Antisemitismus in Deutschland

Die Judenfeindschaft findet immer wieder neue Formen
Judenhass am Brandenburger Tor in Berlin. Foto: dpa
Judenhass am Brandenburger Tor in Berlin. Foto: dpa
Der Antisemitismus in Deutschland steigt nicht linear - die offene, klassische Judenfeindlichkeit sinkt sogar seit etwa 15 Jahren. Das Auf und Ab der antisemitischen Einstellungen hierzulande gleicht eher einer Wellenbewegung, ausgelöst durch Trigger-Ereignisse vor allem im Nahen Osten. Und eine Auffälligkeit gibt es in Sachen Judenfeindlichkeit bei AfD-Anhängern, erklärt die Forscherin Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.

Die Ereignisse der letzten Wochen des Jahres 2017 haben das Thema Antisemitismus erneut in die Mitte der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt und gezeigt, welchen Aktualitätswert Judenfeindschaft bis heute hat. Israelfahnen wurden auf Demonstrationen gegen die Entscheidung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, verbrannt. Ein offensichtlich angetrunkener Mann drohte dem Besitzer eines israelischen Speiselokals in Berlin: „Du kriegst Deine Rechnung … In zehn Jahren lebst Du nicht mehr.“

Solche Manifestationen werden zum Medienereignis und heizen Debatten an, die schließlich dazu führen, dass die Betroffenen in den Vorfällen eine neue Qualität sehen und sich einem höheren Bedrohungspotential ausgesetzt fühlen. Gründe sind nicht nur die im medialen Fokus stehenden verbalen und tätlichen antisemitischen Übergriffe, sondern insbesondere auch der über Soziale Medien verbreitete Hass. Die Äußerung antisemitischer Stereotype und Vorurteile scheint - zumindest in den sozialen Netzwerken - kein Tabubruch mehr zu sein. Inhalte, wie sie noch vor ein paar Jahren in Briefen an den Zentralrat der Juden in Deutschland oder an die Israelische Botschaft in Berlin formuliert wurden, und damit nur einem kleinen Leserkreis zugänglich waren, werden heute im Internet unverblümt gepostet und verbreitet, lesbar für fast alle.

Erhöhte Sensibilität

Die mediale Aufmerksamkeit, die solche Ereignisse nach sich ziehen, geht einher mit der Behauptung, der Antisemitismus würde steigen, was linear gesehen nicht der Fall ist. Antisemitische Straf- und Gewalttaten erreichen zwar ein höheres Niveau als in den Neunzigerjahren, sind aber etwa gegenüber dem Jahr 2006, als im Zuge des sogenannten zweiten Libanonkriegs die Zahlen auf mehr als 1800 anstiegen, auf einem Stand von 1300 bis 1400 Taten, wobei ein Großteil unter die Rubrik Propagandadelikte und Volksverhetzung fallen. Zu beobachten ist eine Wellenbewegung, die immer dann einen Anstieg verzeichnet, wenn es zu einer Radikalisierung im Nahostkonflikt kommt (2001: Folgen des Beginns der zweiten Intifada; 2002: antisemitische Welle in ganz Europa; 2008/2009: Israelische Operation "Gegossenes Blei" im Gazastreifen: 1731 Straf- und Gewalttaten).

2014 führten die Demonstrationen in Folge des Gaza-Kriegs erneut zu einem Anstieg antisemitischer Übergriffe (1631), blieben aber unter dem Niveau der Jahre 2006 und 2009. 2015 war ein Rückgang auf 1402 Straf- und Gewalttaten zu konstatieren. Im Jahr darauf schließlich belief sich der Wert auf 1502. Es zeigte sich erstmals ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr ohne ein signifikantes Trigger-Ereignis. Da es sich bei den Angaben um eine Eingangsstatistik handelt, also das Ergebnis der von der Polizei vorgenommenen ersten Ermittlungsergebnisse, kann dies auch auf eine erhöhte Sensibilität der Beamten für das Thema Antisemitismus hindeuten und darüber hinaus die Folge der insgesamt im Bereich „Hasskriminalität“ angestiegenen Werte sein, die nun auch verstärkt Hasspostings und -mails aus dem Internet berücksichtigen.

