Mehr als Geld und Zinsen

Wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen ein wohltätiges Kreditgeschäft ins Leben rief
Foto: epd/ Deutsche Friedrich-Wilhelm-Raiffeisengesellschaft
Foto: epd/ Deutsche Friedrich-Wilhelm-Raiffeisengesellschaft
In diesem Jahr wird der 200. Geburtstag Friedrich Wilhelm Raiffeisens gefeiert. Obwohl sein Name eigentlich allgemein bekannt ist, können die wenigstens außer der Assoziation an eine Bank etwas damit verbinden. Raiffeisens Handeln war stark durch seinen protestantischen Glauben geprägt, wie der Kirchengeschichtler und Raiffeisen-Experte Michael Klein zeigt.

Friedrich Wilhelm Raiffeisen wurde am 30. März 1818 als siebtes von neun Kindern des Bürgermeisters Gottfried Friedrich Raiffeisen und seiner Frau Amalia in Hamm an der Sieg geboren. Ein unrechtmäßiger Eingriff in die Armenkasse sollte den Vater das Amt kosten und die Familie für Jahrzehnte mit Schulden belasten. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Biographie Raiffeisens.

Von seiner Mutter in diesen schweren Belastungen zu einer lebenspraktischen Frömmigkeit erzogen, kümmerte sich besonders sein Patenonkel, der Ortspfarrer, um ihn. Er vermittelte ihm auch die nötigen, über Volksschulniveau hinausgehenden Kenntnisse, um beim Militär aufgenommen zu werden. Als Soldat wurde er zu einer Spezialausbildung als „Oberfeuerwerker“ abkommandiert. Wohl bei seinen Arbeiten in einer Eisengießerei zog er sich ein Augenleiden zu, so dass er vorzeitig aus dem Militärdienst ausschied und bald darauf in die kommunale Verwaltungstätigkeit wechselte. Nach einer kurzen Ausbildung im Oberpräsidium der preußischen Rheinprovinz in Koblenz und einer Tätigkeit auf dem Landratsamt Mayen/Eifel trat er seine erste Stelle an. 1845 wurde Raiffeisen Bürgermeister der Westerwaldgemeinde Weyerbusch mit ihren umliegenden Dörfern. Raiffeisen setzte sich hier zunächst für die Verbesserung der Infrastruktur ein. Bessere Bildung durch Schulbau für die Kinder und bessere Verkehrsanbindung durch Straßenbau für die Bauern waren seine Projekte.

Alle für einen

Als es 1846/47 zu einem Hungerwinter kam, war der junge Bürgermeister besonders gefordert. Er orderte bei der königlichen Regierung Korn für seine Gemeindebürger. Dies wurde auch geliefert, allerdings mit der Maßgabe der sofortigen Bezahlung; etwas, dass den armen Menschen jedoch unmöglich war. Raiffeisen gab deshalb das Korn - später das Brot, das in einem kleinen Backhaus gebacken wurde - auf Kredit aus. Weitere Kornlieferungen wurden beschafft.

Die finanzielle Haftung übernahmen dabei die Mitglieder eines eigens gegründeten „Brodvereins“. 60 noch relativ Begüterte hafteten mit ihrem Vermögen, so dass diese eine gemeinsame Solidarhaft „Einer für alle und alle für einen“ praktizierten. Die Aktion war ein großer Erfolg. Die Bürgermeisterei überstand die Krise sehr gut. Raiffeisen hatte damit seinen ersten Hilfsverein gegründet, der aber noch gänzlich karitativ organisiert war.

Bald darauf in die Nachbargemeinde Flammersfeld versetzt, ging Raiffeisen erneut mit einer Vereinsgründung ans Werk. Doch während in Weyerbusch eine aktuelle Notlage ausschlaggebend war, ging es hier um eine strukturelle Not: den ländlichen Wucher. Der dortige „Hülfsverein“ gab nun Kredite aus, um die Bauern von den oft als Wucherer auftretenden Viehhändlern unabhängig zu machen. Auf Kredit des Vereines konnten die Landwirte so Vieh oder landwirtschaftliche Gerätschaften kaufen und sie in ausreichend lange bemessenen Fristen zurückzahlen. Wieder haftete der genannte Verein, und wieder war die Kreditausgabe erfolgreich.

