Parallelisierungen

Vergleichbar? USA und Europa
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Durchgehend arbeitet Snyder mit Parallelisierungen, die analytisch undifferenziert und somit wenig plausibel sind.

Gewiss: Die bereits über ein Jahr andauernde Amtszeit von Donald Trump ist eine weltpolitische Herausforderung. Und ebenso gewiss wird der Einwohner eines bürgerlich bis linksliberal regierten Staates in West- oder Mitteleuropa trotz kontinuierlicher Berichterstattung aus Übersee nur schwer nachvollziehen können, was es in praxi für einen kritischen Geist bedeutet, unter der Regierung eines, wenn auch demokratisch gewählten, teils irrational agierenden Rechtspopulisten zu leben, der über ein enormes Waffenarsenal verfügt.

Vor diesem spezifischen Hintergrund ist Timothy Snyders Denkschrift "On tyranny. Twenty lessons from the twentieth century" zu verstehen, die in der Übersetzung von Andreas Wirthensohn jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Diese 20 Lektionen aus der Geschichte der großen totalitären Strömungen des 20. Jahrhunderts können erst einmal als ein Seismograph dafür verstanden werden, welche gefährlichen Entwicklungen ein amerikanischer Osteuropahistoriker - aus der Perspektive seines Fachgebietes -in der gegenwärtigen US-amerikanischen Politik ausgemacht hat. Wenn ein deutscher Verlag Snyders grundsätzliche Überlegungen zur Anwendung auf die politischen Entwicklungen in Europa empfiehlt, ergeben sich freilich - neben großer Zustimmung für das Grundanliegen - kritische Rückfragen.

Zunächst einmal steht außer Frage, dass diese Forderungen insgesamt und jede für sich ihre Berechtigung haben - weshalb sie allerdings auch bereits mehrheitlich bekannt und (mithin unter Anknüpfung an die deutsche und die europäische Zeitgeschichte) im politischen Bildungskanon fest verankert sind; etwa das Prinzip, keinen vorauseilenden Gehorsam zu leisten, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen oder Fehlinformationen im öffentlichen Diskurs gegenzusteuern. Hinzu kommen einzelne Lektionen, die sich tatsächlich auf neuere Phänomene und Herausforderungen beziehen, wie die Privatisierung von Gewalt (Lektion sechs: „Nimm dich in Acht vor Paramilitärs.“) oder so genannte Fake News (Lektion zehn und elf: „Glaube an die Wahrheit.“ - „Frage nach und prüfe.“).

Durchgehend arbeitet Snyder bei der Herleitung dieser Forderungen aus der Geschichte mit Parallelisierungen, die analytisch undifferenziert und somit wenig plausibel sind, wodurch historische Unterschiede nicht klar genug herausgearbeitet werden - etwa der Unterschied zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich der Dreißiger- und Vierzigerjahre und den Vereinigten Staaten der vergangenen acht Jahre. Durch diese Nivellierung gewinnt Snyders Text zwar an rhetorischer Schärfe; letztlich überschattet dieses alarmistische Angstszenario einer bevorstehenden autoritären Herrschaft jedoch seine Analyse der Gegenwart und seine Vorschläge zur Lösung des Problems.

So hinterlässt das Buch am Ende den Eindruck, dass es dem Autor von "Über Tyrannei" weniger um eine pragmatische Anleitung zu angemessenen Reaktionsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft auf populistische und autoritäre Tendenzen in Politik und Gesellschaft geht, sondern in erster Linie darum, den Trump-Kritikern eine gemeinsame Identität zu verschaffen, indem er ihnen die Möglichkeit gibt, sich in die Tradition des Widerstandes gegen die totalitären Regimes des 20. Jahrhunderts hineinzulesen. Doch je mehr Snyders Thesen von einer emotional aufgeladenen politischen Situation sui generis in den USA herrühren, desto stärker muss ihre Rezeption im Hinblick auf rechtspopulistische Strömungen in Europa differenzieren, die mit den USA korrespondierende, aber dennoch eigenständige Phänomene darstellen; zumindest solange es bei dieser Rezeption um mehr gehen soll als um eine weitere Verhärtung bereits bestehender ideologischer Fronten.

Tilmann Asmus Fischer

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