In allen gesellschaftlichen Schichten

Die Erfassung antisemitischer Straftaten und die Einordnung in diverse Kategorien der sogenannten politisch motivierten Kriminalität (PKM) wurden in den vergangenen fünfzehn Jahren immer mehr ausdifferenziert, um die Motivlage genauer bestimmen zu können. So werden etwa „Straftaten im Zusammenhang mit dem Israel-Palästinenser Konflikt“ im Themenfeld „Bürgerkrieg/Krisenherde“ nun eigens erfasst. Sie zeigen, wie stark die Ereignisse des Jahres 2014, als es in vielen Städten zu pro-palästinensischen Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg kam, die Straftaten in diesem Feld anstiegen ließen. Seit Januar 2017 ist nun auch die merkwürdige Kategorie „PKM-Ausländer“ - neben PKM-rechts, PKM-links und PKM-sonstige - zum besseren Verständnis und damit zur klarerer Einordnung in PKM-ausländische Ideologie und PKM-ausländische Religion gegliedert. Da noch keine verlässlichen Zahlen für das Gesamtjahr vorliegen, ist nicht abzusehen, welche Folgen diese größere Ausdifferenzierung haben und ob dieses Feintuning tatsächlich einen besseren Einblick in die Motivlage ermöglichen wird. Bis August 2017 sind gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres (654) allerdings mit 681 mehr Taten verzeichnet worden.

Antisemitismus ist ein wandelbares Phänomen, das sich den jeweiligen Zeitläuften anpasst. Verwendung finden die immer gleichen, über Generationen tradierten Stereotypenmuster, die auf aktuelle Ereignisse reagieren und sich entsprechend variiert vor allem gegen Juden als imaginiertes Kollektiv richten. Antisemitismus begegnet uns in allen gesellschaftlichen Schichten, in allen religiösen Spektren und sozialen Milieus. Judenfeindschaft ist im rechtsextremen Lager ebenso wie im radikalen Islamismus wichtigster Träger und konstitutiver Bestandteil der Ideologie. Auch das linke Spektrum ist nicht frei von antisemitisch konnotierten Konstrukten, die aber keine elementare Komponente linksextremer Denkstrukturen sind. Diskurse allerdings, die den Nahostkonflikt, antizionistische Imperialismus-Zuschreibungen oder die Finanz- und Zinspolitik entsprechend linker Denkschemata thematisieren, können antisemitische Inhalte transportieren oder als solche verstanden werden.

Klassische rassenideologische Formen des Antisemitismus finden sich im Wesentlichen heute nur noch in einigen randständigen rechtsextremen Gruppierungen, im Umfeld von Neonazis und im subkulturellen Spektrum. Im Allgemeinen vermeidet die Szene Analogien zum nationalsozialistischen Rassenantisemitismus, weil sie durchaus erkannt hat, dass sie damit jegliche Anschlussfähigkeit an die Mehrheitsgesellschaft verwirken würde. Im rechtsextremen Spektrum dominiert ebenso wie in der Mehrheitsgesellschaft neben dem sekundären Antisemitismus, der sich aus Schuld- und Schamgefühlen und einer Verdrängung der Verantwortung für den Genozid an den europäischen Juden speist, der Antizionismus, verstanden als israelbezogener Antisemitismus.

Straf- und Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund, die nach wie vor zu 90 Prozent von Personen aus dem rechtsextremen Umfeld verübt werden, basieren überwiegend auf Formen des sekundären Antisemitismus. Der Antisemitismus wegen Auschwitz ist eng mit dem Holocaust und der Erinnerung daran verknüpft und gipfelt in einer Schuldprojektion auf „die Juden“, die die Deutschen angeblich ständig an die NS-Verbrechen erinnern und damit „Normalität“ verhindern würden. Diese Form des Antisemitismus wird in aktuellen Debatten häufig auf Israel übertragen und ist inzwischen in vielen europäischen Ländern aktuell, etwa wenn ein jüdischer Opferstatus abgelehnt und daraus folgend das Existenzrecht des Staates Israel bestritten wird.

