„Das liebevolle Herze des Vaters“

Vor 250 Jahren starb der pietistische Liederdichter Gerhard Tersteegen
Der berühmt-berüchtigte Blutbrief Tersteegens von 1724 befindet sich heute im landeskirchlichen Archiv in Düsseldorf. Foto: aekr/ Gerhard Tersteegen
Der berühmt-berüchtigte Blutbrief Tersteegens von 1724 befindet sich heute im landeskirchlichen Archiv in Düsseldorf. Foto: aekr/ Gerhard Tersteegen
Er sollte Kaufmann werden und wurde dann Handwerker. Aber mit 30 Jahren fand Gerhard Tersteegen aus Moers im Rheinland seine wahre Bestimmung: theologisches Dichten, Seelsorge und Predigen. Der Theologe und Hymnologie-Experte Martin Evang, Referent im Kirchenamt der UEK in Hannover, schildert das Leben, den Weg und das bisweilen bizarr anmutende Werk Tersteegens.

Vor genau 250 Jahren, am 3. April 1769, starb Gerhard Tersteegen. Von Moers am Niederrhein, wo er am 25. November 1697 geboren war und zehn Jahre die Lateinschule Adolfinum besucht hatte, war er 1713 nach Mülheim an der Ruhr gezogen. Dort verbrachte er den Rest seines Lebens. Statt eines Studiums, das für den reich begabten, belesenen und vor allem sprachenkundigen Eleven sehr wohl in Frage gekommen wäre, absolvierte er im Betrieb eines Onkels eine dreijährige ungeliebte Kaufmannslehre. Nach deren Abschluss hielt es ihn nicht lang im erlernten Beruf. Er wurde Leinenweber, dann Seidenbandwirker.

Etwa dreißigjährig gab Tersteegen das Handwerk aber ganz auf, um in einer kleinen geistlichen Hausgemeinschaft in bescheidensten Verhältnissen ganz seiner Bestimmung zu leben: der theologischen Lektüre und Schriftstellerei, der religiösen Dichtkunst, der mündlichen und brieflichen Seelsorge sowie dem freien Predigtdienst, den er vor allem im Bergischen Land (Wuppertal), am Niederrhein und auf zahlreichen Reisen in den Niederlanden ausübte. Auch als Helfer der Armen und als Verfertiger von Arzneien blieb Tersteegen in Erinnerung.

Unruhige Jahre

Während seiner Ausbildung in Mülheim war er mit Vertretern des Pietismus, namentlich mit Wilhelm Hoffmann, in Kontakt gekommen, die einen starken Einfluss auf ihn ausübten. Unruhige Jahre innerer Orientierung fanden am Gründonnerstag des Jahres 1724 einen markanten Abschluss. Unter der Überschrift „Meinem Jesu!“ schrieb Tersteegen, sein eigenes Blut als Tinte verwendend, analog einem Verlobungsversprechen: „Ich verschreibe mich dir, meinem einigen Heilande und Bräutigam Christo Jesu, zu deinem völligen und ewigen Eigentum. Ich entsage von ganzem Herzen allem Recht und Macht, so mir der Satan über mich selbst mit Unrecht möge gegeben haben. Von diesem Abend an, als an welchem du, mein Blutbräutigam, mein Goël [= (Er-) Löser], durch deinen Todeskampf, Ringen und Blutschwitzen mich zum Eigentum und Braut dir erkaufet, die Pforten der Höllen zersprenget und das liebevolle Herze des Vaters mir eröffnet hast, von diesem Abend an sei dir mein Herz und ganze Liebe auf ewig zum schuldigen Dank ergeben und aufgeopfert! Von nun an bis in Ewigkeit nicht mein, sondern dein Wille geschehe. Befehle, herrsche und regiere in mir! Ich gebe dir Vollmacht über mich und verspreche mit deiner Hilfe und Beistand, eher dieses mein Blut bis auf den letzten Tropfen vergießen zu lassen, als mit Willen und Wissen, inwendig oder auswendig, dir untreu oder ungehorsam zu werden. Siehe, da hast du mich ganz, süßer Seelenfreund, in keuscher jungfräulicher Liebe dir stets anzuhangen. Dein Geist weiche nicht von mir, und dein Todeskampf unterstütze mich! Ja, Amen! Dein Geist versiegele es, was in Einfalt geschrieben dein unwürdiges Eigentum Gerh. Tersteegen. Anno 1724.“ (siehe Abbildungen).