In seiner nächsten Bürgermeisterei in Heddesdorf am Rhein zog Raiffeisens Idee der Selbsthilfe dann ab 1852 noch weitere Kreise in einem „Wohlthätigkeitsverein“. Nicht mehr eine aktuelle Hungersnot oder ein struktureller Missstand wie der Wucher wurden Ausgangspunkt der Tätigkeit, sondern ein sozial-karitatives Programm. Zur günstigen Kreditvergabe kam nun die Fürsorge für verwahrloste Kinder, die Strafentlassenenfürsorge und die Gründung einer Volksbibliothek hinzu. Raiffeisen arbeite dabei mit seinen Ideen in frappanter Übereinstimmung mit der kurz zuvor durch Johann Hinrich Wichern initiierten „Inneren Mission“. Seit Jugendjahren eng mit drei Freunden verbunden, die allesamt Pfarrer wurden, hat Raiffeisen sicherlich von diesem epochalen Programm aus dem Raum der evangelischen Kirche gewusst.

Raiffeisen geriet nun aber erstmals auch an die Grenzen seiner Tätigkeit. Letztlich erfolgreich waren in seinem „Wohlthätigkeitsverein“ nur die Kinderfürsorge und die Kreditausgabe. Die letztere hatte jedoch mittlerweile ein solches Volumen angenommen, dass die nach wie vor unbeschränkt haftenden Vereinsmitglieder um ihr Vermögen zu bangen begannen. Raiffeisen musste den Verein schließlich auflösen. Er tat dies nur widerstrebend. Seine Vorstellungen waren zu diesem Zeitpunkt immer noch paternalistisch-karitativ geprägt. Aber an die Stelle der bisherigen, auf Wohltätigkeit aufgebauten Vereine traten nun ab 1862/64 die sogenannten Darlehnskassen-Vereine, die als Genossenschaften konzipiert waren. Kreditgeber und Kreditnehmer waren nun Mitglied im Verein. Dieser war zur besseren gegenseitigen Sozialkontrolle auf die Größe einer Pfarrei beschränkt. Er gab keine Dividenden aus und wurde ehrenamtlich geführt. Das Besondere: Die Zinseinnahmen der ausgegebenen Kredite wurden in einem Fonds aufgespart, bis aus diesem wiederum verschiedenste soziale Projekte gefördert werden konnten. Damit gingen Raiffeisens Pläne weit darüber hinaus, mit seinen Vereinen nur günstige Mittel zur Kreditbeschaffung bereitzustellen. Sie beteiligten sich vielmehr ganz aktiv an der Förderung des Gemeinwesens. Raiffeisen entwickelte hier seine konkrete Vision, wenn er aufzählte, was mit den angesparten Mitteln aus dem Stiftungsfonds gemacht werden sollte. Nach heutigem Verständnis wollte er mit dem Fonds Fortbildungsschulen, Kindergärten und Pflegeheime fördern.

Raiffeisen, wegen seines Augenleidens mittlerweile in finanziell prekären Verhältnissen frühpensioniert, hatte mit diesen Genossenschaften die Form gefunden, mit der er in der Folgezeit arbeiten konnte. Nicht zuletzt durch eine von ihm 1866 verfasste praktische Anleitung zur Gründung solcher Darlehnskassen-Vereine verbreitete seine Idee sich rasch, zunächst im Rheinland und dann bald schon im ganzen deutschen Sprachraum, später noch darüber hinaus.

Dabei war es Raiffeisen immer wichtig, dass überall dort, wo neue Vereine entstanden, die Geistlichkeit mit eingebunden werden sollte. Raiffeisen sah für diese auch die Möglichkeit, mit ihren Gemeindegliedern in einen engeren persönlichen Kontakt zu kommen. Nahmen die Pfarrkinder nun doch wahr, dass auch ihre ökonomischen Belange der Geistlichkeit nicht gleichgültig waren.

So erfolgreich Raiffeisen jedoch nun mittlerweile mit seiner Arbeit war: Es blieb eine produktive Unzufriedenheit. Raiffeisen lehnte es ab, seine Vereine nur als Institutionen zur günstigen Kreditvergabe anzusehen oder die später hinzugekommenen Warenzentralen nur als Organisationen zur günstigen Beschaffung und zum lohnenden Verkauf ländlicher Produkte zu betrachten. Raiffeisen wollte mehr. Entscheidend für ihn war die geistliche Dimension! Die Vereine sollten Menschen in ihrer Not helfen, getreu der Aufforderung Jesu Christi: „Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Diesen Ausspruch bezeichnete Raiffeisen auch ausdrücklich als das Motto seiner Vereinstätigkeit, und er konnte auch ganz direkt von Jesus Christus als dem „obersten Direktor“ der Genossenschaften sprechen. Es wird deutlich, wie tiefgreifend religiös Raiffeisen seine Arbeit verstand.

