menschenrechten inklusive - taugt die Erinnerung an die langwierigen militärischen und diplomatischen Auseinandersetzungen des Dreißigjährigen Krieges, die auch im Namen und aufgrund der christlichen Religion geführt wurden, sicher nicht. Gerade diese Auseinandersetzungen aber sind ein Menetekel unserer Zivilisation: Es bedeutet, dass die bloße Duldung des Anderen nicht zu wenig sein muss, sondern sehr viel sein kann, dass dem seine Kompetenzen erprobenden und stetig ausweitenden frühmodernen Staat jedes auch religiöse Mittel recht war, dass aus Blut und Tränen Vernunft und Respekt erwachsen können und dass auch die christliche Religion abgründige Fanatisierungspotentiale besitzt.

Dass der böhmische Ständekonflikt zu einem europäischen Kriegsfanal wurde, hing mit strukturellen und mentalitären Sachverhalten zusammen, die sich in den Jahrzehnten zuvor entwickelt, aufgestaut und überlagert hatten. Im Reich war es zu einer konfessionsbedingten Lähmung der wichtigsten rechtlichen und politischen Institutionen - des Reichskammergerichts und des Reichstages - gekommen, weil Protestanten und Katholiken auf je ihre Weise einzelne regionale und lokale Konflikte, etwa um die Besetzung von Domkapiteln, die Säkularisierung von Klöstern oder die dem Konfessionsproporz widerstreitende Repräsentation in Reichsinstitutionen, hochspielten und als Anlass wechselseitiger, systemrelevanter Blockaden benutzen. Die Gründung militärisch-politischer Bündnisse in den Jahren 1608/9 - der protestantischen Union unter Führung der reformierten Kurpfalz und der katholischen Liga unter bayrischer Ägide - entsprach der fortschreitenden Bereitschaft einflussreicher Fürsten und Politiker, zuzuspitzen, zu polarisieren und aufzurüsten. Nicht die um einen neutralen Mittelweg bemühten „Tauben“, wie das notorisch um einen Ausgleich mit dem Kaiser bemühte lutherische Kursachsen, sondern die aggressiv eigene und ihrer Konfession Vorteile suchenden „Falken“ dominierten fortan das Geschehen.

Als die auf ihre Freiheiten bedachten böhmischen Stände der als tyrannisch empfundenen Habsburgerdynastie und ihrem Prätendenten Ferdinand den Gehorsam aufkündigten und den reformierten Kurfürsten Friedrich V. von der Pfalz zu ihrem König wählten (26./27. August 1619), war eine entscheidende Voraussetzung für die Konflikteskalation geschaffen. Der zum Kaiser gewählte Ferdinand II. machte mobil; dem „Winterkönig“ aus der Pfalz gelang es nicht, eine nennenswerte militärische Unterstützung protestantischer Reichsstände zu erlangen. In der Schlacht am Weißen Berge (8. November 1620) unterlag er und floh ins niederländische Exil. Sein heimisches Territorium wurde von ligistischen und spanisch-flandrischen Truppen besetzt; letztere operierten hier, nach dem Ende eines Waffenstillstandes mit den nördlichen Niederlanden, um die „spanische Straße“, die Nachschublinie der Habsburger nach Brabant und Norditalien, zu sichern. Diesem ersten böhmisch-pfälzischen Krieg (1618-1623) schlossen sich drei weitere Kriegsphasen an: die niedersächsisch-dänische (1623-1629), die schwedische (1630-1635) und die europäische (1635-1648).

Nach und nach entwickelte sich der Krieg zu einem europäischen Mächteringen, in dem sich konfessionelle und machtpolitische Handlungsmotive kaum entwirrbar durchdrangen und das die Neuzeit prägende europäische Staaten-system und sein Bemühen um eine „balance of power“ in ersten Umrissen erkennbar wurden. Neben eindeutig konfessionell konnotierten militärisch-politischen Allianzen (etwa der zwischen der spanischen und der österreichischen Linie des Hauses Habsburg und Polen oder der sächsisch-dänisch-schwedischen) ergaben sich andere, die primär interessenpolitisch bestimmt waren: Frankreichs Unterstützung der protestantischen Union zielte vor allem auf eine Schwächung Habsburgs ab; die Niederlande erstrebten ihre Unabhängigkeit und bauten ihren Überseehandel zu Lastens Spaniens aus, ein Ziel, das mit den Interessen Englands koinzedierte. Gekämpft wurde mit Söldnerheeren; religiösen Gesinnungen folgten diese nicht.

Ohne Zweifel: Der Dreißigjährige Krieg illustriert die für die europäische Frühneuzeit charakteristische Verschmelzung von konfessioneller Identität und Staatsinteresse wie kaum ein anderes Phänomen. Die jeweiligen konfessionellen Varianten des lateinischen Christentums nahmen je für sich in Anspruch, allein jene wahre Lehr- und Lebensgestalt des Christlichen zu vertreten, die ihre Anhänger zum Heil führte. Jede der Konfessionen sah in den anderen Teufelswerk und hielt einen Krieg gegen sie für grundsätzlich nicht weniger berechtigt als den Kampf gegen den „Erbfeind“ der Christenheit, den Türken. Besonders unter den Lutheranern war der Glaube lebendig, nun in den letzten Wirren der Endzeit, vor der Wiederkunft des nahenden Herrn zu stehen; im Kampf für die wahre Religion gelte es auszuharren, zu kämpfen und zu leiden, beständig und treu zu sein bis ans Ende.

