Verpasste Gelegenheiten

50 Jahre nach der Sprengung der Universitätskirche St. Pauli in Leipzig
Foto: privat

Am 30. Mai 2018 jährte sich zum 50. Mal der Tag, an dem die Universitätskirche St. Pauli in Leipzig gesprengt wurde - ein bis dahin unversehrter Kirchenbau aus dem 13. Jahrhundert, immer dreifach genutzt: gottesdienstlich, akademisch, musikalisch. Der brachiale Zerstörungsakt war Ausdruck einer Politik, die Vielfalt, den kontroversen wissenschaftlichen Diskurs und religiöse Orientierung militant bekämpfte. So musste ein Ort dem Erdboden gleichgemacht werden, der wie ein Stachel im ideologischen Einheitsbrei der ddr wirkte. An der Leipziger Uni steckte 1968 unter den Talaren weniger der „Muff von 1. 000 Jahren“, sondern ganz viel machtbesessener, staatshöriger Mief.

Nach der Friedlichen Revolution 1989/90, nachdem die Menschen für offene Grenzen, freie Meinungsäußerung, Pluralität der Weltanschauungen, der kulturellen und religiösen Prägungen auf die Straße gegangen waren, stand die Frage an: Was wird an der Stelle der gesprengten Universitätskirche entstehen? In einem streitigen Prozess ist es gelungen, die neue Universitätskirche St. Pauli zu bauen - zunächst gegen den erbitterten Widerstand und das gleichgültige Desinteresse vieler Universitätsangehöriger. Im Dezember 2017 wurde sie eingeweiht. Dabei hat die Universität Leipzig vor lauter Religionsphobie und Geschichtsvergessenheit verpasst, sich frühzeitig für den Bau eines interreligiös zu nutzenden geistigen und geistlichen Zentrums einzusetzen. Dieser hätte in noch ganz anderer Weise einen architektonischen Akzent in Leipzigs Innenstadt setzen und einen Mittelpunkt universitären Lebens bilden können, als dies jetzt der Fall ist. Doch die Universität Leipzig befand sich nicht im Gestaltungs- sondern im Abwehrmodus. Insofern war es konsequent, dass am Augustusplatz die neue Universitätskirche St. Pauli entstanden ist. Wenigstens das.

Nun wäre es Sache der Kirche, vor allem der Theologischen Fakultät und der Universitätsgemeinde, von sich aus diesen Raum ökumenisch, interreligiös zu öffnen und mit Leben zu erfüllen - statt ihn ausschließlich liturgisch zu stylen und damit zu verengen. Aber was kann man erwarten von denen, die sich in den vergangenen Jahren bei den politischen Gedenkveranstaltungen am 30. Mai auf dem Augustusplatz und den Debatten um die Unikirche rar gemacht hatten? Ironie der Geschichte: Die Theologen hatten es abgelehnt, die Institutsräume über der neuen Unikirche zu beziehen. Dafür sitzen jetzt die Informatiker im Zentrum der Universität.

Hatte man schon im Dezember 2017 versäumt, eine Einladung an alle Universitätsangehörigen (weit über 80 Prozent gehören keiner Religionsgemeinschaft an) auszusprechen, diesen Raum geistlich und religiös mitzugestalten, so setzte sich das in diesem Jahr fort: Im bieder gestalteten „Gedenk- und Dankgottesdienst“ ließ die Predigt von Landesbischof Carsten Rentzing eine reformatorische Bildungsbotschaft vermissen. Aktive und passive Beteiligung der Theologischen Fakultät geschweige denn anderer Fakultäten und Studierender? Fehlanzeige. Heraus kam eine selbstgefällige Ü-60-Veranstaltung, die weder eine ökumenische noch eine interreligiöse Strahlkraft entfalten konnte. Doch solche Gedenkgottesdienste müssen interreligiös ausgerichtet und mit Botschaften versehen sein, die signalisieren: Wir sehen die neue Universitätskirche als einen Ort an, an dem sich nicht nur Wissenschaft und Religion begegnen und um Wahrheit, Freiheit und Verantwortung ringen. Hier sollen die Vielfalt des religiösen Lebens und kulturelle Pluralität praktiziert werden. Darum gehören in diesen Raum jüdische, muslimische, buddhistische Feiern. Denn die Abwehr von Vielfalt, die militante Verengung des Denkens auf eine Wahrheit war eine der Ursachen für die Sprengung der Universitätskirche.

Mit dieser Haltung könnte man auch all denen entgegentreten, die sich jetzt wie die AfD anmaßen, die neue Universitätskirche St. Pauli, aber nicht nur sie, für ihre völkischen, fremdenfeindlichen und antipluralistischen Umtriebe zu instrumentalisieren. Dann kämen auch die Vorgänge in den Blick, die die tätige Fürbitte und Verantwortung herausfordern: wie der Brandanschlag auf eine türkische Familie in Solingen vor 25 Jahren oder die Zerstörung von Kirchen für eine Energiegewinnung von gestern (Braunkohle). Dann würde die neue Universitätskirche zu einem Ort des kulturellen und religiösen Pluralismus und des offenen gesellschaftspolitischen Diskurs in der Demokratie.

Schade, dass es denen, die jetzt für das geistliche Leben der neuen Universitätskirche St. Pauli verantwortlich sind, derzeit noch an dieser Wachheit und Souveränität mangelt.

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Christian Wolff ist Theologe und war unter anderem bis 2014 Pfarrer an der Thomaskirche in Leipzig. Seitdem ist er als Blogger und Berater für Kirche, Politik und Kultur tätig.

Christian Wolff

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