Wohin mit der Wut?

Polen wirkt am Vortag des 100-jährigen Jubiläums der Staatsneugründung verunsichert
Ein Protestzug gegen die umstrittene Justizreform am 6. August in Krakau. Foto: dpa/ Beata Zawrzel
Ein Protestzug gegen die umstrittene Justizreform am 6. August in Krakau. Foto: dpa/ Beata Zawrzel
Die penetranten Versuche der in Warschau regierenden Partei PiS, aus allen Polen eine große, nationalkonservative Gemeinschaft zu machen, haben genau das Gegenteil bewirkt: eine beispiellose Spaltung der Gesellschaft, die oft mitten durch die Familien geht und häufig offene Ausbrüche von Wut, Hass und Gewalt nach sich zieht, schreibt die polnische Publizistin Marta Kijowska.

"Es ist nur ein Film - die Wirklichkeit ist viel schlimmer." Das ist lediglich einer der vielen beunruhigenden Sätze, die in den polnischen Medien seit Wochen als kleine Bestandteile einer besonders heftigen Debatte kursieren. Sie ist Mitte September am Rande des Filmfestivals in Gdingen ausgebrochen, und deren Auslöser war das neueste Werk des bekannten Filmregisseurs Wojciech Smarzowski: der Spielfilm „Klerus“. Er greift ein Thema auf, das zwar der polnischen Öffentlichkeit längst bekannt war, bis jetzt aber immer nur vorsichtig behandelt wurde: den sexuellen Missbrauch in der polnischen Kirche. Obwohl die Rezensionen verhalten und die Vergleiche mit dem amerikanischen Enthüllungsmeisterwerk „Spotlight“ eindeutig zu seinen Ungunsten ausfielen, könnte der Erfolg des Films kaum größer sein: Noch bevor er auf dem Festival gezeigt und mit dem Publikumspreis und dem Preis der akkreditierten Presse bedacht wurde, war um ihn ein Klima der Sensation entstanden. Und als er zehn Tage nach der Premiere in die Kinos kam, schoss die Zahl der Zuschauer sofort dermaßen in die Höhe, als würden diese wirklich erwarten - so Tomasz Lis, Chefredakteur der polnischen Ausgabe der Newsweek, in seinem Kommentar - „dass hier irgendein Tabu gebrochen oder ein Geheimnis enthüllt wird.“

Viele sprechen bereits davon, dass der Film eine wahre Revolution in der polnischen Gesellschaft auslösen könnte: eine Vision, die der seit drei Jahren regierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) wenig gefallen dürfte. Denn die polnische Kirche hat sich zwar in den vergangenen dreißig Jahren stark gewandelt, wer aber trotzdem bis heute den Verdacht hat, dass in Polen die Meinung herrsche, ein nichtkatholischer Pole sei ein halber Pole, der wird an manchen Orten darin immer noch bestärkt. In den Großstädten hat man sich längst von diesem Klischee verabschiedet, nicht aber in der Provinz. Dort gehört die Religiosität - möge sie noch so oberflächlich sein - weiterhin zum Selbstverständnis vieler Menschen, und diese Tatsache hat die PiS genauso sorgfältig in ihre Strategie einkalkuliert wie die Bedeutung der Kirche, die sich in bestimmten Gesellschaftsschichten weiterhin großer Autorität erfreut. Dieser Einfluss rührt noch aus der Zeit der kommunistischen Diktatur her, unter der eine einfache gedankliche Konstellation galt: Die Kommunisten verkörperten die Lüge, die Kirche - die Wahrheit. Nach der Wende bemühte sie sich zwar, ihr Selbstbild zu korrigieren und sich einerseits aus der Politik rauszuhalten, andererseits moderner und weltoffener zu wirken. Mit der Zeit machte sich aber auf niedrigeren Stufen der Kirchenhierarchie eine Strömung bemerkbar, die sich dieser neuen Fortschrittlichkeit entgegenstellte und zu deren Sprachrohr ein Rundfunksender wurde, der in kürzester Zeit eine beachtliche neue Anhängerschar um sich versammelte: das Radio Maryja. Sein populistisch-konservativer Charakter und sein entsprechendes Programm, das von Anfang an von seinem Gründer und Direktor, dem für seine nationalistischen Äußerungen bekannten Pater Tadeusz Rydzyk, bestimmt wurde, fand sofort bei all denen Anklang, die sich als Opfer der neuen politischen Verhältnisse sahen: den Alten, den sozial Schwachen, den Ungebildeten. In dem Sender steckte aber auch ein gewisses politisches Potenzial, das die PiS-Partei zum Zeitpunkt ihrer Machtübernahme geschickt nutzte, indem sie sich selbst auch nationalistisch und erzkatholisch gab.