Unzeitgemäß wirkt die Frömmigkeit, die in dieser bizarren Selbstverschreibung zum Ausdruck kommt, nicht erst heute. Unzeitgemäß wirkte sie schon zu Tersteegens Lebzeiten. Zum einen im Blick auf den Geist der Aufklärung der Zeit, der im Preußenkönig Friedrich II. (dem Großen) seinen prominentesten Vertreter hatte. Anfang der 1760-er Jahre setzt sich Tersteegen in der Form eines privaten Briefes zwar respektvoll, aber äußerst kritisch mit Anschauungen des „Philosophen von Sanssouci“ auseinander. Er wirft ihm unter anderem vor, seine Religionskritik, die über eine methodisch legitime religiöse Skepsis hinausgehe, beruhe auf unbewiesenen philosophischen Prämissen: „O ihr Gern-Philosophen de Sans-Souci, werdet doch erst Philosophen de grand Souci, oder ihr betrüget euch jämmerlich“, ruft er – als Bewohner Mülheims, das zur „Herrlichkeit Broich“ gehörte, kein Untertan – dem Preußenkönig zu und legt ihm damit die Sorge um sein Seelenheil ans Herz.

Distanz zur Amtskirche

Unzeitgemäß wirkte Tersteegens Frömmigkeit andererseits auch im Blick auf die moderate evangelische Volkskirchlichkeit seiner Zeit. In seinem Brief zu den Werken Friedrichs des Großen gesteht Tersteegen unumwunden zu: „Unser aufmerksamer Autor hat zweifelsohne vielfältige Gelegenheit zum Anstoß gehabt bei solchen, die Christen heißen und es nicht sind, die Geistliche, Diener Christi und Seelenhirten heißen, aber ihrem Bauch und Beutel, nicht Christo, dienen. Das ist zu bedauern. Und wer kann auch schwarz weiß und die Torheit Gottesdienst nennen? Man verwerfe dann, was nicht taugt, die hochmütige Herrschsucht, die bittere Zanksucht, den unvernünftigen Gewissenszwang, den Irrtum, die Superstition und Aberglauben, die Heuchelei usw. Allein, man werfe deswegen doch nicht gar das Kind mit dem Bade hinaus und stürze sich in das andere Extremum; das wäre ja, meines Erachtens, einem verständigen Manne unanständig. Eine reife Untersuchung und bescheidene Unterscheidung wäre geziemender, und die Sache verdienet auch wohl so viel Attention.“ Tersteegen war zwar am 1. Dezember 1697 in der reformierten Kirche zu Moers getauft und im Jahr 1715 – schon in seiner Mülheimer Zeit – ebendort konfirmiert worden, war aber unter pietistischem Einfluss bleibend auf Distanz zur Amtskirche gegangen. Insbesondere hat er nicht am Abendmahl teilgenommen, dies auch begründet – er lehnte den Abendmahlsempfang in der Gemeinschaft offensichtlich Unwürdiger ab – und andere ermutigt, es ihm ohne Gewissensbisse gleichzutun. Andererseits hat er die verfasste Kirche bei aller Kritik an ihrer Lauheit nicht prinzipiell abgelehnt oder gar bekämpft.