Die Holocaust-Leugnung ist die extremste Form des sekundären Antisemitismus. Auch sie wird heute gegen Israel verwendet, indem der Holocaust in Abrede gestellt oder als „Mythos“ bezeichnet wird. Dieses sekundären Antisemitismus bedient sich auch das radikale islamistische Spektrum (zum Beispiel beim Holocaust-Karikaturenwettbewerb des Iran), um die anti-israelische Propaganda mit Schuldprojektionen aufzuladen, die unterstellen, die Staatsgründung Israels basiere auf der Lüge des Holocaust.

Auch im linken Spektrum lassen sich Versatzstücke eines sekundären Antisemitismus konstatieren, wenn bis heute Begriffe analog zur NS-Terminologie Verwendung finden, um Israel zu diskreditieren. Umfragen zeigen, dass solche Zuschreibungen in einem breiteren gesellschaftlichen Spektrum auf Zustimmung stoßen. Noch 2004 stimmten 68,3 Prozent der Befragten der Vorstellung zu, Israel führe einen „Vernichtungskrieg“ gegen die Palästinenser. 2011 sank der Wert auf 47,7 Prozent und fiel 2014 auf 40 Prozent. Es ist sicherlich nicht davon auszugehen, dass alle, die diesem Item zustimmen, generell eine antisemitische Haltung haben. Es bleibt dennoch zu bedenken, dass der Begriff im deutschen Kontext eine eindeutige Konnotation hat. Zweifellos als antisemitisch einzustufen ist allerdings die Gleichsetzung des nationalsozialistischen Genozids an den Juden mit der israelischen Politik gegen die Palästinenser, denn damit wird der Holocaust bestenfalls verharmlost und trivialisiert. 2016 stimmten 24,6 Prozent der Befragten bei einer Umfrage dieser Aussage eher bis voll und ganz zu. 2004 lag der Wert bei 51,2 Prozent und 2014 bei 27,1 Prozent.

Die repräsentativen Umfragen zeigen für die deutsche Gesamtbevölkerung einen kontinuierlichen Rückgang bei den offen klassisch-antisemitischen Einstellungen in den vergangenen rund 15 Jahren, der sich auch im Jahr 2016 fortsetzt. So lag die Zustimmungsrate zu klassischem Antisemitismus, der in verschwörungstheoretischer Manier Juden „zu viel Einfluss“ unterstellt und mit jahrhundertealten antisemitischen Stereotypen arbeitet, 2016 nur noch bei rund fünf Prozent, 2002 waren dies noch etwa neun Prozent. Fragt man allerdings nach der Parteienpräferenz, zeigt sich, welche Gruppierungen noch immer solchen althergebrachten Stereotypen anhängen: AfD-Anhänger stimmten 2016 auffällig hoch allen antisemitischen Facetten zu (47 Prozent israelbezogenem Antisemitismus), darunter zu 19,4 Prozent klassischen antisemitischen Stereotypen und lagen damit im Vergleich zu Anhängern von CDU/CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und der Partei Die Linke weitaus am höchsten.

Insgesamt ist aber auch die Zustimmung zu sekundärem Antisemitismus deutlich rückläufig: 2016 waren es nur noch 26 Prozent gegenüber 39 Prozent im Jahr 2011. Formen eines israelbezogenen Antisemitismus hingegen stießen 2016 bei 40 Prozent der Befragten auf Zustimmung. Eine harsche Kritik an israelischer Politik muss nicht immer mit Antisemitismus einhergehen. Gegenüber 2004 differenzieren die Menschen inzwischen doch eher. 2004 stimmten noch nahezu 90 Prozent der Befragten, die anhand ihres Antwortverhaltens äußerst kritisch Israel gegenüber eingestellt waren, gleichzeitig mindestens einem Item zu, das eine antisemitische Haltung offenbart. In den folgenden zehn Jahren hat sich dies erheblich verändert, und 2014 waren es nur noch 55 Prozent, die als kritisch gegenüber Israel einzustufen waren, aber eben doch auch für mindestens eine weitere Facette der Judenfeindschaft votierten.

