Mensch fragt, Maschine antwortet

Wie Künstliche Intelligenz schon jetzt unmerklich das Leben verändert
David Franklin Hanson Jr. (links) hat den humanoiden Roboter Sophia geschaffen, der die Staatsbürgerschaft von Saudi-Arabien bekommen hat. Foto: dpa/ Niu Bo
David Franklin Hanson Jr. (links) hat den humanoiden Roboter Sophia geschaffen, der die Staatsbürgerschaft von Saudi-Arabien bekommen hat. Foto: dpa/ Niu Bo
Roboter und Computerprogramme treffen schon heute komplexe Entscheidungen. Was wird aus uns Menschen und unseren Arbeitsplätzen? Diesen Fragen geht der Wirtschaftsjournalist Thomas Ramge nach.

Alexa erzählt gerne Witze. Oft sind die mäßig witzig. Aber über den künstlich-intelligenten Lautsprecher von Amazon lässt sich sehr bequem und präzise das Licht dimmen, der Wetterbericht (und in den USA auch der Kontostand) abfragen oder eine Pizza bestellen. Der Fachbegriff für Systeme wie Alexa ist „virtual assistant“. Oft werden sie auch nur kurz „Bots“ genannt. Die digitalen Technologieriesen in den USA und in Asien liefern sich seit einigen Jahren einen harten Kampf um die Vorherrschaft bei sprachgesteuerten virtuellen Assistenten. Sie bauen riesige Teams von Datenwissenschaftlern und Experten für maschinelles Lernen auf, übernehmen Künstliche Intelligenz-Startups, wie jüngst Samsung Viv, den kalifornischen Shootingstar unter den virtuellen Assistenten, oder sie schmieden überraschende Allianzen wie die zwischen Microsoft und Amazon, die ihre digitalen Helfer künftig zusammen im Dienste des Nutzers arbeiten lassen. Den Aufwand betreiben diese Unternehmen nicht aus purer Freude am technischen Fortschritt, sondern auch aus Sorge um ihre unternehmerische Existenz. Den Strategen bei Apple (mit Siri), Google (mit Google Assistant), Microsoft (mit Cortana), Facebook (mit M) und Samsung (mit Bixby) ist heute klar, dass in Zukunft der Zugang zu vielen, vermutlich den meisten digitalen Diensten wie im Raumschiff Enterprise erfolgen wird: Mensch fragt, Maschine antwortet. Wenn die Maschine das Frage-Antwort-Spiel nicht beherrscht, dann sucht sich der Mensch einen anderen Anbieter.

Nutzer erwarten dabei zum einen immer präzisere Antworten auf immer komplexere Problemstellungen. „Ok, Google. Ich will im März für drei Tage in die Schweiz zum Skilaufen fliegen. Welche Gebiete sind dann noch schneesicher, wo gibt es noch günstige Hotels, wann noch günstige Flüge, und brauche ich einen Mietwagen, um vom Flughafen Zürich ins Skigebiet zu kommen?“ Für die Antwort muss ein virtueller Assistent keinen Turing-Test bestehen, sondern zuverlässig Informationen recherchieren, aggregieren und sie gemäß den Vorgaben als Entscheidungsgrundlage aufbereiten. Zudem besteht berechtigte Hoffnung, dass wir eine Reihe nicht ganz so komplizierter, aber lästiger Alltagsentscheidungen nicht mehr selbst treffen müssen, sondern dass wir diese an intelligente Maschinen delegieren können. „Virtual assistants“ werden dann rechtzeitig Druckerpatronen nachbestellen, keine Zahlungsfrist einer Rechnung übersehen, aber es auch deutlich öfter als der Mensch merken, wenn die Rechnung zu hoch ist, und dann die Zahlung verweigern.