Auch von der reformierten Prägung, in der er aufgewachsen war, hat sich Tersteegen niemals losgesagt. Allerdings ging diese in eine grundsätzlich überkonfessionelle Denkungsart ein, wie sie pietistischem Geist von Anfang an entsprach. So schrieb Tersteegen – nach eigenen Angaben für den Konfirmandenunterricht, den er den Kindern seines Bruders zu erteilen hatte – im Jahr 1724, dem Jahr seiner Selbstverschreibung, einen Katechismus mit dem Titel „Unparteiischer Abriss christlicher Grundwahrheiten“, der allerdings erst 1801 gedruckt wurde. Tersteegens hier dargelegte „Theologie“ hat in seinen 45 folgenden Lebensjahren keine wesentlichen Veränderungen mehr erfahren. „Unparteiisch“: dieses Stichwort führt wie eine Spur in den Traditionsstrom, aus dem sich Tersteegens Überzeugungen speisen. „Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie“ hieß das 1699 erschienene Hauptwerk des radikalen Frühpietisten Gottfried Arnold (1666–1714), der – wie nach ihm Tersteegen – die Kirchengeschichte als Niedergang von der einstigen urchristlichen Höhe versteht. In der Wortkaskade „Befehle, herrsche und regiere in mir“ aus Tersteegens Selbstverschreibung klingt geradezu die ursprüngliche achte Strophe des Liedes „O Durchbrecher aller Bande“ von Gottfried Arnold nach: „Herrscher, herrsche, Sieger, siege, König, brauch dein Regiment!“

Ein Jahrhundert vor Arnold hatte Johann Arndt (1555–1621) in seinem Hauptwerk „Vier Bücher vom wahren Christentum“ (1605/1610) vorreformatorische mystische Traditionen, namentlich die auch für Martin Luthers Theologie wichtige „Theologia deutsch“, Thomas von Kempen und Johannes Tauler, für die protestantische Frömmigkeit erschlossen. Dadurch hatte er nicht nur den späteren Pietismus angebahnt, sondern auch die Dichtkunst eines Paul Gerhardt (1607–1676) maßgeblich ermöglicht und geprägt. Sowohl als Historiograph der Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte, vor allem mit seinen dreibändigen „Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“ (1733 bis 1743), wie auch als geistlicher Dichter wandelt Tersteegen in den Spuren Arndts und Arnolds. Bis heute gilt er als der Liedermacher reformiert-pietistischer Mystik.

1729 erschien erstmals sein „Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen“, das er in seinem Todesjahr 1769 in fünfter Auflage herausbrachte. Von der 2. Auflage 1736 an betreute Tersteegen zudem den „Großer Neander“, ein pietistisches Gesangbuch, das seit der 4. Auflage 1760 „Gottgeheiligtes Harfenspiel der Kinder Zion“ hieß. Beide Sammlungen enthielten von Auflage zu Auflage mehr Lieder Tersteegens. Wurden im ausgehenden 18. Jahrhundert nur sehr wenige davon vereinzelt in nicht pietistisch-separatistisch geprägte Gesangbücher aufgenommen, so verschaffte die Erweckung des 19. Jahrhunderts ihnen die Aufnahme in landeskirchliche Gesangbücher, die an sich, antiaufklärerisch, mehr dem 16. und 17. Jahrhundert offenstanden. So bildete sich ein Kanon von sieben (Deutsches Evangelisches Gesangbuch 1928), zehn (Evangelisches Kirchengesangbuch 1950) beziehungsweise acht (Evangelisches Gesangbuch) Tersteegen-Liedern heraus, die Eingang in den Stammteil der Einheitsgesangbücher des 20. Jahrhunderts fanden.

