Signal der Tränen

Warum Weinen verbindet und der Mensch auf Verständnis und Hilfe hoffen kann
Fotos: dpa
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Warum sind Menschen die einzige Spezies, die häufig mit Tränen weinen? Und warum weinen wir unser Leben lang? Diesen Fragen geht Ad Vingerhoets, Professor für klinische Psychologie an der Universität Tilburg/Niederlande, seit zwanzig Jahren nach.

Weinen. Die Jungen anderer Säugetiere und vieler Vögel tun es auch. Sie piepsen oder machen andere Geräusche, wenn sie den Kontakt mit der Mutter verloren haben. Auch Menschenbabys reagieren so. Und doch gibt es wesentliche Unterschiede zwischen Menschen und Tieren. Bei Tieren beschränkt sich das Weinen ausschließlich auf stimmliches Heulen, der Mensch dagegen kombiniert das Heulen mit einem Tränenschwall. Und noch ein Unterschied: Der Mensch weint sein Leben lang, bei den Tieren beschränkt sich das Weinen meistens auf die Kindheit, erwachsene Tiere zeigen dieses Verhalten in der Regel nicht.

Diese Beobachtungen rufen einige Fragen auf. Warum sind Menschen die einzige Spezies, die häufig mit Tränen weinen? Und warum weinen wir unser Leben lang?

Wir glauben, dass das Phänomen mit der auffallend langen Kindheit eines Menschen zusammenhängt – eine Periode, in der wir zwar motorisch gut entwickelt sind – verglichen mit der hilflosen Kreatur, die wir bei unserer Geburt sind –, in der wir aber für eine gute Entwicklung noch immer abhängig sind von der Liebe, dem Schutz und der Unterstützung durch Erwachsene, namentlich unserer Eltern – vor allem deshalb, weil wir in der langen Kindheit verletzbar sind. Aber weil wir in dieser Zeitspanne in der Lage sind, uns auf diejenigen, von denen wir Hilfe und Unterstützung erwarten, zuzubewegen, ist das Gekreische nicht mehr nötig. Für diese Form der intimen Interaktionen reicht auch ein visuelles Signal.

Werden wir dann älter, stellen wir fest, dass unser Weinen einige wichtige Veränderungen durchläuft. Die Tränen werden wichtiger und die Bedeutung des lauten Weinens nimmt ab. Nicht nur entwickelt sich ein Unterschied in der Art zu weinen zwischen Männern und Frauen, auch heulen wir aus anderen Gründen. Teilweise liegen die Gründe in unserer sozio-emotionalen Entwicklung, aber es gibt auch andere Gründe.

Lange Kindheit

Unsere Entwicklung lässt sich anhand von fünf wichtigen Gründen für das Weinen beschreiben. Einige davon bleiben lebenslang bestehen. Verlust, Trennung von Geliebten – also Trauer, Liebeskummer und Heimweh sind starke Auslöser von Tränen von der Wiege bis zum Grab. Das gleiche gilt für Ohnmachtsgefühle und Frustrationserfahrungen. Ein ganz anderer Fall sind physische Schmerzen und Unannehmlichkeiten. Für Kinder bis zur Pubertät sind das wichtige Gründe für lautes Weinen, aber Erwachsene und Ältere weinen wegen Schmerzen selten laut. Mit zunehmendem Alter werden andere Anlässe wichtiger. Wir weinen nicht mehr nur wegen unserer eigenen Schmerzen und Leiden, sondern, weil unsere Empathie sich entwickelt, weinen wir auch wegen des Leidens anderer. Wir weinen jetzt auch positiver Gegenbeispiele zu negativen Situationen wegen, die uns normalerweise die Tränen in die Augen treiben: Als Erwachsene weinen wir nicht nur bei Tod und Liebeskummer, sondern auch bei einer Geburt oder einer Heirat oder einem Heiratsantrag, wir weinen nicht nur bei Abschieden, sondern auch beim Wiedersehen, Tränen fließen nicht nur bei einer Niederlage, sondern auch bei einem fantastischen Sieg, nicht nur bei intensiver Trauer, sondern auch bei intensiver Freude – kurz: Neben zahlreichen negativen Situationen gibt es eine ganze Reihe von positiven Erfahrungen, die uns weinen lassen.

Was aber haben alle diese Situationen gemeinsam? Unsere These lautet: Tränen wollen immer eine Verbindung herstellen. So wie das Weinen eines Babys die Chance vergrößert, dass die Mutter das Kind hochnimmt und ein physischer Kontakt entsteht, gilt das auch für Erwachsene. Tränen sind vor allem ein Signal, dass wir ein Bedürfnis nach Kontakt und Hilfe haben, weil wir uns allein und hilflos fühlen. Im Falle positiver, häufig moralischer Situationen wie Altruismus, Selbstaufopferung, bedingungsloser Liebe und Kameradschaft zeigen wir an, dass diese Haltungen für uns wichtig sind und dass wir gute Menschen sind.