Virtueller Sekretär

Ein Vorahnung, wie intelligente Agenten künftig nervige Alltagsaufgaben übernehmen, geben Terminkoordinierungs-Assistenten wie „Amy“ oder „Julie“. Zielgruppe sind Menschen, die keinen menschlichen persönlichen Assistenten haben. Die Nutzer geben diesen KI-gestützten Diensten Zugriff auf ihren Kalender und das Email-Programm. Die Terminvereinbarung läuft dann wie folgt: Eine Anfrage für ein Treffen kommt per Email. Der Nutzer stimmt grundsätzlich per Mail zu und setzt dabei „Amy“ oder „Julie“ in „cc“. Von nun an übernimmt der künstlich intelligente Assistent das übliche Email-Ping-Pong solange, bis Ort und Zeit mit den jeweiligen Geschäftspartnern ausgemacht sind oder klar ist, wer wen wann unter welcher Nummer anrufen wird. Erweiterte Systeme versprechen zudem, die gesamte Tagesplanung für uns zu übernehmen, Termine zu priorisieren und unter Umständen zu verschieben, dem Nutzer in Meetings relevante Informationen vorzulegen und ihn auf Versäumnisse hinzuweisen. Zumindest die Terminkoordinierung funktioniert bereits heute recht gut.

Nahezu perfekt klappt es, wenn zwei virtuelle Assistenten im Auftrag ihrer menschlichen Chefs etwas miteinander koordinieren. Computer können nach wie vor am besten mit Computern. Gleichzeitig gilt: Immer mehr Menschen hören auf die Ratschläge von Computern, und zwar nicht nur bei eher trivialen Fragen, etwa, ob es besser wäre, auf der Autobahn den Stau durchzustehen oder die deutlich längere Ausweichstrecke über die Bundesstraße zu nehmen - eine Prognoseanwendung, die besonders Google dank seiner Fülle an Echtzeitdaten aus Smartphones mit Android-Betriebssystem relativ leicht und weitgehend genau errechnen kann.

Es ist freilich kein Zufall, dass Amazon hunderte Millionen Dollar in die Entwicklung von Echo gesteckt hat. Allerdings ist es auch kein Zufall, dass just dieses System so viel Erfolg hat. Seit seiner Gründung 1996 hat es Amazon wie kein zweites Unternehmen verstanden, aus Daten die Bedürfnisse seiner Kunden zu ermitteln. Seit Einführung seines personalisierten Empfehlungssystems im Jahre 1998 leitet das Unternehmen aus diesem Wissen über Kunden immer passgenauere Schlüsse ab, welches Produkt bestimmten Nutzern zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Preis anbieten muss, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass diese auf den Kaufknopf klicken. Genaue Zahlen darüber, wie gut diese virtuelle Empfehlungsmaschine beim größten Onlinehändler der westlichen Welt funktioniert, gibt Amazon nicht bekannt. Experten gehen davon aus, dass rund ein Drittel aller Verkäufe durch Kaufempfehlungen des Systems angestoßen wird. Ein so hoher Wert ist nur möglich, wenn Kunden die Empfehlungen tatsächlich als überzeugende Ratschläge, und eben nicht als lästige Onlinewerbung empfinden, die uns auf unseren Streifzügen durchs Netz verfolgt und uns Produkte anbietet, die uns kein bisschen interessieren oder die wir unter Umständen sogar bereits gekauft haben.

Digitales Marketing mit seiner dümmlichen Penetranz hat in den vergangenen Jahren bei Kunden viel verbrannte Erde hinterlassen. Auf der anderen Seite spornt der schlechte Ruf der Online-Werbung innovative Unternehmen dazu an, tatsächlich mehr Intelligenz in die virtuelle Kaufberatung zu bringen.

Zu den Vorreitern gehört hier das Unternehmen Stitch Fix. Das kalifornische Startup bietet seinen Kunden Mode in einem Abomodell an, im Fachjargon „curated shopping“ genannt. Es verschickt regelmäßig Kisten mit fünf Kleidungsstücken, von denen die Kunden so viele behalten können, wie sie wollen. Das Unternehmen lebt also davon, dass die Kleider im Paket möglichst genau den Geschmack ihrer Empfänger treffen. Jede Rücksendung hingegen verursacht Kosten. Um die Trefferquote zu erhöhen, beschäftigt Stitch Fix über siebzig hochbezahlte Datenwissenschaftler, die mit extrem komplexen Algorithmen und neuesten Methoden des Maschinellen Lernens die Prognose für eine positive Antwort auf die Frage verbessern: Behält dieser Kunde dieses Kleidungsstück? Neben naheliegenden Datenquellen wie Fragebögen und bisherigem Kaufverhalten - also aus Feedbackdaten darüber, welche Kleidungsstücke der Kunde in der Vergangenheit behalten oder zurückgeschickt hat - errechnet das System seine Vorschläge aus Instagrambildern, die der Kunde geliked hat. So erkennt die KI mitunter Muster in den Bildern, die sie Vorlieben zuordnen kann, die den Kunden selbst gar nicht bewusst sind.

