Anna meint es schwarzweiß oder blau

Dass Menschen die Unwahrheit sagen, ist naturgegeben
Die so genannten Lügendetektoren messen Veränderungen von Puls, Blutdruck, Atmung oder Hautleitwert. Foto: dpa
Die so genannten Lügendetektoren messen Veränderungen von Puls, Blutdruck, Atmung oder Hautleitwert. Foto: dpa
Lügen lernen ist eine natürliche Entwicklungsstufe des Menschen. Warum Menschen lügen und ob sie das für sich oder für Andere tun, ist ein Unterschied, erklärt die Hamburger Psychologin Nina Krüger.

Lügen begegnen uns täglich. Auf der Straße, zuhause, überall. Aber auch wenn Lügen eine alltägliche Sache zu sein scheinen: Einfach sind sie nicht. Sie erfordern kognitive Kapazitäten, nicht nur um sie zu erfinden und auszuschmücken, sondern auch um sie zu erinnern und aufrechterhalten zu können. Dass Menschen lügen können und es auch des Öfteren tun, ist wohl jedem bekannt. Warum, wie oft und auf welche Arten sie es tun, dahingegen weniger.

Ein akademisches Interesse an der Erforschung von Lügen entstand vornehmlich aus dem Anwendungsbereich der Rechtspsychologie, insbesondere um Lügner, beziehungsweise falsche Aussagen aufdecken zu können. In neuerer Zeit haben auch Grundlagenfächer wie die Entwicklungspsychologie das Thema für sich entdeckt. Aber: Was ist eigentlich eine Lüge? Die naheliegendste Antwort scheint zu sein: „eine Unwahrheit“. Aber ist es so einfach?

Die Bedeutung des Wortes Lüge ist laut Duden: „Eine bewusst falsche, auf Täuschung angelegte Aussage; absichtlich, wissentlich geäußerte Unwahrheit.“ Dabei ist es egal, ob die Aussage tatsächlich doch wahr ist. Entscheidend ist, dass der Sprecher davon ausgeht, dass die Aussage falsch sei. Beispielsweise denkt Anna, sie habe Schokolade zu Hause. Ihr Bruder Ben hat die Schokolade aber in der Zwischenzeit gegessen. Anna lädt Lisa nun zu sich ein und sagt: „Komm doch heute Nachmittag zu mir, ich habe Schokolade zu Hause!“ Sie lügt dann nicht, sondern erzählt unwissentlich eine Unwahrheit. Wenn Anna hingegen weiß, dass keine Schokolade zu Hause ist und nun Lisa zu sich einlädt und sagt: „Komm doch heute Nachmittag zu mir, ich habe Schokolade zu Hause“, dann sprechen wir von einer Lüge. Allerdings kann es auch zu einer „wahren Lüge“ kommen, wenn etwa Anna sagt, sie habe keine Schokolade mehr zu Hause, obwohl sie weiß, dass sie noch eine Tafel daheim hat. Wenn nun ihr Bruder Ben in der Zwischenzeit die Schokolade gegessen hat, ist ihre Lüge wahr.

Doch was braucht es zum Lügen? Als allererstes brauchen wir einen Grund, um zu lügen. Dieser Grund kann zum Beispiel sein, einen Vorteil für sich, Freunde oder die Familie zu erlangen. Es kann auch darum gehen, einen Nachteil zu verhindern. Um eine Lüge einzusetzen, brauchen wir außerdem zumindest das grobe Verständnis, dass sich durch eine Aussage etwas verändern kann und in der weiteren Entwicklung auch die Erkenntnis, dass meine Gegenüber falsche Vorstellungen haben. Dies wird bei Kindern mithilfe von „False Beliefs“-Tests abgefragt. Der wohl bekannteste ist der Sally-Anne-Test: Sally hat einen Korb, Anne eine Schachtel. Sally hat eine Kugel. Sie legt die Kugel in ihren Korb und geht spazieren. Als Sally weg ist, nimmt Anne die Kugel aus dem Korb und legt sie in ihre Schachtel. Dann kommt Sally zurück. Sie möchte mit ihrer Kugel spielen. Wo wird sie nach der Kugel suchen? Die Ergebnisse des „False Beliefs“-Tests zeigten bisher, dass sich Kinder erst etwa ab dem vierten Lebensjahr in Sallys Perspektive versetzen können und richtig „im Korb“ antworten. Jüngere Kinder hingegen übertragen ihr eigenes Wissen aus der Rolle als unbeteiligter Beobachter auf Sallys Überzeugungen und antworten „in der Schachtel“. Allerdings zeigen neuere Studien, dass Kinder bereits viel früher dazu in der Lage sind, solche Überzeugungen zu erkennen. Wenn der Test nicht auf Sprache basiert, sondern die Antwort anhand der Blickdauer gemessen wird, zeigt sich: Die Kinder erwarten, dass Sally die Kugel im Korb suchen wird. Schon sieben bis zwölf Monate alte Babys schauen deutlich länger, wenn Sally den Ball in der Schachtel statt im Korb sucht.