Tränen lassen uns freundlicher, aufrechter, ehrlicher erscheinen. Mit so einer Person kommt man leichter in Kontakt. Und das geschieht, obwohl sentimentale Tränen lange mit einem negativen Image zu kämpfen hatten – Sentimentalität galt lange als Kennzeichen für kulturell minderwertige Produkte: B-Movies, Schmachtfetzen, Country- und Western-Musik, Schlager, Schundliteratur und Trash.

Um besser zu verstehen, warum wir weinen, ist es wichtig, uns Klarheit über die Folgen unseres Weinens zu verschaffen. Hierfür ist es notwendig, zwischen den Folgen für den Weinenden selbst und den Folgen für die Zeugen des Weinens zu unterscheiden. Wie beinflusst es uns, wenn wir eine weinende Person sehen? Wie deuten wir, wie die weinende Person die Situation erfährt, in der er oder sie sich befindet? Und: Wie denken wir über ihre Persönlichkeit und ihre weiteren Verhaltensmuster?

Wenn wir manchen Artikeln in populären Zeitschriften oder im Internet Glauben schenken dürfen, dann besteht hinsichtlich der Frage nach den Folgen für die weinende Person wenig Zweifel darüber, dass Weinen erleichtert. Nach kräftigem Weinen fühlt man sich besser. Aber stimmt das überhaupt? Wissenschaftliche Untersuchungen lassen Zweifel aufkommen. In einer groß angelegten Studie, in der die Teilnehmer aufgefordert wurden, sich an ihre letzte Wein-Situation zu erinnern, ergab sich, dass sich nur fünfzig Prozent der Befragten besser fühlten. Für vierzig Prozent zeigte das Weinen überhaupt keine Wirkung und zehn Prozent fühlte sich nach dem Weinen schlechter.

Spannend ist es herauszubekommen, wer und wann sich jemand besser fühlt und wer und wann nicht. Die Untersuchungen zeigen folgende Ergebnisse: Zunächst muss man sich gut in seiner Haut fühlen, um nach einer Wein-Attacke eine Erleichterung zu erfahren. Menschen, die depressiv sind oder ängstlich, weinen vielleicht öfter, erfahren aber keine positiven Auswirkungen.

Auch der Anlass für das Weinen ist von Bedeutung. Im Falle unkontrollierbarer Situationen – Situationen, auf die wir keinen Einfluss haben, wie etwa einen Todesfall – ist die Chance, dass man sich nach dem Weinen besser fühlt, kleiner im Vergleich zu grundsätzlich beherrschbaren Situationen wie einer Konfliktsituation. Schließlich ist entscheidend, wie die anderen Anwesenden reagieren und welche weiteren Emotionen das Weinen bei dem Weinenden hervorruft (zum Beispiel Scham). Reagieren die anderen mit Verständnis und Trost, dann fühlen Menschen sich besser. Äußern die Zeugen des Weinens Ärger oder lachen über den Weinenden, dann tritt das Gegenteil ein. Kurz: Es ist naheliegend, dass nicht so sehr das Weinen selbst als vielmehr die Reaktion unserer Umwelt entscheidend dafür ist, ob das Weinen positive Gefühle erzeugt. Darüber besteht kein Zweifel: Trost, in den Arm genommen werden und eine einfühlsame Berührung erfahren, tut gut. Und Weinen hilft dabei, genau das zu erreichen, denn Tränen verbinden.

Unsere Untersuchung lehrt uns auch, dass wir eine deutliche Präferenz haben, wo, wann und in welcher Gesellschaft wir am liebsten weinen. Die Ergebnisse zeigen, dass wir vor allem zwischen 18 und 23 Uhr weinen, und wenn wir zu Hause sind, ob allein, ob mit unserer Mutter oder mit einem Partner. Eigentlich zeigt sich kaum ein Unterschied zum Weinen der Babys. Auch den Babys geht es vor allem um die physische Nähe, die Sorge und den Trost namentlich der Mutter. Zusammen mit anderen zu weinen, kommt zwar auch vor, aber deutlich seltener.

Soziale Verbundenheit

Interessant ist, dass in antiken Kulturen die Menschen sich versammelten, um in Unglückszeiten wie einer verfaulten Ernte oder einer anderen Naturkatastrophe, aber auch um im Falle einer Kriegsvorbereitung zu beten, zu singen oder zu weinen. Wahrscheinlich nur wegen eines Ziels: die soziale Verbundenheit zu stärken. In dieser Hinsicht hat sich nicht viel verändert und auch wir tun Vergleichbares nach einem terroristischen Anschlag oder einem schrecklichen Unglück, das die ganze Gesellschaft betrifft.

