Welt gegen Welt

Der Erzähler Kamasi Washington
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Pralle Musik, die Räume öffnet und mitnimmt auf Gedankenreisen, zugleich wirklichkeitsgesättigt und traumgewiss.

Wozu also taugt der Roman? Er ist ein Angebot. Sie bekommen eine Version der Wirklichkeit. Es ist nicht eine Gesellschaft in der Miniatur, ist kein maßstäbliches Modell, nicht Spiegel der Welt und nicht ihre Widerspiegelung; es ist eine Welt gegen die Welt zu halten“, schrieb Uwe Johnson in „Vorschläge zur Prüfung eines Romans“. Das begegnet nun bei dem Bandleader und Tenorsaxophonisten Kamasi Washington mit dem Doppelalbum „Heaven & Earth“ als gehaltenes Versprechen wieder: „The world that my mind lives in, lives in my mind”, so der 37-Jährige in den Liner Notes.

Aus der Reflexion über Wechselwirkungen von Wirklichkeit und den Wünschen an sie schrieb und arrangierte er 140 Minuten wunderbare Musik, aufgeteilt auf „Earth“ und „Heaven“ - wie der gefeierte Vorgänger „The Epic“ ein mit großer Band, Orchester und Chor eingespieltes Konzeptalbum. Er und seine Entourage bespielen inzwischen Popfestivals mit derselben Inbrunst wie die Clubs. Man lässt sich begeistert darauf ein. Ausflüge an den Rand von Kitschverdacht, besonders mit seiner Vorliebe für chorsatte Filmsoundtrack-Klänge, überzeugen ebenso wie gelegentliches Kratzen am Free Jazz, wo das passt.

Pralle Musik, die Räume öffnet und mitnimmt auf Gedankenreisen, zugleich wirklichkeitsgesättigt und traumgewiss. Der imposante Mann mit Hang zu afrikanischen Gewändern im Space-Look gemahnt dabei nicht von Ungefähr an Sun Ra und weitere Aufbruchspioniere aus den späten Sechzigern. Er ist ein „spiritual man“, mehr Seher als Prediger, der ‚eine Welt gegen die Welt zu halten‘ hat. Sich darauf einzulassen, ist ein erfüllend geistvolles Erlebnis und sehr unterhaltsam.

Einige der je acht Songs haben packende Lyrics, die teils gebetshaft sind. Den markanten Auftakt machen die „Fists of Fury“ mit einem Motiv aus dem Soundtrack des ersten Bruce Lee-Films (1972; die deutschen Titel: „Todesgrüße aus Shanghai“ beziehungsweise „Die Faust des Rächers“): Der Song beginnt mit stabilem Funk, den eine Chorbreitwand zu einer karibisch swingenden Expedition zwischen harter Schlaghand und liebevollem Streicheln öffnet. Washington kennt die Welt, hält ihr auf der zweiten CD neben dem fulminantem „Street Fighter Mas“ aber eben auch so programmatische Tracks wie „Journey“, „The Psalmist“, „The Space Travellers Lullaby“ oder das hitverdächtige Liebeslied „Vi Lua vi Sol“ entgegen. Den Weg in die Formatradios wird es zwar niemals finden, muss es aber auch nicht. Wir hören ja hin, mit großer und stetig wachsender Begeisterung.

Udo Feist

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