Das heißt, Kinder, die sich noch nicht über Sprache ausdrücken können, erkennen bereits falsche Überzeugungen anderer. Um diese dann aber zu nutzen, zum Beispiel in Form einer Lüge, braucht es noch mehr. Entwicklungspsychologen haben herausgefunden, dass man mehr lügt, je älter man wird. Dies könnte durch die zunehmende sprachliche Fähigkeit erklärbar sein. Allerdings lügen nicht nur ganz junge Menschen am wenigsten. Evelyne Debey, Maarten De Schryver, Gordon D. Logan, Kristina Suchotzki und Bruno Verschuere fanden in ihrer Studie „From junior to senior Pinocchio“ einen umgekehrten Verlauf der Häufigkeit des Lügens über die Lebensspanne. Demnach lügen ganz junge und ganz alte Menschen am wenigsten. Als Erklärungen führen die Autoren an, dass im jungen und hohen Alter bestimmte kognitive Prozesse, wie die Fähigkeit, bestimmte Reaktionen zu hemmen, verringerter seien als im mittleren Alter. Zudem gebe es vor allem in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter viele Gründe zu lügen, etwa um sich in der Phase der Pubertät von seinen Eltern abzugrenzen. Es ist auch denkbar, dass sich die Anzahl der relevanten Umfelder in gleicher Weise verändert. Kleine Kinder haben in der Regel nur wenige Umfelder, die Familie und vielleicht einen Kindergarten. Im mittleren Alter haben wir viele Bereiche, in denen wir uns bewegen: Familie, Freunde, Arbeit, Ausbildung und weitere. Ältere Menschen wiederum reduzieren ihre Kreise. Auch kennt einen das Umfeld schon lange und man riskiert nicht gleich die Beziehung, wenn man nicht aus Höflichkeit die Wahrheit verschweigt oder eine Notlüge anbringt.

Eine grobe Unterscheidung der Arten von Lügen kann in „egoistisch“ und „sozial“ unternommen werden. Dabei bezeichnen egoistische Lügen solche, die dem eigenen Vorteil oder gegen den eigenen Nachteil dienen. Soziale Lügen dienen dem Vorteil oder der Verhinderung eines Nachteils für jemand anderen oder gar einer ganzen Gruppe.

In der Literatur werden Lügen mit unterschiedlichen Farben bezeichnet, um die unterschiedlichen Ausrichtungen zu verdeutlichen. Die schwarzen Lügen bezeichnen die egoistischen Lügen, die sich nur auf eigene positive Konsequenzen beziehen.

Die weißen Lügen werden auch Höflichkeitslügen genannt und sind somit soziale Lügen, also mit positiven Folgen für den Zuhörer ohne die Absicht, jemanden zu verletzen. Die so genannten blauen Lügen stellen dabei einen Sonderfall der sozialen Lügen dar, bei dem ich meiner Gruppe einen Vorteil verschaffe. Wenn Anna sagt, sie habe heute noch keine Schokolade gegessen, damit sie von Oma noch ein Stück bekommt, lügt sie einzig für ihren eigenen Vorteil, sie begeht also eine schwarze Lüge.

Als Dankeschön, dass sie bei einer Untersuchung so gut mitgemacht hat, bekommt Anna ein Stück benutzte Seife. Als der Versuchsleiter sie fragt, ob sie sich darüber freut, sagt sie, dass sie dies tut, obwohl das eigentlich nicht stimmt. Sie lügt aus Höflichkeit. Zumindest hat sie wohl gelernt, dass man für Geschenke Dankbarkeit zeigt. Sie wendet also eine weiße Lüge an.

Als beim Fußballspiel eine Münze geworfen wird und die Zahl entscheidet, wer beginnen darf, sagt Anna, sie habe die Zahl geworfen, obwohl das Zeichen gefallen ist. Sie lügt für den Vorteil der ganzen Mannschaft, also sprechen wir von einer blauen Lüge.

Genau genommen dienen auch viele soziale Lügen indirekt dem eigenen Vorteil. Wenn ich für meinen Freund lüge und ihm einen Gefallen bereite, wird er mir vielleicht in Zukunft auch einen Gefallen tun. In jedem Fall festige ich unsere Freundschaft durch ein gemeinsames Geheimnis. Bisher ist es noch nicht gelungen, ein prosoziales Lügen - welches frei vom eigenen indirekten Vorteil ist - zu untersuchen. In einer Untersuchung konnten wir zeigen, dass Kinder zwischen drei und fünf Jahren nicht für eine fremde Person lügen, wenn nur diese und nicht sie selbst einen Vorteil davon haben. Bei der Studie wurden die Kinder von einer Puppe zu einem einfachen Kartenspiel eingeladen, bei dem sie ein Geschenk für sich und später für einen fremden Erwachsenen gewinnen konnten, wenn sie die richtige Karte zogen. Allerdings waren in dem Kartenspiel nur die falschen Karten enthalten. Die Aufgabe war also unlösbar und die Kinder mussten lügen, wenn sie ein Geschenk erhalten wollten. 17 von 96 Kindern, also 18 Prozent, logen für ihren eigenen Vorteil, um ein Geschenk für sich selbst zu erhalten. Nur neun von 96 Kindern, also neun Prozent logen, um ein Geschenk für einen anderen zu gewinnen. Dabei gab es keinen Zusammenhang zwischen den beiden Lügen. Ob ein Kind für sich lügt, beziehungsweise lügen kann, hängt demnach nicht damit zusammen, ob es auch für andere lügt.