Wieso aber verbinden Tränen? In unserer Studie zeigten wir den Probanden Fotos von Personen, die sich nur in einer Hinsicht voneinander unterschieden. Die Tränen der ursprünglichen Photos waren in der zweiten Serie digital gelöscht worden. Kurz: Wir hatten zwei Reihen identischer Photos mit weinenden Personen, aber die eine Serie mit und die andere Serie ohne Tränen. Was stellte sich nun heraus? Als wir die abgebildeten Personen durch die Probanden beurteilen ließen, erschienen ihnen die Personen mit Tränen freundlicher, ehrlicher und zuverlässiger. Dieser Eindruck trägt selbstredend dazu bei, diesen Personen zu helfen.

In einer anderen Studie verglichen wir Menschen, die normal weinen mit Menschen, die bereits seit Jahren nicht mehr geweint hatten. Und was stellte sich heraus? Hinsichtlich der Gesundheit und dem Wohlbefinden gab es zwar keinen Unterschied zwischen beiden Gruppen, aber worin sie sich unterschieden, war ihr Empathievermögen, die Verbundenheit mit Anderen und das Ausmaß an sozialer Unterstützung, das sie erhielten. Kurzum: Nochmals ein Hinweis auf die Bedeutung des Weinens für unser soziales Funktionieren und ein Hinweis darauf, dass Weinen verbindet.

Im Alter weinende Männer

Eine weiterführende Frage ist nun, in welchem Maße Menschen untereinander in ihrem Weinen sich unterscheiden und womit das zusammenhängt. Genetische Veranlagungen sind fraglos ein wichtiger Faktor hierfür. Aber unsere Neigung zum Weinen kann sich auch kurz- oder langfristig durch zahlreiche Faktoren verändern. Wenn wir sehr müde sind oder Schlafmangel haben, ist unsere Neigung zu weinen größer, ebenso, wenn wir (zu) viel getrunken oder Drogen (Kokain) konsumiert haben. Auch Krankheiten, zum Beispiel hormonelle Störungen, vor allem auch Gehirnerkrankungen wie ein Schlaganfall, können einhergehen mit einer Neigung zu weinen. Weiterhin sieht es so aus, dass bei Frauen nach der Geburt ihres Kindes die Schwelle zu weinen deutlich absinkt. Vor allem bei den Männern spielt das Alter eine Rolle. Im Alter weinen Männer viel schneller als in ihren jungen Jahren.

Aber der vielleicht wichtigste Faktor ist das Geschlecht. Erwachsene Frauen in der westlichen Welt weinen etwa fünf bis zehn Mal häufiger als erwachsene Männer. Dieser Unterschied besteht nicht bereits von Geburt an. Jungen und Mädchen weinen ungefähr gleich viel – vielleicht sogar die Jungen etwas mehr. Mit dem Älter-Werden wird der Unterschied größer. Mehrere Faktoren spielen dabei eine Rolle. Nicht unterschlagen darf man, dass Frauen häufiger emotionalen Situationen ausgesetzt sind, sowohl im beruflichen Alltag (Frauen arbeiten häufiger im Gesundheitswesen, dort ist die Wahrscheinlichkeit, emotionalen Situationen ausgesetzt zu sein, groß), aber auch in ihrer Freizeit, weil ihre Auswahl an Filmen, Büchern, Musik und Zeitschriften markant anders ist als bei Männern.

Weiterhin ist es eine Tatsache, dass Frauen eher die Neigung verspüren, namentlich bei kleineren und alltäglichen Pannen mit Hilflosigkeit zu reagieren, wenn etwa ein Computer abstürzt, das Auto plötzlich stehen bleibt, wenn etwas schief läuft, aber vor allem auch, wenn Konflikte auftreten. In solchen Situationen neigen Männer dazu zu fluchen, Frauen weinen aus dem Gefühl der Machtlosigkeit heraus. Außerdem hat das männliche Geschlechtshormon Testosteron einen bremsenden Einfluss auf das Weinen und bewirkt, dass die Wein-Schwelle höher ist. Schließlich spielt der soziale Druck eine Rolle. Das kann an der Erziehung liegen, aber auch der Einfluss des weiteren sozialen Kontextes beeinflusst die Rollenbilder. Fraglos gilt das für spezifische soziale Settings wie etwa beim Militär.

Was auch eine Rolle spielt, ist die Kultur. Im Laufe der Geschichte wurde es mal mehr, mal weniger akzeptiert, wenn jemand weinte, das galt fraglos für die Männer. Dabei konnte es noch einen Unterschied machen, ob man von niedriger Herkunft war oder vom Adel und welcher Religion man anhing. Interessant ist, dass Helden stets viel geweint haben und dass diese Tatsache keinen negativen Einfluss auf ihren Ruf ausübte. Fraglos hatten diese stets gute Gründe zu weinen. Etwa den Verlust von Weg- oder Kampfgefährten oder dass sie ihre Angehörigen vermissten.

Warum wir weinen, scheint also von entscheidender Bedeutung zu sein dafür, wie andere uns sehen und wie sie reagieren. Wenn wir gute Gründe haben zu weinen, dürfen wir auf Verständnis und Hilfe rechnen. Genau dann zeigt sich die verbindende Kraft der Tränen.

Aus dem Niederländischen von Klaas Huizing

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