Natürlich dachten nicht alle Genossenschaftler wie Raiffeisen, und er sann darüber nach, wie die geistliche Dimension seiner Arbeit gesichert werden konnte. So plante er eine geistliche Kommunität zu gründen, deren Mitglieder auch für die Darlehnskassen-Arbeit befähigt und herangezogen werden sollten. Wenn die Pläne einer Kommunität sich auch nicht verwirklichen ließen, zeigen sie doch, wie Raiffeisen bis kurz vor seinem Tod an solchen Ideen gearbeitet hat. Daneben gründete Raiffeisen in enger personeller Verflochtenheit mit seiner Genossenschaftsarbeit eine Handelsgesellschaft, deren Gewinn in seine „Mission“, die Genossenschaftsarbeit, gehen sollte.

Ein unbequemer Mahner

Auch auf den jährlichen Verbandstagen seiner Genossenschaften wurde Raiffeisen jetzt zunehmend zum unbequemen spirituellen Mahner. Natürlich war dieser direkte religiöse Bezugsrahmen, der die Genossenschaftsarbeit einlinig als religiös motivierte Tätigkeit definierte, nicht die allgemeine Auffassung im Genossenschaftsverband. In gewissem Sinne wurde „Vater Raiffeisen“, wie er nun in der Genossenschaftsbewegung genannt wurde, auf den Sockel gehoben. Im Schatten des Denkmales hatten jedoch manche andere Ansichten als der geistlich so unbequeme Genossenschaftsgründer.

Nach Raiffeisens Tod 1888 sollte gerade in der evangelischen Kirche eine Aufnahme seiner Gedanken einsetzen, die in einen Beschluss des Kongresses für Innere Mission 1895 in Posen gipfelte. Hier hieß es:

„In den Raiffeisen’schen Darlehnskassen-Vereinen nach Organisiation Friedrich Wilhelm Raiffeisens begrüßen wir ein echt christliches Unternehmen, in welchem praktische Sozialreform auf christlicher Grundlage zu That und Wahrheit wird. Diese Vereine haben christlichen Ursprung ... und bezwecken christliche Ziele. … Das Werk ‚Raiffeisens‘ hat Heimatrecht gefunden in dem vielgeglie-derten Bau der inneren Mission.“

Raiffeisen und seine Genossenschaften waren damit für längere Zeit hochanerkannt im evangelischen kirchlichen und diakonischen Bereich. In den vielen Ländern und Provinzen des deutschen Reiches war in den jeweiligen Vereinen für Innere Mission auch die Raiffeisen-Arbeit integriert. Unzählige Jahresberichte in kirchlichen Archiven legen davon bis heute Rechenschaft ab. So heißt es etwa im Bericht der Inneren Mission im Herzogtum Gotha 1909:

„Die Raiffeisenschen Darlehnskassenvereine ... erfreuen sich meist gesunden Wachstums und bringen neben der Gesundung der wirtschaftlichen Verhältnisse eine Erziehung zur Nächstenliebe und eine Schulung für gemeindliche Aufgaben und praktische Wohlfahrtsarbeit. Immer mehr überweisen sie einen Teil ihrer Gewinne der Gemeindepflege, ja (die Gemeinde M. K.) Finsterbergen hat ein besonderes Kapital gesammelt, dessen Zinsen Zwecken der Inneren Mission dienen.“

Leider erlahmte nach dem Ersten Weltkrieg das Interesse an dieser Arbeit. Insbesondere Theologen, die von der Dialektischen Theologie Karl Barths beeinflusst waren, sahen die Tätigkeit im Raiffeisen-Verein als uneigentliche und deshalb auch unnötige Tätigkeit eines Pfarrers an.

Im Jubiläumsjahr von Raiffeisens 200. Geburtstag wird vielerorts an den Genossenschaftsgründer erinnert, und auch im kirchlichen Raum findet diese Erinnerungsarbeit statt. Denn genossenschaftliche Handlungsmodelle bleiben nach wie vor auch für den kirchlichen Bereich ein interessantes Handlungsmodell.

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Michael Klein

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