Aber warum lügen nur so wenige Kinder, für sich oder für andere? Die Erklärung könnte eine Art der Kosten-Nutzen-Rechnung sein. Wenn ich nicht weiß, welche eventuell negativen Konsequenzen eine Lüge haben wird und im Gegenzug nicht weiß, wie toll ein angekündigtes Geschenk tatsächlich ist, beziehungsweise, was es mir für einen Vorteil verschafft, einem Unbekannten ein Geschenk zu erspielen, dann meide ich das Risiko, das meine Lüge enttarnt wird. Damit einher geht anscheinend auch die Entwicklung von Normen und Moral. Die Kinder lernen, dass eine Lüge richtig oder falsch ist, aber auch, dass einige Lügen erlaubt und andere unerwünscht sind.

Woran erkennt man eigentlich, ob jemand lügt? Neben der Entwicklung der Fähigkeit zu lügen, gilt ein besonderes Interesse der anwendungsorientierten Forschung der Aufdeckung von Lügen, etwa im Kontext von Vernehmungen in Gerichten. Ein Ansatz beschäftigt sich dabei mit der Messung von körperlichen Reaktionen, während eine Lüge erzählt wird. Die umgangssprachlich „Lügendetektor“ genannten Apparate messen dazu Veränderungen von Puls und von Blutdruck, der Atmung und dem Hautleitwert. Die Annahme ist hierbei: Wenn ich lüge, schlägt mein Herz schneller, mein Blutdruck steigt, ich erröte vielleicht, beginne zu schwitzen und atme schneller. Es sollte also mehrere sichtbare Veränderungen geben. Allerdings haben Lügendetektoren nur 55 Prozent Erfolg. Sie decken eine Lüge also nur etwa mit der Wahrscheinlichkeit des Ratens richtig auf.

Etwas bessere Ergebnisse zeigen sich bei der Kombination des Lügendetektors mit anderen Tests, wie etwa dem Kontrollfragentest oder dem Tatwissentest. Hierbei werden dem vermeintlichen Täter relevante und irrelevante Antwortmöglichkeiten geboten und die körperlichen Reaktionen während mehrerer Fragen über Details zur „Tat“ analysiert. So könnten Fragen lauten: War das Papier der Schokolade, die Ben weggenommen wurde, schwarz/blau/rot/gelb? Oder: Wurde Ben die Schokolade gestern Morgen/gestern Mittag/gestern Abend weggenommen?

In dieser Kombination ergibt sich eine Empfindlichkeit in Höhe von 82 Prozent. Das heißt, 82 Prozent der Lügner werden auch als Lügner erkannt, 18 Prozent der Lügner bleiben unentdeckt. Die Besonderheit dieses Vorgehens beträgt 93 Prozent. Das heißt, 93 Prozent der tatsächlichen „Nichtlügner“ werden als solche erkannt, sieben Prozent der Nichtlügner werden fälschlicherweise als Lügner identifiziert. Die Möglichkeit, eine Lüge allein an äußeren Merkmalen, beziehungsweise einen Lügner allein aufgrund seines Verhaltens zu erkennen, scheint nach wissenschaftlichem Standard nicht umsetzbar zu sein. Das hat aber auch positive Seiten, denken wir zum Beispiel an die weißen Lügen und die Vorteile, die sie uns und unserem Gegenüber bringen können.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Lügen das bewusste Täuschen eines anderen, unabhängig von der tatsächlichen Wahrheit ist. Dabei kann Lügen egoistische oder soziale Gründe und Ziele haben. Für jemand anderen zu lügen kann Vorteile bringen, Nachteile verhindern oder den anderen schützen. Dabei ist es gar nicht so leicht, eine gute Lüge zu erfinden, aufrecht zu erhalten und zu erinnern. Wenn dies glaubhaft umgesetzt werden soll, sind eine Menge kognitiver Kapazitäten notwendig. Eine Lüge eindeutig aufzudecken, ist gar nicht so leicht. Am besten eignen sich Fragen in Zusammenhang mit der Aufzeichnung der körperlichen Reaktionen auf diese.

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Nina Krüger

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