Zwei Lager

Das tut sie bekanntlich bis heute, was in den Reihen ihrer Anhänger den Effekt einer neuen gemeinsamen Stärke, einer verkürzten Distanz zwischen Regierenden und Regierten erzeugt. Was aber auch einen großen Teil der Spannungen auslöst, die es in Polen seit drei Jahren gibt. Denn die penetranten Versuche der PiS, aus allen Polen eine große, nationalkonservative Gemeinschaft zu machen, haben genau das Gegenteil bewirkt: eine beispiellose Spaltung der Gesellschaft, die oft mitten durch die Familien geht und die immer häufiger offene Ausbrüche von Wut, Hass und Gewalt nach sich zieht. Wenn man im Fernsehen Bilder aus Warschau und anderen polnischen Städten sieht, könnte man zwar bezweifeln, ob dies auch für junge Polen gilt; ob die Mehrheit von ihnen doch nicht zu modern, zu „europäisch“ geworden ist, um eine so rückwärtsgewandte Formation wie die PiS zu unterstützen. Doch die Umfragen zeigen, dass es auch unter ihnen recht viele Anhänger von Jaroslaw Kaczynski und seiner Partei gibt. Dass es sich hier also nicht um einen Generationskonflikt handelt, sondern dass die jungen Polen ein Abbild dessen sind, was mit der ganzen Gesellschaft passiert ist: Auch sie sind Teil dieser beiden Lager, die sich auf einmal so ablehnend gegenüberstehen, als hätte es die Jahre der gemeinsamen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Erfolge gar nicht gegeben.

Dabei wird diese Gesellschaft von keinem so stark polarisiert wie von Kaczynski selbst, zumal genau darin - Konflikte zu schaffen, Angst zu säen, politische Gegner gegeneinander auszuspielen - seine besondere Begabung liegen soll. So sehen das diejenigen, die seine politische Karriere von Anfang an verfolgen. Und für alle anderen ist er ohnehin ein politisches Phänomen: Er hat in der Regierung keine Funktion, er ist weder ein begnadeter Politstratege noch ein charismatischer Redner, und dennoch hält er alle Fäden in der Hand. Allein was die PiS unter seiner Führung im Herbst 2015 erreichte, war ebenso überraschend wie imponierend: Zum ersten Mal seit dem Sturz des Kommunismus gelang es einer Partei, in beiden Kammern des Parlaments, dem Sejm und dem Senat, die absolute Mehrheit zu erreichen und eine Regierung zu bilden, ohne mit einer anderen Gruppierung koalieren zu müssen. Das Wahlergebnis entsprach zwar nur dem Wunsch jedes fünften Wählers - was es aber bedeutete, eine extrem konservative, populistische und mit der absoluten Macht ausgestattete Partei an der Spitze des Staates zu haben, sollten schon bald alle Polen erfahren. Die PiS machte sich nämlich sofort daran, alles umzubauen, und zwar in einem solchen Tempo, als würde sie selbst an der Dauerhaftigkeit ihrer Siegesposition zweifeln. Sie fing sogleich an, im Parlament neue Gesetze durchzubringen, und genauso energisch arbeitete sie daran, die öffentlichen Medien und alle anderen wichtigen Institutionen und Einrichtungen mit ihren Leuten zu besetzen. Diese Säuberungen waren ein wichtiger Teil dessen, was Kaczynski selbst einen „guten Wechsel“ nannte und wozu im Wesentlichen zwei Dinge gehörten. Zum einen war damit die endgültige „Entkommunisierung“ aller Schlüsselpositionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Kultur gemeint, zum anderen eine geistig-ideelle Erneuerung. Die Erziehung zum „wahren Polentum“ also, einer Gesinnung, die auf traditionellen Werten wie Heimat, Religion und Familie basieren sollte.

Kaczynskis Programm gefiel seinen Anhängern umso besser, als er und seine Partei zugleich diejenigen waren, die gleich zu Beginn ihrer Regierungszeit erkannten, dass die Polen in materieller Hinsicht schon seit Jahren in zwei nebeneinander existierenden Welten lebten. Da die Welt des Konsums und wachsenden Lebensstandards, dort die Welt der Armut und Arbeitslosigkeit, der nicht abbezahlten Kredite und kleinen Renten.