Wasserdichter Einspruch

Auf dem Feld der künstlich intelligenten Rechtsberatung wächst das Angebot zurzeit rasant, vor allem in englischer Sprache. Der wohl erfolgreichste virtuelle Rechtsassistent der Welt hat den profanen, aber bezeichnenden Namen „DoNotPay“. Dieser Legal-Bot wurde von dem 19-jährigen Stanford-Studenten Joshua Browder programmiert und unterstützte seine amerikanischen und britischen Nutzer zunächst bei Einspruchsverfahren gegen Parkknöllchen, die nach Einschätzung der Parkenden zu Unrecht verhängt worden waren. Im Dialog fragt der Chatbot alle relevanten Informationen ab und spuckt nach wenigen Minuten einen individuell begründeten, örtlich angepassten und juristisch wasserdichten Einspruchsbrief aus. Den muss der Nutzer dann nur ausdrucken, unterzeichnen und abschicken. Binnen zwei Jahren wehrte der Roboter-Anwalt auf diese Weise rund 375 000 Bußgeldbescheide ab. Inzwischen erweiterte Browder die Kompetenzen seins Legal-Bots vom Verkehrsrecht auf viele andere Rechtsfelder wie Ansprüche gegen Fluglinien, Anträge auf Mutterschutz, Mietsachen und eine Einspruchshilfe für abgelehnte Asylbewerber in den USA und Kanada.

Beim eigenen Honorar wird der Jura-Bot seinem Namen ebenfalls gerecht. Der Service ist kostenlos - unter anderem deshalb, weil ibm den Stanford-Studenten seine KI-Plattform Watson kostenlos nutzen lässt.

DoNotPay ist nur ein Beispiel für Tausende Bots und Programme, die ebenfalls juristische Arbeit verrichten. Der Boom bei so genannter „LegalTech“ hat zwei einfache Gründe. Zum einen ist juristische Expertise teuer, es lässt sich also viel Geld damit verdienen. Zweitens eignet sich die Juristerei besonders gut für die Automatisierung mithilfe künstlicher Intelligenz, denn sie baut auf präzise formulierten Regeln (den Gesetzen und Verordnungen) in einer stark formalisierten Sprache auf, und es gibt viele schriftlich dokumentierte Fälle, Kommentare und Verträge, welche Maschinen mit Fähigkeit zu Musterkennung zum Vergleich heranziehen können. Zurzeit wird intelligente LegalTech überwiegend von Profis, also von Anwälten und Unternehmensjuristen genutzt, die mit ihr Verträge auf Fallstricke hin überprüfen, Berge von Dokumenten für die Unternehmensprüfung durchforsten oder auch Wahrscheinlichkeiten berechnen lassen, bei welchem Gericht sie eine Klage einreichen sollten, um ihre Erfolgsaussichten zu verbessern.

Je umfassender die Kompetenzen der Rechts-Bots werden und je einfacher ihre Benutzeroberflächen, desto häufiger werden Laien sie auch direkt nutzen. Der DoNotPay-Gründer Joshua Browder hat im Sommer 2017 seine KI-getriebene Chatbot-Technologie geöffnet. Jeder Rechtskundige kann nun ohne technische Kenntnisse selbst Anwendungen bauen. Ziel ist, dass DoNotPay bald in mehr als 1000 Rechtsbereichen vom Scheidungsrecht bis zur Privatinsolvenz schnell und unkompliziert helfen kann. Das soll ja nicht gerade die Stärke jedes menschlichen Anwalts sein.

Können Maschinen Krankheiten besser diagnostizieren als Menschen? Viele Experimente und Studien, besonders aus der Onkologie, Kardiologie und bei genetischen Krankheiten deuten darauf hin. Dank Deep-Learning-Verfahren mit Computer-Tomografie-Bildern lässt sich zum Beispiel das Tumorwachstum bei bestimmten Brustkrebsarten sehr viel genauer vorhersagen, was zu deutlich besseren Therapie-Entscheidungen führt. Doch das ist nur der erste Schritt auf dem Weg des medizinischen Fortschritts durch KI. Algorithmen haben bereits durch Mustererkennung in Zellproben Merkmale zur Unterscheidung von gutartigen und bösartigen Tumoren identifiziert, die der medizinischen Literatur bislang vollkommen unbekannt waren. Künstliche Neuronale Netze diagnostizieren also nicht nur, sondern sie betreiben auch Spitzenforschung.