Freilich wäre nichts falscher, als die Konfessionen allein als eifernde Kriegstreiber am Werke zu sehen. Je genauer man auf die Konfessionen schaut und eine Vielzahl ihrer Lebensäußerungen im Krieg und zum Frieden in Betracht zieht, desto deutlicher wird ihre innere Spannweite, Widersprüchlichkeit und Pluralität. Neben triumphalistischen Durchhalteparolen, die an das zur spirituellen Heerschau des Protestantismus geratene erste Reformationsjubiläum von 1617 anknüpfen konnten, finden sich unermüdliche Mahnungen zum Frieden und wackere Aufrufe zur Buße. Neben der heilsgeschichtlichen Überhöhung Gustav Adolfs II. von Schweden, dessen vernichtenden Schlag gegen das verhasste Papsttum man erwartete, zogen lutherische Laienpropheten mit dem Appell durch die Lande, sich wegen der evangelischen „weltgreuel“ wie Blasphemie, Fluchen und Meineid nicht auf menschliche, militärische Stärke zu verlassen, sondern allein auf Gott. Neben einem Kult lutherischen Kriegermutes standen Mahnungen, eigener Kraft zu entsagen und sich ganz auf Christi Leiden zu werfen. Neben Zeugnissen reformierten Überlegenheitsbewusstseins fehlte es an solch brüderlicher Verbundenheit mit den „Lutherischen“ nicht. Und auch im katholischen Lager prallte die Absage der päpstlichen Kurie an jeden Frieden mit Ketzern hart gegen den Pragmatismus besonnener Politiker und Juristen, die dem Frieden eine Bahn brechen wollten und sich von Jesuiten und anderen Römlingen nicht daran hindern ließen, dies im Namen des dreieinigen Gottes zu proklamieren.

Während intransigente Konfessionalisten uneinnehmbare Lehrzitadellen zimmerten, brachen freiere, unkonventionellere Geister aus allen Lagern auf, um humane Gemeinsamkeiten zu entdecken, den auf Hexen zurückgeführten Nöten von Angst und Teuerkeit mit rationalen Strategien zu begegnen und den von Sündenbockphantasien irregeleiteten Zeitgenossen nüchterne Kausalitäten von Missernten, Klimawandel („kleine Eiszeit“), Seuchenanfälligkeit und Ernährungsnöten zu offerieren. Zahllose ‚einfache’ Menschen dieser Epoche hinterließen literarische Selbstzeugnisse; die Nöte des Krieges führten nicht nur zur Verrohung, sie brachten auch eine sensiblisierte, individualisierte Frömmigkeit hervor. Auch wenn die Idee des Kirchenhistorikers Karl Holl (1866-1926), der neue Frömmigkeitsstil des Pietismus verdanke sich der Blut- und Tränensaat des Großen Krieges, von seiner eigenen Verstrickung in die Siegfriedensideologie des Ersten Weltkrieges schwerlich zu trennen ist, enthält sie etwas Richtiges. Dass keine Epoche evangelischer Kirchenlieddichtung im heutigen Evangelischen Gesangbuch präsenter ist als die des Dreißigjährigen Kriegs, kommt nicht von ungefähr. Not lehrt Beten, Dichten und Singen, das ist gewisslich wahr.

Der schlesische Lutheraner Friedrich Logau formulierte wohl gegen Ende des Krieges unter der Überschrift „Glauben“: „Lutherisch/ Päbstisch und Calvinisch/ diese Glauben alle drey/sind verhanden; doch ist Zweiffel/ wo das Christenthum dann sey.“

Gewiss sprach sich darin, nach Jahrzehnten des Mordens im Namen der christlichen Religion, der Verlust einer gemeinsamen Substanz des Christlichen aus. Und doch meldete sich hier, anknüpfend an den Theologen Johann Arndt (1555-1621), zugleich ein Zukunftsmotiv, das für das Christentum in der Neuzeit bestimmend werden sollte: Die entschränkende Unterscheidung des Christlichen und des Kirchlichen, des Religiösen und des Institutionellen, des persönlichen Glaubens und seiner öffentlichen Gestalt. Der Impuls, das Christentum in, mit, unter, jenseits der verfassten Kirchentümer und auch gegen sie zu entdecken, zu kultivieren und weiterzuentwickeln, ging aus seiner eigenen Mitte hervor - in einer Zeit, in der sich die einzelnen Konfessionen, von eigensüchtigen politischen Gemeinwesen gestützt und instrumentalisiert, hypostasierten und selbst verabsolutierten.

Die im Dreißigjährigen Krieg einsetzende Transformationsdynamik des Christentums hält bis heute an. Recht verstanden ist der Dreißigjährige Krieg kein Anlass für sauertöpfische Schuldbekundungen und beflissenes „Healing of memories“ vermeintlich durch die „Kirchenspaltung“ der Reformation entstandener Religionskriege; er ist Anlass zur Freude darüber, dass sich das Christentum weiterzuentwickeln begann

Thomas Kaufmann

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