Während die Bewohner der einen Welt ihren Wohlstand zunehmend als selbstverständlich ansahen, empfanden die der anderen Neid, Verbitterung und Wut. In ihren Augen war Kaczynskis Regierung auch die erste, die etwas dagegen unternahm - durch die Einführung des sogenannten Programm 500+, das ein Kindergeld für alle Familien mit mehr als einem Kind vorsah, die Senkung des Rentenalters, den Bau von neuen Mietwohnungen oder die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Korruption. Und so gibt es unter ihnen heute viele, die von sich sagen, ein besseres und würdigeres Leben zu führen.

Dass die unbeholfene Außenpolitik der PiS und Kaczynskis eigene Unerfahrenheit in internationalen Fragen das Land gleichzeitig in die Isolation treiben, scheint sie wenig zu bekümmern. Dabei ist es wohl für niemanden zu übersehen, dass diese Regierung es seit drei Jahren konsequent tut. Durch den Konflikt mit der EU wegen der Flüchtlingsverteilung. Durch die hochumstrittene Justizreform, die eine wiederholte Einmischung Brüssels zur Folge hatte - zuletzt im September, als die Europäische Kommission Polen wegen Zwangspensionierung mehrerer oberster Richter vor dem Europäischen Gerichtshof verklagte. Oder durch das Anfang 2018 verabschiedete sogenannte Holocaust-Gesetz, das ursprünglich nur eine Abwehrreaktion auf die Formulierung „polnische Todeslager“ sein sollte, sich aber zu einer Reihe von grotesken Restriktionsandrohungen auswuchs und Polens Beziehungen mit Israel, Deutschland und den USA verschlechterte. Diese Politik setzt sie trotz massiver Kritik aus dem Ausland und vieler Proteste in Polen selbst unbeirrt fort, und die Zahl ihrer Sympathisanten bleibt recht konstant.

Besonderes Jubiläum

Über die Frage, warum das so ist, denken zurzeit viele Menschen in Polen nach, zumal dem Land - von einer Reihe wichtiger Wahlen abgesehen - ein besonderes Jubiläum bevorsteht: der 100. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit (am 11. November 1918). Denn diesen möchten beide Lager gleichermaßen, wenn auch nicht unbedingt gemeinsam, feiern. Pauschal genommen zumindest, denn nicht jedem ist wirklich nach Feiern zumute. Vor allem denjenigen nicht, die sich dessen bewusst sind, dass Kaczynskis diktatorischer Führungsstil und das ultrakonservative Programm seiner Partei nicht der einzige Grund für die merkwürdige Metamorphose ihres Landes sind. Sie wissen, dass die Ursachen viel tiefer liegen und aus mindestens drei Dingen resultieren: aus der Entwicklung in den vergangenen dreißig Jahren, der älteren polnischen Geschichte und dem polnischen Nationalcharakter. Und sie fragen sich, wie es weitergehen soll - auch dann, wenn sich die politische Konstellation bald wieder ändern sollte. Wie lange wird es dauern, bis das Land, das sich so schnell von seiner erfolgreichen Verwandlung in eine moderne Demokratie abwenden konnte, auf den richtigen Weg zurückfindet? Wieviel ist noch von der anfänglichen Begeisterung der Polen für Europa übrig, wenn sie seit drei Jahren von einer Partei regiert werden, die ihnen regelmäßig extremen EU-Skeptizismus predigt? Wieso waren so viele imstande, einer Ideologie zu verfallen, die ständig alte Dämonen heraufbeschwört und neue Bedrohungen wittert? Woher kommt die neue Empfänglichkeit für chauvinistische xenophobe und antisemitische Töne? Weshalb ist die politische Streitkultur in Polen immer noch auf einem so niedrigen Niveau? Und nicht zuletzt: Wohin mit der Wut, die sich auf beiden Seiten angestaut hat?

Dass die Zahl derer, die sich solche Frage stellen, in letzter Zeit gewachsen ist, zeigen auch die Reaktionen auf den anfangs erwähnten Film: Die Zuschauer strömen in die Kinos, obwohl sie vermutlich ahnen, dass der Kommentar des Hauptdarstellers Janusz Gajos zutreffend ist. „In diesem Film“, sagte der beliebte Schauspieler in einem Interview, „geht es nicht nur um die polnischen Geistlichen, sondern um Polen allgemein. Darum, dass der Klerus genau so ist wie unsere ganze Gesellschaft“. Wenn nun die Zuschauer in die Kinos strömen, dann bedeutet es wohl, dass sie ihren Hang zur Selbstreflexion nicht verloren haben - und das ist schon mal ein gutes Zeichen.

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Marta Kijowska

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