Große Hoffnung ruht auch auf der massenhaften Verbreitung günstiger Sensoren, eingebaut in Standardprodukte, die massenhaft Daten liefern und damit die Grundlage für KI-Gesundheitsinnovationen schaffen. Smarte Uhren können den Herzschlag eines Menschen rund um die Uhr analysieren und Alarm schlagen, wenn abweichende Muster speziell für eine Risikogruppe einen Herzinfarkt ankündigen. Die Zuordnung zur Risikogruppe ist wiederum nur dank Maschinellen Lernens innerhalb eines genanalytischen Verfahrens möglich, bei dem unvorstellbar viele genetische Daten in ein aus Daten lernendes System eingefüttert werden.

Frage des Vertrauens

Zusammengefasst lautet die Hoffnung: KI-Agenten werden sich durch Gen-Datenbanken, Patientenakten, wissenschaftliche Studien und Seuchenstatistiken fräsen, um ärztliche Vorsorge, Forschung, Diagnose und Therapie auf ein neues Niveau zu heben. Allerdings ist auch hier, wie bei allen Meldungen zu medizinischen Durchbrüchen, Vorsicht geboten. Forscher und Gründer neigen auch hier zu Übertreibungen, oft um der Selbstvermarktung willen. Aber noch bedeutender dürfte sein, dass kaum ein anderer Bereich so stark reguliert ist wie Medizin und Gesundheit - von der Qualifikation des medizinischen Personals und seinen Befugnissen über Zulassungsverfahren für Medikamente und Gerätschaften bis zu besonders hohem Datenschutz für die Patienten. Dafür gibt es sehr gute Gründe. Der Preis hierfür ist, dass der Weg für Neuerungen aus den Forschungslaboren bis zur Umsetzung in Krankenhäusern und Praxen weit und steinig ist.

Wenn es Innovationen in die Praxis geschafft haben, stellt sich allerdings eine weitere grundsätzliche Frage: Vertrauen wir dem datenbasierten Urteil eines Künstlichen Neuronalen Netzes mehr als dem eines erfahrenen Arztes, der uns vielleicht schon als Kind behandelt hat? Der Informatikstudent mag dies uneingeschränkt mit Ja beantworten, denn er glaubt an Statistik. Viele Patienten werden sich jedoch mit der schrittweisen Übergabe der Entscheidungskompetenz vom Menschen auf Maschinen schwer tun. Diagnoseärzte und Anwälte stehen immer sehr weit oben auf den Listen qualifizierter Wissensarbeiter, deren Jobs durch KI-Automatisierung bedroht sind. Gleiches gilt für Wirtschaftsprüfer, Controller, Anlageberater, Versicherungsmakler, öffentliche Verwaltungsbeamte, Sachbearbeiter, Verkäufer und - eine weitere Pointe der Technikgeschichte - auch für jenen Berufsstand, der KI-Systeme erst erschafft, nämlich für die Programmierer.

In fast allen Wissensberufen, bei denen Entscheidungen mittels Künstlicher Intelligenz automatisiert werden, lässt sich die Frage nach einer potenziellen Massenarbeitslosigkeit von Wissensarbeitern auch umformulieren: Wie stellen Verkäufer, Anwälte und Ärzte sicher, dass sie mithilfe von KI mehr Menschen günstiger mit besserer Beratungsleistung helfen können? Der Leitgedanke hier ist: augmented decision making statt reine Automatisierung. Ginni Rometty, die Vorstandsvorsitzende von IBM, sieht die Dinge so: „Was einige Leute ‚Künstliche Intelligenz‘ nennen, ist in Wirklichkeit eine Technologie, die unsere Fähigkeiten stärkt. Eigentlich geht es nicht um Künstliche Intelligenz, sondern um die Erhöhung unserer Intelligenz.“ Für Wissensarbeiter hieße das im Umkehrschluss, dass nicht Künstliche Intelligenz sie in den kommenden Jahren ersetzen wird. Technik-affine Verkäufer, Anwälte und Ärzte werden jene Kollegen ersetzen, die KI nicht als Entscheidungsassistenten intelligent zu nutzen wissen.

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Thomas Ramge

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