Zwei Klassiker im EG

Der „Klassiker“ unter ihnen ist sicherlich „Gott ist gegenwärtig“ (EG 165). Die für den Autor besonders charakteristische Strophen 3 („Wir entsagen willig / allen Eitelkeiten, / aller Erdenlust und Freuden“) und 7 („Mache mich einfältig, / innig, abgeschieden, / sanft und still in deinem Frieden“) werden heute wahrscheinlich häufiger ausgelassen als mitgesungen. Als zweiter „Klassiker“ ist das populäre Abendlied „Nun sich der Tag geendet“ (EG 481) zu nennen, dessen letzte Strophe die für Tersteegen so zentrale Pilgerthematik variiert: „Ein Tag, der sagt dem andern, / mein Leben sei ein Wandern / zur großen Ewigkeit. / O Ewigkeit, so schöne, / mein Herz an dich gewöhne, / mein Heim ist nicht in dieser Zeit.“

Und was ist mit Tersteegens berühmtester Strophe, mit „Ich bete an die Macht der Liebe“? Sie, die zweite (original: vierte) Strophe des Liedes „Für dich sei ganz mein Herz und Leben“, steht in einigen Regionalteilen des EG. Der in St. Petersburg tätige katholische Priester Johannes Goßner (1773–1858), der 1826 evangelisch wurde, hatte dem Lied eine populäre Melodie von Dmitri Stepanowitsch Bortnjanski (1751–1825) unterlegt, mit der es nach Deutschland zurückkehrte. Der preußische König Friedrich Wilhelm iii. ergänzte, wahrscheinlich anlässlich des Staatsbesuchs von Zar Nikolaus I. 1838 in Berlin, das militärische Zeremoniell des „Großen Zapfenstreichs“ durch die Strophe „Ich bete an die Macht der Liebe“ in der Bortnjanski-Fassung.

In seinen Liedern verschafft Tersteegen sich und seinem mystisch-pietistischen Verständnis christlicher Existenz auch 250 Jahre nach seinem Tod Gehör. Unzeitgemäß war er zu seinen Lebzeiten, als unzeitgemäß wurde er im Lauf der Rezeptionsgeschichte bis heute aus verschiedenen Gründen empfunden und kritisiert: Gefährdet der Akzent, den Tersteegen auf die religiöse Erfahrung und auf die Heiligung des Christenmenschen legt, nicht die Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes in der Rechtfertigung? Oder: Hat Tersteegen als Vertreter des mystischen Quietismus nicht Recht und Rang der geschöpflichen Existenz sowie die Dimension der Weltgestaltung und -verantwortung des Menschen verkannt und geradezu grotesk ausgeblendet? Ja, dies ist unumwunden zuzugestehen: In der Verhältnisbestimmung von Gottes- und Weltbezug ist Tersteegen und ist dem von ihm repräsentierten Typ der Frömmigkeit die Balance an einem wichtigen Punkt verrutscht.

Ihm in diesem Punkt nicht zu folgen, kann aber nicht bedeuten, sich den kritischen Fragen, mit denen Tersteegen schon seine Zeitgenossen behelligte, zu entziehen: Wie bringen wir „Eitelkeiten“, „Erdenlust“ und „Freuden“, denen wir weder „allen“ noch gar „willig“ entsagen (vergleiche EG 165,3), zusammen mit den Ansprüchen, die in den theologischen Kategorien des Gebotes, der Nachfolge, der Heiligung des Lebens stecken? Tersteegen nötigt dazu, sich dieser Frage immer neu zu stellen. Dass es keineswegs aussichtslos ist, hier zu begründeten Antworten zu gelangen, bekunden Karl Barth, Rudolf Bultmann und Dietrich Bonhoeffer, die sich jeder auf seine Weise mit dem Erbe Tersteegens auseinandersetzten. Es bekunden auch Karl Rahner und Dorothee Sölle. Karl Rahner: „Der Fromme der Zukunft wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein.“ Und Dorothee Sölle hat in ihrem Buch „Mystik und Widerstand“ eine Polarität programmatisch zusammengedacht und -gebracht, die bei Tersteegen und den Quietisten einfach ausfällt.

Zum Schluss: Dem Ansinnen, sein Leben zu beschreiben, hat sich Tersteegen konsequent entzogen. Und es gibt keine authentische Abbildung von ihm. Beides passt wunderbar zu ihm!

Martin Evang

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