In der wissenschaftlichen und öffentlichen Auseinandersetzung zum Thema Antisemitismus stand jahrelang zu Recht der Rechtsextremismus im Fokus. Zumindest in der Öffentlichkeit hat sich dieses Bild völlig verändert, anders als Rassismus und Fremdenfeindlichkeit wird der Antisemitismus der Rechtsextremen kaum noch thematisiert. Die öffentliche Wahrnehmung hat sich gänzlich verschoben. Heute stehen im Fokus der Debatten über Antisemitismus nahezu ausschließlich nur noch „die Muslime“. Seit der Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge haben solche Zuschreibungen noch zugenommen. Für die Mehrheitsgesellschaft dient diese einseitige Zuschreibung als willkommener Vorwand, sich nicht mit dem eigenen Antisemitismus auseinandersetzen zu müssen und zudem noch eine Gruppe als die vermeintlichen Täter zu identifizieren, die im Zuge eines zunehmenden antimuslimischen Rassismus in der Mehrheitsbevölkerung negativ konnotiert ist. Zu befürchten ist, dass die inzwischen in Teilen der jüdischen Community geäußerten Ängste vor Antisemitismus in den Reihen der Flüchtlinge Wasser auf die Mühlen derer sind, die gegen Muslime hetzen. Anhänger von Pegida und AfD geben vor, sie seien die Verfechter eines christlich-jüdischen Abendlandes mit gemeinsamer „Leitkultur“, die sich gegen Muslime richtet.

Insbesondere muslimische Verbände und Moscheegemeinden werden oft undifferenziert als Hort antisemitischer Agitation gesehen und Imame als „Hassprediger“ charakterisiert. Untersuchungen zu antisemitischen Einstellungen in muslimisch geprägten religiösen Milieus, die diese Vermutungen untermauern könnten, gibt es bisher jedoch kaum.

Die jüngsten Pilotstudien, die sich dem Phänomen des Antisemitismus unter Flüchtlingen anhand einer kleinen Zahl von Befragten annähern wollen, haben gezeigt, dass ein vergleichsweise hohes Maß an antisemitischen Einstellungen und große Wissenslücken unter Geflüchteten aus arabischen und nordafrikanischen Ländern und Ländern des Nahen und Mittleren Ostens zu konstatieren ist. Zugleich besteht aber ein großes Interesse an Informationen über den Holocaust. Der Nahostkonflikt, der nicht religiös rezipiert wird, sondern über eine ungleiche Ressourcenverteilung und die antisemitische Wahrnehmung Israels, versetzt mit klassischen antisemitischen Stereotypen und Verschwörungstheorien, spielen eine zentrale Rolle. Die Befunde verweisen auf große Unterschiede zwischen Geflüchteten aus unterschiedlichen Ländern mit jeweils unterschiedlicher antisemitischer Prägung und Sozialisation. Sie unterstreichen zudem die Rolle von kollektiven religiösen, nationalen und ethnischen Identitäten. Die hohe Befürwortung von Grundwerten der Menschenrechte, der Demokratie, der Freiheit der Religionsausübung und des wertschätzenden Umgangs miteinander fällt auf und wird in Opposition zu den Verhältnissen im Herkunftsland positiv hervorgehoben. Es gibt insgesamt zwar viele Hinweise für die Annahme einer großen Verbreitung von Antisemitismus bei Geflüchteten aus arabisch-muslimisch geprägten Ländern. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die Lage komplex ist. Die Gefahr besteht, den Blick zu einseitig nur auf die muslimische Bevölkerung oder aktuell auf Geflüchtete als Träger antisemitischer Einstellungen zu richten.

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Juliane Wetzel

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Foto: Boris Bocheinski

Juliane Wetzel

Juliane Wetzel ist Historikerin am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität in Berlin.


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